Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 23.05.2018, Az.: L 13 AS 59/16

Anspruch auf Arbeitslosengeld II; Leistungen für Unterkunft und Heizung; Anforderungen an eine Abweichung vom Kopfteilprinzip in Fällen der Behinderung oder Pflegebedürftigkeit

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
23.05.2018
Aktenzeichen
L 13 AS 59/16
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2018, 33056
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG Osnabrück - AZ: S 24 AS 359/14

Fundstellen

  • FEVS 2019, 234-237
  • ZfSH/SGB 2018, 601-602

Amtlicher Leitsatz

Eine Ausnahme vom Kopfteilprinzip bei der Verteilung der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung kommt in Fällen von Behinderung oder Pflegebedürftigkeit nur in Betracht, wenn tatsächliche Aufwendungen dem spezifischen Unterkunftsbedarf eines bestimmten Bewohners zugeordnet werden können.

Redaktioneller Leitsatz

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist die Höhe der Leistungsansprüche der Kläger nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Bewilligungszeitraum vom 1. Juli 2013 bis 30. April 2014.

Der 1963 geborene Kläger zu 1) und die 1964 geborene Klägerin zu 2) sind miteinander verheiratet. Der Kläger zu 1), bei dem ein Grad der Behinderung (GdB) von 90 nebst Merkzeichen G, aG und H anerkannt ist, bezog im streitbefangenen Zeitraum eine Erwerbsminderungsrente in Höhe von 875,82 EUR netto. Die erwerbsfähige Klägerin zu 2) verfügte nicht über Einkommen. Die Eheleute bewohnten zusammen mit ihren Söhnen N. (geb. 1991) und O. (geb. 1988) eine mit Erdgas beheizte Mietwohnung in Haren, für die eine Bruttokaltmiete von 360 EUR (ab Oktober 2013: 370 EUR) zu entrichten war. Nach den im Rahmen der Antragstellung vorgelegten Unterlagen beliefen sich die monatlichen Abschläge für die Gasversorgung bis September 2013 auf 99 EUR monatlich. Unterlagen über die ab Oktober 2013 zu zahlenden Gasabschläge sowie über die Abschläge für Wasser/Abwasser legten die Kläger zunächst nicht vor. Die Söhne waren in der Lage, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, und stellten dementsprechend ausdrücklich keine Leistungsanträge nach dem SGB II.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 17. Dezember 2013 bewilligte die für den Beklagten handelnde Stadt Haren (nachfolgend einheitlich als Beklagter bezeichnet) den Klägern Leistungen nach dem SGB II für den Bewilligungszeitraum vom 1. Juli 2013 bis 30. April 2014, und zwar für Juli bis September 2013 monatlich 132,33 EUR, für Oktober bis Dezember 2013 monatlich 87,83 EUR und für Januar bis April 2014 monatlich 105,19 EUR.

Bei der Leistungsberechnung wurden Regelbedarfe in Höhe von jeweils 345 EUR (ab Januar 2014: 353 EUR) sowie für den Kläger zu 1) ein Mehrbedarf nach § 23 Nr. 4 SGB II in Höhe von 58,65 EUR (ab Januar 2014: 60,01 EUR) anerkannt. Als Unterkunftsbedarf wurde die Bruttokaltmiete von 360 EUR (ab Oktober 2013: 370 EUR) zugrunde gelegt, für die Monate Juli bis September 2013 zusätzlich der nachgewiesene Gasabschlag in Höhe von 99 EUR. Als Bedarf der Kläger wurden jeweils ¼ der monatlichen Aufwendungen anerkannt. Als Einkommen wurde die um die Versicherungspauschale von 30 EUR bereinigte Erwerbsminderungsrente des Klägers zu 1) mit einem Betrag von 845,82 EUR angerechnet. Der Bescheid enthielt den Hinweis, dass die Leistungen nach Vorlage von Nachweisen über den Gasabschlag ab Oktober 2013 und die Abschläge für Wasser/Abwasser neu berechnet würden.

Hiergegen legten die Kläger Widerspruch ein, mit dem sie sich gegen die Aufteilung der Unterkunftskosten nach dem sog. Kopfteilprinzip wandten. Sie vertraten die Auffassung, dass im Hinblick auf die Schwerbehinderung des Klägers zu 1) von den insgesamt 85 qm Wohnfläche der Wohnung 75 qm als Wohnbedarf der Eheleute anerkannt werden müssten, so dass sich deren Anteil an den Unterkunftskosten entsprechend erhöhe. Mit Widerspruchsbescheid vom 1. April 2014 wies der Beklagte den Widerspruch zurück und führte zur Begründung aus, dass Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach höchstrichterlicher Rechtsprechung im Regelfall unabhängig von Alter und Nutzungsintensität pro Kopf aufzuteilen seien, wenn Hilfebedürftige eine Wohnung mit anderen Personen nutzten. Eine Abweichung vom Kopfteilprinzip aufgrund der Schwerbehinderung des Klägers zu 1) komme nicht in Betracht.

Mit der am 24. April 2014 erhobenen Klage haben die Kläger weiterhin geltend gemacht, dass für den schwerbehinderten, pflegebedürftigen und rollstuhlpflichtigen Kläger zu 1) ein höherer Wohnbedarf anzuerkennen sei, so dass eine Aufteilung der Unterkunftskosten auf alle Haushaltsmitglieder zu gleichen Anteilen nicht zulässig sei.

Mit Urteil vom 13. Januar 2016 hat das Sozialgericht (SG) Osnabrück die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass eine Abweichung vom Kopfteilprinzip nicht gerechtfertigt sei. Ein höherer Flächenbedarf aufgrund Rollstuhlbenutzung lasse sich nicht eindeutig dem schwerbehinderten Menschen zuordnen, da auch die übrigen Haushaltsmitglieder von den großzügigeren Wohnverhältnissen profitieren würden, und auch in anderen Haushalten bestünden Unterschiede in der Nutzungsintensität, ohne dass dies zu einer Abweichung vom Kopfteilprinzip führe.

Gegen das ihnen am 16. Januar 2016 zugestellte Urteil haben die Kläger am 15. Februar 2016 unter Wiederholung ihres bisherigen Vorbringens Berufung eingelegt.

Zuvor hatte der Beklagte ihnen mit Bescheid vom 4. Februar 2016 nach Vorlage fehlender Nachweise eine Nachzahlung in Höhe von 509,10 EUR für den streitbefangenen Bewilligungszeitraum gewährt, welcher aus den nunmehr nachgewiesen (und bei den Klägern mit Anteilen von je ¼ berücksichtigten) Abschlägen für Wasser/Abwasser in Höhe von 50,66 EUR monatlich (ab März 2014: 42 EUR) und für Gas (248,76 EUR inkl. Nachzahlung im November 2013, 56 EUR in den Monaten Dezember 2013 bis April 2014) resultierte.

Die Kläger beantragen,

das Urteil des SG Osnabrück vom 13. Januar 2016 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 17. Dezember 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. April 2014 und des Änderungsbescheides vom 4. Februar 2016 zu verurteilen, ihnen für den Bewilligungszeitraum vom 1. Juli 2013 bis 30. April 2014 höhere Leistungen für Unterkunft und Heizung zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Prozessakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte Berufung der Kläger ist nicht begründet.

Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des SG Osnabrück vom 13. Januar 2016 ist zurückzuweisen, weil ihnen keine höheren Leistungen für Unterkunft und Heizung zustehen, als der Beklagte ihnen mit Bescheid vom 17. Dezember 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. April 2014 und des - nach § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in den Rechtsstreit einbezogenen - Änderungsbescheides vom 4. Februar 2016 zugebilligt hat.

Die Kläger begehren mit ihrer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage höhere als die ihnen zuletzt (mit Änderungsbescheid vom 4. Februar 2016) bewilligten Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II (zur Zulässigkeit der Beschränkung des Streitgegenstands auf die Leistungen für Unterkunft und Heizung vgl. nur Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 4. Juni 2014 - B 14 AS 42/13 R - juris Rn. 10 ff.). Sie gehören zum leistungsberechtigten Personenkreis nach dem SGB II, die Klägerin zu 2) gemäß § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II als erwerbsfähige Leistungsberechtigte und der Kläger zu 1) gemäß § 19 Abs. 1 S. 2 SGB II als nichterwerbsfähiger Leistungsberechtigter ohne vorrangigen Anspruch auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches.

Rechtsgrundlage des geltend gemachten Leistungsanspruchs ist § 19 Abs. 1 i. V. m. § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II, wonach beim Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt werden, soweit sie angemessen sind.

Der Beklagte hat nach vollständiger Vorlage der erforderlichen Belege nunmehr sämtliche Aufwendungen für die von den Klägern mit ihren Söhnen im streitbefangenen Zeitraum bewohnte Unterkunft anerkannt und bei der Berechnung der Leistungsansprüche berücksichtigt. Dabei hat er den Klägern zu Recht als ihre beiden Kopfteile nur die Hälfte der gesamten Aufwendungen bewilligt. Eine Abweichung vom Kopfteilprinzip ist entgegen deren Rechtsauffassung nicht gerechtfertigt.

Nach ständiger Rechtsprechung des BSG (vgl. z. B. Urteil vom 23. Mai 2013 - B 4 AS 67/12 R - juris Rn. 18 f.; zuletzt: Urteil vom 14. Februar 2018 - B 14 AS 17/17 R - juris Rn. 13 ff.), der der Senat folgt, sind die Kosten der Unterkunft im Regelfall unabhängig von Alter und Nutzungsintensität anteilig pro Kopf aufzuteilen, wenn Hilfebedürftige eine Unterkunft gemeinsam mit anderen Personen, insbesondere anderen Familienmitgliedern, nutzen. Dies gilt unabhängig davon, ob die Personen Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft sind oder nicht. Die individuelle Bedarfszuweisung nach Kopfteilen ist verwaltungspraktikabel und folgt der Überlegung, dass die gemeinsame Nutzung einer Wohnung durch mehrere Personen deren Unterkunftsbedarf insgesamt abdeckt und in aller Regel eine an der unterschiedlichen Intensität der Nutzung ausgerichtete Aufteilung der Aufwendungen für die Erfüllung des Grundbedürfnisses Wohnen nicht zulässt.

Bei der - in § 22 Abs. 1 SGB II nicht festgeschriebenen - Aufteilung nach Kopfteilen handelt es sich um eine generalisierende und typisierende Annahme aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität, die eine Abweichung im Einzelfall zulässt. Eine solche kann insbesondere aus bedarfsbezogenen Gründen geboten sein, z. B. wenn bei einem Mitglied der Bedarfsgemeinschaft aufgrund einer Sanktion die Leistungen für Unterkunft und Heizung weggefallen sind (vgl. zu derartigen Sonderfällen BSG a. a. O.). Derartige bedarfsbezogene Gründe für eine Abweichung vom Kopfteilprinzip sind vorliegend nicht ersichtlich. Zwar ist in der früheren sozialhilferechtlichen Rechtsprechung, an die die Rechtsprechung des BSG zu § 22 SGB II anknüpft, eine Abweichung vom Kopfteilprinzip auch dann für möglich gehalten worden, wenn der Hilfefall durch sozialhilferechtlich bedeutsame Umstände gekennzeichnet war, die ohne weiteres objektivierbar waren. Dies konnte etwa ein über das normale Maß hinausgehender Bedarf des Hilfesuchenden an Unterkunft sein, z. B. in Fällen von Behinderung oder Pflegebedürftigkeit (Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 21. Januar 1988 - 5 C 68/85 - juris Rn. 12). Dies setzt allerdings voraus, dass tatsächliche Aufwendungen nach den Umständen des Einzelfalls eindeutig dem z. B. wegen Behinderung oder Pflegebedürftigkeit spezifischen Unterkunftsbedarf eines bestimmten Bewohners zugeordnet werden können (vgl. Berlit in LPK-SGB II, 6. Aufl. 2017, § 22 Rn. 59). Daran fehlt es hier. Auf Nachfrage des SG zu einem etwaigen durch die Behinderung bedingten erhöhten Raumbedarf des Klägers zu 1) (Verfügung vom 6. Februar 2015) hat dieser mit Schriftsatz vom 9. März 2015 lediglich darauf verwiesen, dass ihm als behindertem Menschen eine Wohnfläche von 60 qm zustehe. Dieser Hinweis knüpft offensichtlich an die früher vertretene, allerdings vom BSG nicht bestätigte (vgl. Urteil vom 16. April 2013 - B 14 AS 28/12 R - juris Rn. 29) Auffassung einzelner Sozialgerichte an, die (bei der Ermittlung angemessener Unterkunftskosten relevante) abstrakt angemessene Wohnungsgröße sei im Falle einer Behinderung eines Haushaltsmitglieds zu erhöhen.

Abgesehen davon, dass vorliegend die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung in voller Höhe anerkannt sind und dementsprechend deren Angemessenheit nicht streitig ist, führt der Hinweis des Klägers zu 1) nicht weiter, da es für die hier streitige Frage nach der Verteilung der Kosten der Unterkunft allein maßgeblich ist, ob tatsächliche Aufwendungen entstehen, die dem spezifischen Bedarf des Klägers zu 1) eindeutig zugeordnet werden können. Zu denken wäre bei einem rollstuhlpflichtigen Leistungsberechtigten etwa an einen im Mietvertrag ausgewiesenen Mietanteil für eine behindertengerechte Einbauküche oder an einen Betriebskostenanteil für einen Fahrstuhl. Derartige abgrenzbare Kosten sind hier nicht ersichtlich und auch nicht geltend gemacht worden. Allein der Umstand, dass - was vorliegend noch nicht einmal vorgetragen worden ist - mit Rücksicht auf die Belange des rollstuhlpflichtigen Mitbewohners eine größere Wohnung angemietet worden ist, die dann allen Haushaltsmitgliedern gleichermaßen zur Verfügung steht, rechtfertigt eine Abweichung von Kopfteilprinzip nicht, da - wie das SG zutreffend ausgeführt hat - eine konkrete Zuordnung von (Mehr-)Kosten zum Unterkunftsbedarf des behinderten Leistungsberechtigten nicht möglich ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.