Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 15.08.2018, Az.: 7 B 10366/17

offensichtlich unbegründet; Kolumbien

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
15.08.2018
Aktenzeichen
7 B 10366/17
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2018, 74359
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Der Asylantrag darf nicht mit einer unzutreffenden und die Entscheidung nicht tragenden Begründung als unsubstantiiert und widersprüchlich und damit offensichtlich unbegründet abgelehnt werden.

Tenor:

1. Der Antragstellerin wird für das vorläufige Rechtsschutzverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwältin B., B-Stadt, zu den Bedingungen einer im Gerichtsbezirks des Verwaltungsgerichts Hannover ansässigen Rechtsanwältin bewilligt.

2. Die aufschiebende Wirkung der von der Antragstellerin erhobenen Klage 7 A 10370/17 wird gegen die unter Ziffer 5) des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 26. Oktober 2017 enthaltene Abschiebungsandrohung angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.

Die Antragstellerin weist sich durch einen am ….. ausgestellten kolumbianischen Reisepass aus. Sie ist am …. C. geboren, kolumbianische Staatsangehörige christlichen Glaubens, geschieden sowie (zuletzt) D. von Beruf. Ihr letzter Wohnort in Kolumbien sei E. gewesen. U.a. dort habe sie zusammen mit ihrem Sohn F. – dem Antragsteller im Parallelverfahren 7 B 10371/17 – und dessen Lebensgefährtin G. – der Klägerin im Parallelverfahren 7 A 10681/17 – gewohnt. Die Antragstellerin hatte sich von Juni bis August 2016 in Spanien aufgehalten, wo vier oder fünf Schwestern von ihr leben, und war dann nach Kolumbien zurückgekehrt. Sodann reiste sie am 18. November 2016 in das Bundesgebiet ein und beantragte am 30. November 2016 ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Es folgte der Sohn mit seiner Einreise am 20. Februar 2017 und dessen schwangere Lebensgefährtin mit ihrer Einreise am 25. März 2017. Beide beantragten am 2. Mai 2017 ihre Anerkennung als Asylberechtigte.

Im Rahmen ihrer Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Bundesamt am 30. November und 1. Dezember 2016 führte die Antragstellerin aus: Ihr älterer Sohn H. hätte den Militärdienst bei der Marine geleistet. Hierzu legt sie 2009 und 2010 ausgestellte Militärausweise ihres ältesten Sohnes vor (Bl. 55 VV; Übersetzungen Bl. 193-196 des VV ihres Sohnes F.). Am 7. Juli 2011 sei ihr Sohn H. von Unbekannten erschossen worden, als er von einem Fußballspiel gekommen sei. Zwei weitere Personen seien dabei verwundet worden (Bl. 64 VV). Er sei zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Hierzu legt ihr Sohn F. in seinem eigenen Asylverfahren einen Autopsiebericht vor (Bl. 68-76 VV ihres Sohnes F.; Übersetzung Bl. 172-188 VV ihres Sohnes F.). Wegen der Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Tod ihres Sohnes H. habe sie einen auf den 30. April 2012 datierenden Drohbrief der FARC erhalten (Bl. 49 VV; Übersetzung Bl. 170 VV ihres Sohnes F.). In einem weiteren Brief der FARC vom 12. Juni 2012 werde ausgeführt, dass sie und ihr Sohn F. sowie andere Personen von der FARC zum Tode verurteilt worden seien (Bl. 48 VV; Übersetzung Bl. 171 VV des Sohnes F.). Später sei auch ein Neffe von ihr umgebracht worden. Sie habe deshalb in Kolumbien nicht mehr in Harmonie leben können. Sie legte außerdem ein bislang vom Bundesamt nicht übersetztes Dokument (Bl. 50-52 VV) vor.

Ihr Sohn F. machte ähnliche Ausführungen und führte aus, dass sein Bruder H. erschossen worden sei, weil er zuvor als Soldat einen Drogenhandel der Guerilla aufgedeckt hätte. Dessen Lebensgefährtin machte geltend, dass ihr eigener Vater 2001 von der Guerilla ermordet worden sei. Sie sei – obgleich damals nur neun Jahre alt – seither von der Guerilla verfolgt worden.

Am 26. Juli 2017 wurde in I. der Enkel der Antragstellerin J. Torres – der Kläger im Parallelverfahren 7 A 3573/18 - geboren. Für ihn wurde von Amts wegen ein Asylverfahren eröffnet.

Mit dem hier streitbefangenen Bescheid vom 26. Oktober 2017 lehnte das Bundesamt den Antrag der Antragstellerin auf Asylerkennung (Ziffer 2] der Entscheidungsformel), auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1] der Entscheidungsformel) sowie auf subsidiären Schutz (Ziffer 3] der Entscheidungsformel) jeweils als offensichtlich unbegründet ab. Außerdem wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes - AufenthG - nicht vorliegen (Ziffer 4] der Entscheidungsformel). Zugleich wurde der Antragstellerin die Abschiebung nach Kolumbien oder einen anderen Staat angedroht, in den sie einreisen dürfe oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei, sofern sie nicht innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheides ausgereist sei (Ziffer 5] der Entscheidungsformel). Schließlich wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6] der Entscheidungsformel). Zur Begründung wird ausgeführt, dass die Antragstellerin selbst angegeben hätte, in Kolumbien keinerlei Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt gewesen zu sein. Der Sachvortrag sei asylrechtlich vollkommen unsubstantiiert. Ihr Vortrag, sie habe keine Harmonie mehr gehabt, sei vollkommen asylfremd und inhaltsleer (§ 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG). Eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet dränge sich geradezu auf.

Der Sohn F. erhielt einen entsprechenden Bescheid. Dessen Lebensgefährtin und der einjährige Enkel erhielten hingegen Bescheide zugestellt, in denen ihre Asylanträge nur als (einfach) unbegründet abgelehnt wurden. Sämtliche Bescheide der Angehörigen befinden sich im Rechtsmittel.

Mit ihrer am 2. November 2017 beim Verwaltungsgericht Hannover eingegangenen Klage verfolgt auch die Antragstellerin die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft weiter – 7 A 10364/17 -. Zugleich sucht sie um vorläufigen Rechtsschutz nach. Sie führt aus: Ihr Asylantrag sei nicht offensichtlich unbegründet. Ihre Angaben seien keineswegs unsubstantiiert oder widersprüchlich. Das Bundesamt habe die an sie gerichteten Drohbriefe der FARC und ein weiteres bislang nicht übersetztes Dokument (Bl. 50-52 VV) ignoriert, in dem sie als Binnenvertriebene in Kolumbien anerkannt werde. Der kolumbianische Staat könne ihr keinen Schutz gewähren. Sie sei nach dem Tod ihres Sohnes H. permanent verfolgt worden.

Die Antragstellerin beantragt,

1. ihr für das vorläufige Rechtsschutzverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin B., B-Stadt, zu bewilligen und

2. die aufschiebende Wirkung ihrer Klage 7 A 10364/17 anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag zu 2) abzulehnen.

Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der vorbezeichneten Gerichtsakten und der Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes sowie der Ausländerakten Bezug genommen, die dem Gericht zur Einsichtnahme vorgelegen haben.

II.

1. Dem Antrag der prozessarmen Antragstellerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das vorläufige Rechtsschutzverfahren unter Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten ist gemäß § 166 VwGO in Verbindung mit §§ 114, 121 ZPO zu entsprechen, weil die Rechtsverfolgung – jedenfalls im vorläufigen Rechtsschutzverfahren – aus den Gründen zu nachfolgend II.2) hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.

2. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO hat Erfolg.

Das Gericht kann die aufschiebende Wirkung der rechtzeitig erhobenen Klage gegen die unter Ziffer 5) der Entscheidungsformel des Bescheides des Bundesamtes enthaltene und auf die §§ 34 Abs. 1, 36 Abs. 1 und 30 AsylG in Verbindung mit § 59 AufenthG gestützte Abschiebungsandrohung nur anordnen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen (Art. 16a Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 1 GG, § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG).

Bei einer qualifizierten Antragsablehnung hat das Verwaltungsgericht die Entscheidung des Bundesamtes, dass ein Anspruch auf Gewährung von Asyl und internationalen Schutzes offensichtlich nicht bestehe, zu überprüfen (vgl. grundlegend: BVerfG, Urteil vom 14.5.1996 - 2 BvR 1516/93 - BVerfGE 94, S. 166 = NVwZ 1996, S. 678, 680). Entscheidend ist nicht, ob der Asylantrag an sich zu Recht abgelehnt worden ist, sondern ob die Einschätzung des Bundesamtes, diesen als offensichtlich unbegründet zu beurteilen, tragfähig ist (BVerfG, ebd.; NK-AuslR/Müller, 2. Aufl., § 36 AsylG Rdnr. 37; Kluth/Heusch/Pietzsch, AuslR, § 36 AsylG Rdnr. 39). Als offensichtlich unbegründet kann ein Antrag auf Asyl und Zuerkennung internationalen Schutzes nur angesehen werden, wenn nach vollständiger Erforschung des Sachverhalts im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung vernünftigerweise kein Zweifel an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen bestehen kann und sich bei einem solchen Sachverhalt die Ablehnung des Antrags nach allgemeiner Auffassung geradezu aufdrängt (BVerfG, Beschluss vom 2.5.1984 - 2 BvR 1413/83 - BVerfGE 67, S. 43; Beschluss vom 12.2.2008 - 2 BvR 1262/07 - NVwZ-RR 2008, S. 507; Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl., § 30 AsylG Rdnr. 3; Kluth/Heusch/Schröder, aaO, § 30 AsylG Rdnr. 14f.).

Gemäß § 36 Abs. 4 Satz 2 AsylG bleiben Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten nicht angegeben worden sind, unberücksichtigt, es sei denn, sie sind gerichtsbekannt oder offenkundig. Ein Vorbringen, das nach § 25 Abs. 3 AsylG im Verwaltungsverfahren unberücksichtigt geblieben ist, sowie Tatsachen und Umstände im Sinne von § 25 Abs. 2 AsylG, die der Ausländer im Verwaltungsverfahren nicht angegeben hat, kann das Gericht unberücksichtigt lassen, wenn andernfalls die gerichtliche Entscheidung verzögert würde.

Danach bestehen vorliegend ernstliche Zweifel an dem Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamtes.

Es fällt bereits auf, dass das Bundesamt die Asylanträge der Lebensgefährtin ihres Sohnes F. und ihres Enkels lediglich als (einfach) unbegründet abgelehnt hat, obwohl deren Asylvorbringen wesentlich dürftiger bzw. – im Falle des einjährigen Enkels - überhaupt nicht vorhanden ist. Dies ist jedoch nicht entscheidungserheblich.

Vielmehr hat das Bundesamt sein Offensichtlichkeitsurteil im Falle der Antragstellerin auf § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG gestützt. Danach ist ein unbegründeter Asylantrag von Gesetzes wegen als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn das Vorbringen des Ausländers in wesentlichen Punkten nicht substantiiert oder in sich widersprüchlich ist, offenkundig den Tatsachen nicht entspricht oder auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel gestützt wird. Von einer fehlenden Substantiierung oder gar unauflösbaren Widersprüchlichkeit kann im Gegensatz zu der im Bescheid des Bundesamtes vorgenommenen Würdigung des Vorbringens der Antragstellerin keine Rede sein. Das Vorbringen der Antragstellerin ist vielmehr so zu verstehen, dass sie bei Rückkehr eine Wiederaufnahme der Bedrohung durch die Guerilla in Kolumbien befürchte. Mit Wirkung für das vorläufige Rechtsschutzverfahren ist nach Vorlage des Autopsieberichts durch den Sohn F. glaubhaft vorgetragen, dass ihr weiterer Sohn H. 2011 von Unbekannten erschossen wurde. Die Antragstellerin rügt zu Recht, dass das Bundesamt die nachfolgenden an sie gerichteten und von ihr vorgelegten – angeblichen – Drohbriefe der FARC in ihrem Verfahren ignoriert und trotz Vorliegens einer vom Bundesamt im Parallelverfahren des Sohnes F. veranlassten Übersetzung in ihrem Verfahren nicht zur Kenntnis genommen hat. Ebenso rügt die Antragstellerin zu Recht, dass das Bundesamt die von ihr vorgelegte Urkunde (Bl. 50-52 VV), die beweisen soll, dass sie in Kolumbien als Binnenvertriebene anerkannt sei, weder übersetzt, noch zur Kenntnis genommen habe.

Danach ist die Ablehnung des Antrages der Antragstellerin auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als offensichtlich unbegründet mit unzutreffender und die Entscheidung nicht tragender Begründung erfolgt. Die Klärung der Fragen, ob die behaupteten Folgen der Tötung ihres Sohnes H. 2011 für die erst 2016 erfolgte Ausreise der Antragstellerin kausal waren und ob die FARC mehr als anderthalb Jahre nach Abschluss des Friedensvertrages mit der kolumbianischen Regierung überhaupt noch nichtstaatlicher Akteur im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylG sein kann, bleibt der Klärung im Hauptsacheverfahren vorbehalten. Dabei wird auch zu berücksichtigen sein, dass die Antragstellerin 2016 nach einem Aufenthalt in Spanien zunächst nach Kolumbien zurückgekehrt war.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Gerichtskostenfreiheit findet ihre Rechtsgrundlage in § 83b AsylG.