Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 27.09.2002, Az.: 6 W 118/02
Beschwerdegericht; Beschwerdeverfahren; gesetzlicher Richter; originäre Einzelrichtersache; Rechtsstreitübernahme; Rückwirkung; Sachentscheidung; Unzuständigkeit; Verfahrensfehler; Verfahrensmangel; Zivilkammer; Zurückverweisung; Übertragungsbeschluss
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 27.09.2002
- Aktenzeichen
- 6 W 118/02
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2002, 43746
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG - AZ: 9 O 9/02
Rechtsgrundlagen
- § 348 Abs 3 S 3 ZPO
- § 572 ZPO
- Art 101 Abs 1 S 2 GG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Die Übernahme einer originären Einzelrichtersache durch die Kammer ohne wirksamen Übertragungsbeschluss gem. § 348 III 3 ZPO stellt wegen Verstoßes gegen den Grundsatz des gesetzlichen Richters einen nicht heilbaren Verfahrensmangel dar. Ein späterer wirksamer Übertragungsbeschluss entfaltet keine Rückwirkung.
2. Einer eigenen Sachentscheidung des Beschwerdegerichts gem. § 572 ZPO steht in derartigen Fällen entgegen, dass die Unzuständigkeit der Kammer zugleich Auswirkungen auf die Zuständigkeiten des Senats im Beschwerdeverfahren und damit auf den gesetzlichen Richter des Beschwerdegerichts hat.
Tenor:
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, an die 9. Zivilkammer des Landgerichts Hannover als Kammer zurückverwiesen.
Streitwert für das Beschwerdeverfahren: bis 7.000 Euro.
Gründe
Die sofortige Beschwerde ist zulässig (§ 91 a Abs. 2 S. 1, § 567 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) und insoweit begründet, als der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen war.
1. Der angefochtene Beschluss leidet an einem wesentlichen Verfahrensmangel.
a) Die Entscheidung ist nicht durch den im Zeitpunkt der Beschlussfassung zuständigen gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) ergangen.
aa) Für die Entscheidung des Rechtsstreits war der originäre Einzelrichter der 9. Zivilkammer des Landgerichts Hannover gem. § 348 Abs. 1 S. 1 ZPO zuständig. Dieser hat auch zunächst das schriftliche Vorverfahren angeordnet und den Parteien mit Verfügung vom 22. März 2002 (Bl. 21 d. A.) Gelegenheit gegeben, mitzuteilen, ob einer Übertragung der Sache auf die Kammer Gründe entgegenstehen. Mit Verfügung vom 24. Mai 2002 hat er die Sache sodann dem Vorsitzenden zur Entscheidung der Kammer über eine Übernahme vorgelegt (Bl. 37 d. A.). Ein Übertragungsbeschluss gem. § 348 Abs. 3 S. 3 ZPO wurde auch vorbereitet, ist aber am 27. Mai 2002 ausschließlich durch den Kammervorsitzenden unterschrieben worden (Bl. 37 d. A.). Trotz Fehlens eines wirksamen Übertragungsbeschlusses hat dann indessen die Kammer am 15. Juli 2002 den Beschluss nach § 91 a ZPO erlassen (Bl. 67 d. A.).
Diese Übernahme einer originären Einzelrichtersache durch die Kammer ohne wirksamen Übertragungsbeschluss stellt, da es um den gesetzlichen Richter geht, einen nicht heilbaren Verfahrensfehler dar (Musielak – Wittschier, ZPO, 3. Aufl. § 348 a Rdnr. 15; Zöller – Greger, ZPO, 23. Aufl., § 348 a Rdnr. 23). Es ist deshalb unerheblich, dass der Beschluss über die Übernahme des Verfahrens durch die Kammer am 12. September 2002 – zeitgleich mit dem Nichtabhilfebeschluss (Bl. 108 d. A.) – nachgeholt wurde (Bl. 106 d. A.). Rückwirkende Wirkung kommt einem derartigen Übertragungsbeschluss nicht zu. Eine Zuständigkeit ist erst für das weitere Verfahren nach Erlass des Beschlusses begründet (vgl. Musielak – Wittschier, a.a.O., Rdnr. 19).
bb) Die Entscheidung durch den funktionell nicht zuständigen Spruchkörper zwang zur Aufhebung des Beschlusses auch insoweit, als das Landgericht der Beklagten die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz auferlegt hat. Das Verbot, den Antragsteller der Instanz schlechter zu stellen als in der Vorinstanz, das sich für das Berufungsverfahren § 528 Satz 2 ZPO n. F. entnehmen lässt und für das Beschwerdeverfahren gleichermaßen gilt, betrifft nur das materielle Recht, wo es auf die gestellten Anträge gemäß der genannten Vorschrift ankommt, nicht Verfahrensvorschriften, welche das Rechtsmittelgericht ungeachtet des Parteiwillens von Amts wegen zu prüfen hat (vgl. Zöller-Gummer, ZPO, 23. Aufl., § 573 Rdnr. 42).
b) Der Senat sieht von einer eigenen Sachentscheidung ab. Gem. § 572 ZPO steht es im Ermessen des Beschwerdegerichts, ob es der Beschwerde selbst abhilft oder die Sache an das Gericht, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, zurückverweist. Auch bei einem wesentlichen Verfahrensfehler – wie hier – muss deshalb nicht zwingend eine Zurückverweisung erfolgen (Musielak – Ball, § 572 Rdnr. 16). Einer eigenen Sachentscheidung steht hier indessen entgegen, dass die Unzuständigkeit der Kammer zum Erlass des Beschlusses vom 15. Juli 2002 zugleich Auswirkungen auf die Zuständigkeiten des Senats im Beschwerdeverfahren und damit auf den gesetzlichen Richter des Beschwerdegerichts hat. Wäre der Beschluss vom 15. Juli 2002 nämlich durch den zu diesem Zeitpunkt noch zuständigen Einzelrichter erlassen worden, so wäre im Beschwerdeverfahren ebenfalls der originäre Einzelrichter des Senats gem. § 568 Abs. 1 S. 1 ZPO zuständig gewesen. Da der angefochtene Beschluss indessen von der – wenn auch unzuständigen – Kammer erlassen wurde, ist auch im Beschwerdeverfahren eine Zuständigkeit des Senats begründet.
Der angefochtene Beschluss war daher aufzuheben und an die 9. Zivilkammer des Landgerichts Hannover zurückzuverweisen. Eine Zurückverweisung an den originären Einzelrichter der Zivilkammer kommt demgegenüber zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr in Betracht, nachdem der Rechtsstreit inzwischen durch unanfechtbaren und nicht mehr rückgängig zu machenden (vgl. § 348 Abs. 3 S. 4 ZPO) Beschluss vom 12. September 2002 auf die Kammer übertragen wurde. Diese wird nunmehr eine erneute Entscheidung nach § 91a ZPO zu treffen haben.
2. Für das weitere Verfahren weist der Senat, der im Falle einer erneuten sofortigen Beschwerde gegen die Entscheidung der Zivilkammer zuständig wäre, auf Folgendes hin:
Die Klage dürfte zunächst zulässig und begründet gewesen sein. Der Klägerin stand ein Anspruch auf Rückzahlung der Bürgschaftssumme von 400.000,- DM (= 204.516,75 Euro) gegen die Beklagte zu. Hat der Bürge auf eine Bürgschaft auf erstes Anfordern geleistet, so kann er den Gläubiger in einem Rückforderungsprozess unter dem Gesichtspunkt der ungerechtfertigten Bereicherung gem. § 812 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. BGB in Anspruch nehmen, wenn die zu sichernde Hauptforderung überhaupt nicht oder jedenfalls nicht in dieser Höhe bestand (BGH NJW 1988, 2610 [BGH 21.04.1988 - IX ZR 113/87]; Palandt, BGB, 61. Aufl., Einf. v. § 765 Rdnr. 14). Die Darlegungs- und Beweislast im Rückforderungsprozess entspricht hierbei derjenigen im gewöhnlichen Bürgschaftsprozess des Gläubigers gegen den Bürgen. Der Gläubiger hat deshalb Entstehen, Fälligkeit und Höhe der gesicherten Hauptschuld darzulegen und zu beweisen (BGH NJW 1989, 1606, 1607 [BGH 09.03.1989 - IX ZR 64/88]; Palandt, a.a.O.). Dieser Verpflichtung war die Beklagte bis zu ihrem Klagerwiderungsschriftsatz vom 22. April 2002 indessen nicht nachgekommen. Vielmehr hatte sie sich im vorgerichtlichen Schriftverkehr trotz mehrfacher Aufforderung durch die Klägerin geweigert, Bestand und Höhe der Hauptschuld nachzuweisen (vgl. Schreiben vom 7. Mai 2001, Bl. 15 d. A.). Ohne Berechtigung hatte sie überdies mit Schreiben vom 18. Dezember 2001 erklärt, sie betrachte die ausdrücklich unter Rückforderungsvorbehalt erfolgte Zahlung der Klägerin (vgl. deren Schreiben vom 20. April 2001, Bl. 14 d. A.) als unbedingt (Bl. 19 d. A.).
Das erledigende Ereignis in Form einer Erfüllung der vertraglichen Verpflichtung der Beklagten ist hier erst mit der Klagerwiderung vom 22. April 2002 erfolgt, in der die Beklagte im einzelnen dargelegt und nachgewiesen hat, dass die zu sichernde Hauptforderung der ... gegen die ... wegen Überzahlung von deren Werklohnforderung bestand und die Bürgschaftssumme erreichte.
Unerheblich ist demgegenüber, dass die Berechtigung der Bürgschaftszahlung durch die von der Beklagten erbrachten Nachweise zwischenzeitlich unstreitig geworden war und die Zahlungsklage deshalb ohne die Erledigungserklärungen hätte abgewiesen werden müssen. Dies ist gerade die Besonderheit des Eintritts eines erledigenden Ereignisses und hat auf die Frage der Kostentragungspflicht nach § 91a ZPO keinen Einfluss. Ebenso wenig wie die nach Rechtshängigkeit erfolgte Bezahlung einer Forderung dazu führt, dass der Kläger wegen der nunmehr eingetretenen Erfüllung die Kosten im Rahmen einer Entscheidung nach § 91a ZPO zu tragen hätte, ist es für die Kostenentscheidung hier von Belang, dass die Beklagte den ihr obliegenden Nachweis der Berechtigung zum Behaltendürfen der auf erstes Anfordern gezahlten Bürgschaftssumme durch entsprechende Nachweise erst im gerichtlichen Verfahren erfüllt hat. Anderenfalls würde dies dazu führen, dass bei jeder Art von Erfüllung nach Rechtshängigkeit und anschließender Erledigungserklärung immer der klagende Gläubiger die Kosten des Verfahrens zu tragen hätte. Das wäre indessen mit Sinn und Zweck der nach § 91a ZPO zu treffenden Entscheidung über die Kosten unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nicht zu vereinbaren.
Die Klägerin war schließlich auch nicht verpflichtet, gegen die Beklagte zunächst Klage auf Auskunft zu erheben. Darlegungs- und beweispflichtig für das Bestehen der zu sichernden Hauptforderung war im Rahmen eines Rückforderungsanspruchs die Beklagte. Wenn diese vorgerichtlich einen derartigen Nachweis aber nicht erbrachte, sondern ihre Verpflichtung überdies ausdrücklich in Abrede stellte, war die Klägerin berechtigt, unmittelbar Zahlungsklage zu erheben.