Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 15.08.2018, Az.: 7 B 10371/17
offensichtlich unbegründet; Kolumbien
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 15.08.2018
- Aktenzeichen
- 7 B 10371/17
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2018, 74360
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 30 Abs 3 Nr 1 AsylVfG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Der Asylantrag darf nicht mit einer unzutreffenden und die Entscheidung nicht tragenden Begründung als unsubstantiiert und widersprüchlich und damit offensichtlich unbegründet abgelehnt werden.
Tenor:
1. Dem Antragsteller wird für das vorläufige Rechtsschutzverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwältin B., B-Stadt, zu den Bedingungen einer im Gerichtsbezirks des Verwaltungsgerichts Hannover ansässigen Rechtsanwältin bewilligt.
2. Die aufschiebende Wirkung der vom Antragsteller erhobenen Klage 7 A 10370/17 wird gegen die unter Ziffer 5) des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 26. Oktober 2017 enthaltene Abschiebungsandrohung angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I.
Der Antragsteller weist sich durch einen am …. ausgestellten kolumbianischen Reisepass aus. Er ist am …. in C. geboren, kolumbianischer Staatsangehöriger christlichen Glaubens sowie Hilfsarbeiter von Beruf. Sein letzter Wohnort in Kolumbien sei D. gewesen. Dort habe er zusammen mit seiner geschiedenen Mutter E. – der Antragstellerin im Parallelverfahren 7 B 10366/17 – und seiner Lebensgefährtin F. – der Klägerin im Parallelverfahren 7 A 10681/17 – gewohnt. Seine Mutter hatte sich von Juni bis August 2016 in Spanien aufgehalten, wo vier oder fünf Schwestern von ihr leben, und war dann nach Kolumbien zurückgekehrt. Sodann reiste die Mutter am 18. November 2016 in das Bundesgebiet ein und beantragte am 30. November 2016 ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Es folgte der Antragsteller mit seiner Einreise am 20. Februar 2017 und die schwangere Lebensgefährtin mit ihrer Einreise am 25. März 2017. Beide beantragten am 2. Mai 2017 ihre Anerkennung als Asylberechtigte.
Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Bundesamt am 2. und 3. Mai 2017 führte der Antragsteller aus: Sein Bruder G.. hätte den Militärdienst bei der Marine geleistet. Hierzu legt er 2009 und 2010 ausgestellte Militärausweise seines Bruders, u.a. eine Reservistenkarte mit Ausstellungsdatum vom 2. November 2010 vor (Bl. 80 VV; Übersetzungen Bl. 193-196 VV). Am 7. Juli 2011 sei sein Bruder von Unbekannten erschossen worden. Er sei auf dem Fußballplatz gewesen. Hierzu legt er einen Autopsiebericht vor, in dem der Beruf seines Bruders mit „Maurer“ angegeben wird (Bl. 68-76 VV; Übersetzung Bl. 172-188 VV). Tatort sei nach dem Autopsiebericht eine Straße gewesen. Die Leiche des Bruders sei nach dem Autopsiebericht in einem Fahrzeug aufgefunden worden. Ebenso findet sich in dem Autopsiebericht, dass bei dem Überfall auf den Bruder zwei weitere Personen als „Opfer“ festgestellt wurden. Er – der Antragsteller - vermute, dass es sich bei den Tätern um Guerilleros gehandelt habe, weil sein Bruder eine Drogenlieferung der Guerilla aufgedeckt hätte. Wegen der Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Tod seines Bruders habe seine Mutter einen auf den 30. April 2012 datierenden Drohbrief der FARC erhalten (Bl. 66 VV; Übersetzung Bl. 170 VV). In einem weiteren Brief der FARC vom 12. Juni 2012 werde ausgeführt, dass er und seine Mutter sowie andere Personen von der FARC zum Tode verurteilt worden seien (Bl. 67 VV; Übersetzung Bl. 171 VV). 2013 sei auch sein Cousin umgebracht worden. Ihm – dem Antragsteller - sei ebenfalls 2013 mitgeteilt worden, dass er von unbekannten Personen gesucht worden sei. Er sei deshalb mehrfach innerhalb Kolumbiens umgezogen, von C. nach H. und I.. Direkten Kontakt mit den Personen, die ihm drohten, habe er nicht gehabt. Er sei nicht zu einem früheren Zeitpunkt ausgereist, weil er nicht gewusst habe, dass es so etwas wie Asyl gebe. Bei Rückkehr nach Kolumbien fürchte er, dass die Guerilla ihn umbringen werde. Er habe kein Vertrauen in die kolumbianische Polizei.
Seine Mutter machte ähnliche Ausführungen. Sie hatte im Rahmen ihrer Anhörung ausgesagt, ihr Sohn G. sei erschossen worden, als er von einem Fußballspiel gekommen sei. Zwei weitere Personen seien dabei verwundet worden (Bl. 64 VV der Mutter). Die Lebensgefährtin des Antragstellers machte geltend, dass ihr eigener Vater 2001 von der Guerilla ermordet worden sei. Sie sei – obgleich damals nur neun Jahre alt – seither von der Guerilla verfolgt worden.
Am 26. Juli 2017 wurde in J. der gemeinsame Sohn des Antragstellers und seiner Lebensgefährtin K. – der Kläger im Parallelverfahren 7 A 3573/18 - geboren. Für ihn wurde von Amts wegen ein Asylverfahren eröffnet.
Mit dem hier streitbefangenen Bescheid vom 26. Oktober 2017 lehnte das Bundesamt den Antrag des Antragstellers auf Asylerkennung (Ziffer 2] der Entscheidungsformel), auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1] der Entscheidungsformel) sowie auf subsidiären Schutz (Ziffer 3] der Entscheidungsformel) jeweils als offensichtlich unbegründet ab. Außerdem wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes - AufenthG - nicht vorliegen (Ziffer 4] der Entscheidungsformel). Zugleich wurde dem Antragsteller die Abschiebung nach Kolumbien oder einen anderen Staat angedroht, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei, sofern er nicht innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheides ausgereist sei (Ziffer 5] der Entscheidungsformel). Schließlich wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6] der Entscheidungsformel). Zur Begründung wird ausgeführt, dass der Antragsteller vor seiner Ausreise unverfolgt in Kolumbien gelebt habe. Der Sachvortrag sei unstimmig. So habe er behauptet, sein Bruder sei Soldat gewesen und sei auf einem Fußballplatz niedergeschossen worden. Diese Angaben widersprächen jedoch dem Autopsiebericht, wonach die Leiche in einem Fahrzeug gefunden und das Opfer von Beruf Maurer gewesen sein soll. Selbst wenn der Antragsteller von unbekannten Guerillas gesucht worden wäre, so habe interner Schutz bestanden. Der Sachvortrag sei vollkommen unsubstantiiert und widersprüchlich (§ 30 Abs. 3 Nr. 1 des Asylgesetzes – AsylG -). Darüber hinaus sei er inhaltsleer und enthalte keinerlei konkrete Bedrohung des Antragstellers. Eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet dränge sich geradezu auf. Dass der getötete Bruder angeblich Soldat gewesen sein soll, der vorgelegte Autopsiebericht aber als Beruf des Opfers „Maurer“ angegeben habe, bleibe nur einer der unaufgelösten Widersprüche des asylrechtlich unsubstantiierten Sachvortrages des Antragstellers, dem konkret nie etwas Asylrelevantes zugestoßen sei.
Die Mutter des Antragstellers erhielt einen entsprechenden Bescheid. Die Lebensgefährtin und der einjährige Sohn erhielten hingegen Bescheide zugestellt, in denen ihre Asylanträge nur als (einfach) unbegründet abgelehnt wurden. Sämtliche Bescheide der Angehörigen befinden sich im Rechtsmittel.
Mit seiner am 2. November 2017 beim Verwaltungsgericht Hannover eingegangenen Klage verfolgt auch der Antragsteller die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft weiter – 7 A 10370/17 -. Zugleich sucht er um vorläufigen Rechtsschutz nach. Er führt aus: Sein Asylantrag sei nicht offensichtlich unbegründet. Wesentliche Teile seiner Verfolgung nach dem Tode des Bruders seien nicht protokolliert worden. Sein Bruder sei nicht auf einem Fußballplatz ermordet worden, sondern in einem Fahrzeug, als er vom Fußballspielen gekommen sei. Auch hätte sein Bruder gerade die Militärpflicht beendet gehabt und er hätte beabsichtigt, wieder als Berufssoldat bei der Marine anzufangen. Er habe in der Zwischenzeit auch nicht als Maurer gearbeitet, sondern als Tischler und Bäcker.
Der Antragsteller beantragt,
1. ihm für das vorläufige Rechtsschutzverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin B., B-Stadt, zu bewilligen und
2. die aufschiebende Wirkung seiner Klage 7 A 10370/17 anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag zu 2) abzulehnen.
Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der vorbezeichneten Gerichtsakten und der Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes sowie der Ausländerakten Bezug genommen, die dem Gericht zur Einsichtnahme vorgelegen haben.
II.
1. Dem Antrag des prozessarmen Antragstellers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das vorläufige Rechtsschutzverfahren unter Beiordnung seiner Prozessbevollmächtigten ist gemäß § 166 VwGO in Verbindung mit §§ 114, 121 ZPO zu entsprechen, weil die Rechtsverfolgung – jedenfalls im vorläufigen Rechtsschutzverfahren – aus den Gründen zu nachfolgend II.2) hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.
2. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO hat Erfolg.
Das Gericht kann die aufschiebende Wirkung der rechtzeitig erhobenen Klage gegen die unter Ziffer 5) der Entscheidungsformel des Bescheides des Bundesamtes enthaltene und auf die §§ 34 Abs. 1, 36 Abs. 1 und 30 AsylG in Verbindung mit § 59 AufenthG gestützte Abschiebungsandrohung nur anordnen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen (Art. 16a Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 1 GG, § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG).
Bei einer qualifizierten Antragsablehnung hat das Verwaltungsgericht die Entscheidung des Bundesamtes, dass ein Anspruch auf Gewährung von Asyl und internationalen Schutzes offensichtlich nicht bestehe, zu überprüfen (vgl. grundlegend: BVerfG, Urteil vom 14.5.1996 - 2 BvR 1516/93 - BVerfGE 94, S. 166 = NVwZ 1996, S. 678, 680). Entscheidend ist nicht, ob der Asylantrag an sich zu Recht abgelehnt worden ist, sondern ob die Einschätzung des Bundesamtes, diesen als offensichtlich unbegründet zu beurteilen, tragfähig ist (BVerfG, ebd.; NK-AuslR/Müller, 2. Aufl., § 36 AsylG Rdnr. 37; Kluth/Heusch/Pietzsch, AuslR, § 36 AsylG Rdnr. 39). Als offensichtlich unbegründet kann ein Antrag auf Asyl und Zuerkennung internationalen Schutzes nur angesehen werden, wenn nach vollständiger Erforschung des Sachverhalts im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung vernünftigerweise kein Zweifel an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen bestehen kann und sich bei einem solchen Sachverhalt die Ablehnung des Antrags nach allgemeiner Auffassung geradezu aufdrängt (BVerfG, Beschluss vom 2.5.1984 - 2 BvR 1413/83 - BVerfGE 67, S. 43; Beschluss vom 12.2.2008 - 2 BvR 1262/07 - NVwZ-RR 2008, S. 507; Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl., § 30 AsylG Rdnr. 3; Kluth/Heusch/Schröder, aaO, § 30 AsylG Rdnr. 14f.).
Gemäß § 36 Abs. 4 Satz 2 AsylG bleiben Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten nicht angegeben worden sind, unberücksichtigt, es sei denn, sie sind gerichtsbekannt oder offenkundig. Ein Vorbringen, das nach § 25 Abs. 3 AsylG im Verwaltungsverfahren unberücksichtigt geblieben ist, sowie Tatsachen und Umstände im Sinne von § 25 Abs. 2 AsylG, die der Ausländer im Verwaltungsverfahren nicht angegeben hat, kann das Gericht unberücksichtigt lassen, wenn andernfalls die gerichtliche Entscheidung verzögert würde.
Danach bestehen vorliegend ernstliche Zweifel an dem Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamtes.
Es fällt bereits auf, dass das Bundesamt die Asylanträge der Lebensgefährtin des Antragstellers und des gemeinsamen Sohnes lediglich als (einfach) unbegründet abgelehnt hat, obwohl deren Asylvorbringen wesentlich dürftiger bzw. – im Falle des einjährigen Sohnes - überhaupt nicht vorhanden ist. Dies ist jedoch nicht entscheidungserheblich.
Vielmehr hat das Bundesamt sein Offensichtlichkeitsurteil im Falle des Antragstellers auf § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG gestützt. Danach ist ein unbegründeter Asylantrag von Gesetzes wegen als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn das Vorbringen des Ausländers in wesentlichen Punkten nicht substantiiert oder in sich widersprüchlich ist, offenkundig den Tatsachen nicht entspricht oder auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel gestützt wird. Von einer fehlenden Substantiierung oder gar unauflösbaren Widersprüchlichkeit kann im Gegensatz zu der im Bescheid des Bundesamtes vorgenommenen Würdigung des Vorbringens des Antragstellers keine Rede sein. Der Antragsteller hat vielmehr vorgetragen, dass er bei Rückkehr eine Wiederaufnahme der Bedrohung durch die Guerilla in Kolumbien befürchte. Er hat hierzu – mit Wirkung für das vorläufige Rechtsschutzverfahren - glaubhaft unter Vorlage eines Autopsieberichtes vorgetragen, dass sein jüngerer Bruder 2011 von Unbekannten erschossen worden sei. Das Bundesamt sieht in dem Vorbringen des Antragstellers Widersprüche im Verhältnis zum Autopsiebericht, weil er erwähnt hatte, dass sein Bruder Soldat gewesen sei und in dem Autopsiebericht der Beruf des Bruders mit „Maurer“ vermerkt ist. Das Bundesamt hält diesen Widerspruch für nicht auflösbar. Tatsächlich besteht jedoch kein Widerspruch, weil der Antragsteller zugleich einen 2010 ausgestellten Militärausweis seines Bruders vorgelegt hatte, in dem vermerkt ist, dass dieser Reservist gewesen sei („Reservistenkarte“). Es ist deshalb durchaus möglich, dass der Bruder zu einer früheren Zeit aktiver Soldat, im Zeitpunkt seines Todes jedoch nur noch Reservist und damit frei für die Ausübung eines zivilen Berufes war. Ebenso liegt kein weiterer Widerspruch darin, dass der Antragsteller ausgeführt hatte, sein Bruder sei auf einem Fußballplatz gewesen, hingegen im Autopsiebericht ausgeführt wurde, seine Leiche sei in einem auf der Straße stehenden Fahrzeug gefunden worden. Zum einen kann die Aussage des Antragstellers so verstanden werden, dass sein Bruder zuvor auf einem Fußballplatz gewesen sei. Zum anderen hat seine Mutter ausgeführt, dass der Getötete von einem Fußballspiel gekommen sei (Bl. 64 VV der Mutter). Auch insoweit wäre ein Widerspruch, wenn er denn bestanden hätte, durchaus auflösbar. Dessen ungeachtet hat sich das Bundesamt nicht mit den beiden vom Antragsteller vorgelegten und vom Bundesamt auch übersetzten – angeblichen - Drohbriefen der FARC auseinandergesetzt und sie in dem streitbefangenen Bescheid nicht einmal erwähnt.
Danach ist die Ablehnung des Antrages des Antragstellers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als offensichtlich unbegründet mit unzutreffender und die Entscheidung nicht tragender Begründung erfolgt. Die Klärung der Fragen, ob die behaupteten Folgen der Tötung des Bruders 2011 für die erst 2017 erfolgte Ausreise des Antragstellers kausal waren und ob die FARC mehr als anderthalb Jahre nach Abschluss des Friedensvertrages mit der kolumbianischen Regierung überhaupt noch nichtstaatlicher Akteur im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylG sein kann, bleibt der Klärung im Hauptsacheverfahren vorbehalten.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Gerichtskostenfreiheit findet ihre Rechtsgrundlage in § 83b AsylG.
3. Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.