Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 04.01.2011, Az.: 1 U 103/10

Keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäunung der Berufungsbegründungsfrist aufgrund mangelhafter EDV-Organisation in der Rechtsanwaltskanzlei; Anforderungen an eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung einer Berufungsbegründungsfrist aufgrund von Organisationsversäumnissen in einer Rechtsanwaltskanzlei

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
04.01.2011
Aktenzeichen
1 U 103/10
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2011, 15101
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGOL:2011:0104.1U103.10.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Oldenburg - 29.07.2010 - AZ: 5 O 3607/09

Fundstellen

  • BRAK-Mitt 2011, 239
  • ITRB 2011, 181
  • MDR 2011, 700
  • NJW 2011, 2305-2306 "Zugriff auf passwortgesicherte Dokumente in der Kanzlei"
  • RENOpraxis 2011, 228
  • VRR 2011, 242
  • ZAP 2011, 918
  • ZAP EN-Nr. 600/2011

Amtlicher Leitsatz

1. Eine unverschuldete Versäumung der Berufungsbegründungsfrist liegt nicht vor, wenn die Berufungsbegründung nur deshalb nicht fristgerecht dem Berufungsgericht übermittelt werden konnte, weil eine Kanzleimitarbeiterin, die die Berufungsbegründung gefertigt hatte, ihren Arbeitsplatz verlassen hatte, mangels Kenntnis ihres Passworts der Rechtsanwalt und seine übrigen Kanzleimitarbeiter nicht auf den abgespeicherten Text zugreifen konnten und dies auch erst nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist auffiel.

2. Bei dieser Fallgestaltung ist ein Verschulden begründender Organisationsmangel bei der Ausgangskontrolle anzunehmen. Weiterhin ist ein Organisationsmangel darin zu sehen, dass keine Vorkehrungen dafür getroffen worden sind, dass auch in dem nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht ganz fernliegenden Fall eines Ausfalls von Kanzleimitarbeitern ein Zugriff auf von ihnen gefertigte Texte gewährleistet war.

In dem Rechtsstreit

B... U..., ...,

Klägerin und Berufungsklägerin,

Prozessbevollmächtigte:

Rechtsanwälte ...

gegen

Dr. A... S..., ...

Beklagter und Berufungsbeklagter,

Prozessbevollmächtigte:

Rechtsanwälte ...

hat der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg

durch den Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts ... und die Richter am Oberlandesgericht ... und ...

am 4. Januar 2011

beschlossen:

Tenor:

Der Antrag der Klägerin, ihr wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wird zurückgewiesen.

Die Berufung der Klägerin gegen das am 29. Juli 2010 verkündete Urteil des Einzelrichters der 5. Zivilkammer des Landgerichts Oldenburg wird als unzulässig verworfen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens einschließlich des Wiedereinsetzungsverfahrens trägt die Klägerin.

Der Wert des Streitgegenstandes für die Berufungsinstanz wird auf 26.888 € festgesetzt.

Gründe

1

I. Das Landgericht Oldenburg hat durch Urteil vom 29.7.2010 eine Klage der Klägerin auf Entschädigung wegen des ´good will´ einer Arztpraxis nach Ausscheiden der Klägerin aus der mit dem Beklagten betriebenen Praxisgemeinschaft abgewiesen. Gegen dieses ihr am 10.8.2010 zugestellte Urteil hat die Klägerin mit einem am 9.9.2010 beim Oberlandesgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt. Das Rechtsmittel der Klägerin ist innerhalb der bis zum 10.11.2010 verlängerten Berufungsbegründungsfrist nicht begründet worden. Nach Hinweis des Senatsvorsitzenden auf eine beabsichtigte Verwerfung der Berufung hat die Klägerin mit einem am 22.11.2010 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und die Berufung nunmehr begründet. Zur Begründung ihres Antrags auf Wiedereinsetzung wegen Versäumung der Berufungsbegründung führt die Klägerin aus, dass aufgrund eines Todesfalls in der Familie die stets zuverlässige und umsichtige Mitarbeiterin ihrer Prozessbevollmächtigten C... S... den bereits für den 10.11.2010 vorgefertigten Schriftsatz mit der Berufungsbegründung nicht mehr zur Korrektur gelesen und zum Ausdruck gebracht habe. Da die Mitarbeiterin wegen des Todesfalls den Arbeitsplatz verlassen gehabt habe, habe eine notwendige Rücksprache mit den Prozessbevollmächtigten nicht mehr innerhalb der Berufungsbegründungsfrist stattfinden können, wegen des unbekannten Passworts der Mitarbeiterin habe das abgespeicherte Dokument von ihren Prozessbevollmächtigten oder einem anderen Mitarbeiter der Rechtsanwaltskanzlei nicht aufgerufen, nicht bearbeitet, nicht ausgedruckt und nicht mehr innerhalb der Berufungsbegründungsfrist versandt werden können. Zur Glaubhaftmachung ihres Vorbringens hat die Klägerin sich auf eine dies bestätigende Erklärung mit eidesstattlicher Versicherung der Mitarbeiterin der Prozessbevollmächtigten C... S... vom 22.11.2010 bezogen.

2

Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung des Antrags und der Berufung wird auf den Schriftsatz der Klägerin vom 22.11.2010 verwiesen.

3

Mit Schreiben des Berichterstatters vom 2.12.2010 ist die Klägerin auf Bedenken hinsichtlich der Begründetheit des Wiedereinsetzungsantrags hingewiesen worden. innerhalb einer der Klägerin hierfür gesetzten Frist ist eine Stellungnahme der Klägerin hierzu nicht eingegangen.

4

II. 1. Der Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der hier unzweifelhaft vorliegenden Versäumung der Berufungsbegründungsfrist ist nach §§ 234, 236 ZPO zwar zulässig, aber nicht begründet.

5

Es ist nicht festzustellen, dass die Berufungsbegründungsfrist unverschuldet versäumt worden ist.

6

Zwar ist hier ein eigenes Verschulden der Klägerin, das für die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist ursächlich geworden ist, nicht erkennbar.

7

Die Klägerin muss sich jedoch gemäß § 85 Abs. 2 ZPO ein hier vorliegendes Verschulden ihrer Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen. Es ist nämlich von einem eigenen Verschulden der Prozessbevollmächtigten in der Form eines Organisationsverschuldens auszugehen.

8

Der Prozessbevollmächtigte hat seine Rechtsanwaltskanzlei so zu organisieren, dass die Wahrung einzuhaltender Fristen gewährleistet ist. zur Abwehr von Hinderungsgründen, mit denen nach der Lebenserfahrung im alltäglichen Bürobetrieb zu rechnen ist und die voraussehbar sind, muss er zumutbare Vorsorge und Gegenmaßnahmen ergreifen (vgl. zu den allgemeinen an die Organisation einer Rechtsanwaltskanzlei zu stellenden Anforderungen Zöller/Greger, ZPO, 28. Aufl., § 233 ZPO Rn. 23, Stichworte ´Büropersonal und organisation´, ´Fristenbehandlung´).

9

Im vorliegenden Fall hätte zunächst verhindert werden können und verhindert werden müssen, dass die fehlende Übersendung des abdiktierten Schriftsatzes mit der Berufungsbegründung innerhalb der Berufungsbegründungsfrist zunächst nicht bemerkt wurde.

10

Es gehört nach allseitiger und ständiger Rspr. zum allgemeinen Standard der in einem Rechtsanwaltsbüro zu erwartenden Organisation, dass eine Ausgangskontrolle gewährleistet ist und dafür die entsprechenden organisatorischen Vorkehrungen getroffen werden (vgl. dazu z.B. Zöller/Greger, ZPO, 28. Aufl., § 233 ZPO Rn. 23, Stichwort: ´Ausgangskontrolle´, m.w.N.). So muss durch entsprechende Vorkehrungen gesichert sein, dass am Abend bzw. gegen Ende des Arbeitstages die Erledigung und der Versand der fristgebundenen Schriftsätze anhand des Fristenkalenders überprüft werden (vgl. Zöller/Greger, aaO.).

11

Danach hätte hier am Abend vor Ablauf der Frist am 10.11.1010 rechtzeitig festgestellt werden müssen, dass die Berufungsbegründung im hier vorliegenden Fall noch ausstand und noch nicht auf den Weg zum Gericht gebracht worden war. Dann wäre noch eine entsprechende Reaktionsmöglichkeit verblieben und die Berufungsfrist hätte durch kurzzeitige Erstellung bzw. Reproduktion der Berufungsbegründung gewahrt werden können. Eine solche notwendige Ausgangskontrolle war hier offensichtlich nicht vorhanden. Sonst wäre die Versäumung der Frist nicht erst 6 Tage später nach dem Anruf des Senatsvorsitzenden vom 16.11.2010 ´kanzleiintern´ bekannt geworden, wie die Klägerin auf S. 2 des Schriftsatzes vom 22.11.2010 vorgetragen hat.

12

Soweit geltend gemacht wird, dass wegen des unbekannten Passwortes der Sekretariatsmitarbeiterin S... niemand aus der Kanzlei der Prozessvertreter der Klägerin Zugang zu dem abgespeicherten Diktat bzw. Schriftsatz gehabt habe, schließt auch dies ein Organisationsverschulden der Prozessbevollmächtigten der Klägerin nicht aus.

13

Es ist keine fernliegende, sondern nach der Lebenserfahrung eher naheliegende Möglichkeit, dass eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter plötzlich ausfällt, sei es durch Unfall, plötzliche Erkrankung, eine andere dringende familiäre oder dienstliche Verhinderung oder aus sonstigen zwingenden Gründen. Solche nach der Lebenserfahrung nicht fernliegenden Möglichkeiten, die nicht nur theoretisch denkbar sind, sondern als ungewünschte Ereignisse gelegentlich auftreten, müssen jedoch im Rahmen sachgerechter Organisation des Bürobetriebs berücksichtigt werden. Es müssen danach Vorkehrungen getroffen werden, dass für solche nicht fernliegenden Fälle auf von der Mitarbeiterin/dem Mitarbeiter geschriebene, fristgebundene Texte oder dem Mitarbeiter zugewiesene, noch zu fertigende Diktate zugegriffen werden kann, etwa durch Hinterlegung des Passworts des jeweiligen Mitarbeiters an sicherer Stelle. Solche Maßnahmen wären auch im vorliegenden Fall möglich und zumutbar gewesen.

14

An einer solchen organisatorischen Vorkehrung hat es hier jedoch ersichtlich gefehlt.

15

Da nach alledem ein fehlendes Verschulden an der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist nicht festzustellen ist, muss der Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen werden.

16

2. Die Berufung der Klägerin ist dann nach § 522 Abs. 1 ZPO durch Beschluss zu verwerfen, weil das Rechtsmittel wegen einer nicht fristgerecht vorgelegten Berufungsbegründung unzulässig ist.

17

3. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.