Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 12.10.2022, Az.: 3 A 1989/20

Flüchtlingsanerkennung; Gazastreifen; Ipso facto; Palästinensische Gebiete; UNRWA; Zu den Anforderungen an die "ipsp facto" - Flüchtlingsanerkennung. Hier: Flüchtling aus dem Gazastreifen.

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
12.10.2022
Aktenzeichen
3 A 1989/20
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 63333
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGOLDBG:2022:1012.3A1989.20.00

Amtlicher Leitsatz

Sind die Voraussetzungen des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG gegeben, ist einem Antragsteller ohne weitere Prüfung der Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG ipso facto die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, ohne dass dieser nachweisen muss, dass er in Bezug auf das Gebiet, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, eine begründete Furcht vor Verfolgung hat (vgl. EuGH, Urteil vom 3. März 2022 - C-349/20 - juris Rn. 50).

Tenor:

Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 6. Juli 2020 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand

Der Kläger ist staatenloser Palästinenser aus dem Gazastreifen. Er reiste am F. 2018 mit einem türkischen Touristenvisum aus Polen kommend in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 19. Februar 2018 einen Asylantrag.

Im Rahmen seiner persönlichen Anhörungen durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 9. März 2018 und am 18. Dezember 2019 trug der Kläger im Wesentlichen vor, er sei am 17. August 2017 aufgrund von Problemen mit der Hamas und einem zur Hamas gehörenden Onkel väterlicherseits zusammen mit seinem Bruder G. und seiner Schwester H. aus dem Gazastreifen geflohen. Im Jahr 2008 sei er einmal von der Hamas beschossen worden und im Jahr 2010 sei ihm von Anhängern der Hamas ein Arm gebrochen worden. Er habe an der Universität in Gaza Arabisch studiert und sei Lehrer gewesen. Bei einigen Schulkindern habe er bewirken können, dass sich die Ideologie der Hamas bei diesen nicht festgesetzt habe. Von seinen Äußerungen gegenüber den Schülern habe es Aufnahmen gegeben, welche in der Moschee vorgespielt worden seien und wegen derer er auch von der Hamas festgenommen und im Jahr 2015 von der Schule geworfen worden sei. Danach habe er Geld verdient, indem er Texte korrigiert und Privatunterricht gegeben habe. Seine Tante sei Journalistin gewesen und sein Bruder habe Fotos gefertigt. Sein Bruder und seine Schwester hätten Artikel über die Hamas geschrieben, welche in den sozialen Netzwerken verbreitet worden seien. Er selbst habe auch bei diesen Texten sprachliche Korrekturen durchgeführt. Dies habe zu Konflikten mit der Hamas geführt, er sei inhaftiert und geschlagen worden. Nach der Ausreise seiner Mutter und seines jüngeren Bruders im Dezember 2015 hätten Angehörige der Hamas zusammen mit seinem Onkel, der ein Angehöriger der Hamas sei, ihn zu Hause aufgesucht. Sie hätten zum einen gefragt, warum seine Mutter ohne Genehmigung der Hamas ausgereist sei. Zum anderen hätten sie seinen kleinen Bruder, der bereits mit seiner Mutter das Land verlassen gehabt habe, rekrutieren wollen. In diesem Zusammenhang habe es eine Auseinandersetzung gegeben, infolge derer er zusammen mit seinem Bruder G. für zwei Tage inhaftiert, geschlagen und getreten worden sei. Im Februar 2016 habe ein Spitzel mitbekommen, dass sein Bruder Bilder und Berichte von zerstörten Häusern auf seinem Laptop gehabt habe. Daraufhin hätten Angehörige der Hamas seine Familie erneut zu Hause aufgesucht und sowohl ihn als auch seinen Bruder nochmals für zwei bis drei Tage inhaftiert. Beide seien wieder geschlagen worden. Dies habe sich nach der Freilassung noch zwei bis dreimal wiederholt. Im April 2016 habe sein Onkel seine Schwester zwangsverheiraten wollen und seinen Vater überredet, eine weitere Frau zu heiraten. In der Folgezeit, etwa ein halbes Jahr vor seiner Flucht, sei er zusammen mit seinem Bruder und seiner Schwester von dem Onkel aus dem elterlichen Haus geworfen worden. Er sei mit seinen Geschwistern daraufhin kurzzeitig zu seiner Tante mütterlicherseits gegangen, welche ihnen über eine Hilfsorganisation eine Wohnung vermittelt habe, in der sie etwa ein halbes Jahr bis zur Ausreise gelebt hätten. Er sei von seinem Onkel auf Dauer telefonisch dahingehend bedroht worden, dass dieser ihn im Falle einer Ausreise töten werde. Eigentlich habe er schon viel früher den Gazastreifen verlassen wollen, dieser Plan sei jedoch daran gescheitert, dass er zum einen nicht genug Geld gehabt habe und zum anderen die Grenzen nicht passierbar gewesen seien. Wenn sein Onkel ihn erwischt hätte, hätte er von ihm verlangt, sich der Hamas anzuschließen. Er habe aber nicht allein mit seinem Onkel Probleme gehabt, sondern mit der Hamas im Allgemeinen, vor allem aufgrund deren Gesinnung. Es handele sich um Fanatiker und Terroristen. Er sei nicht gezwungen worden, sich der Hamas als Kämpfer anzuschließen, er sei jedoch mehrfach gefragt worden. Mit Hilfe seiner Tante habe er ein Visum für die Türkei bekommen.

Mit Bescheid vom 6. Juli 2020 lehnte das Bundesamt die Anträge auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter ab und erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu. Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen. Der Kläger wurde unter Erlass einer Abschiebungsandrohung zur Ausreise in das palästinensische Autonomiegebiet - Gazastreifen - aufgefordert. Zur Begründung führte das Bundesamt aus, die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter lägen nicht vor. Soweit der Kläger vorgetragen habe, er sei im Jahr 2008 von der Hamas beschossen worden und Anhänger der Hamas hätten ihm im Jahr 2010 im Zusammenhang mit einer Auseinandersetzung einen Arm gebrochen, seien diese Vorgänge im Hinblick auf die fehlende zeitliche Verknüpfung mit der Ausreise nicht als zu berücksichtigende Verfolgungshandlungen geeignet. Soweit er vorgetragen habe, er habe Korrekturen an Hamas-kritischen Texten vorgenommen, sei zu prüfen, ob möglicherweise eine Verfolgung wegen seiner politischen Überzeugung vorliegen könne. Der Kläger habe jedoch nichts dafür vorgetragen, dass ihm seine Tätigkeit als Korrekturleser im Zusammenhang mit möglicherweise Hamas-kritischen Artikeln vorgeworfen werde, sondern er habe gesagt, er sei 2015 verhaftet worden, da die Hamas nach dem Verbleib seiner Mutter gefragt habe und sein jüngerer Bruder habe rekrutiert werden sollen. Auch hinsichtlich der weiteren Verhaftung sei ihm keine Hamas-kritische Aktivität vorgeworfen worden. Soweit er vorgetragen habe, er habe während seiner Zeit als Lehrer versucht, bei den von ihm unterrichteten Schülern gegen die Ideologie der Hamas zu argumentieren, habe dies nur zu einer Entlassung aus dem Schuldienst und nicht zu weitergehenden Repressalien geführt. Es spreche auch dagegen, dass der Kläger aufgrund seiner Tätigkeit als Korrekturleser verhaftet worden sei, weil sein Bruder G. im Jahr 2017 14 Tage zusammen mit einem Freund inhaftiert worden sei und dieser nicht berichtet habe, dass der Kläger ebenfalls verhaftet worden sei. Soweit der Kläger vortrage, sein Onkel würde von ihm verlangen, sich der Hamas anzuschließen, sei dies nicht beachtlich wahrscheinlich. Der Kläger habe nämlich selbst eingeräumt, er sei nie gezwungen worden, sich bei der Hamas als Kämpfer zu melden, sondern habe den Anwerbungsversuchen der Hamas argumentativ gut entgegentreten können. Nach den Erkenntnissen des Bundesamtes habe ein einfaches Mitglied der Zivilbevölkerung auch keine Verfolgung durch die Hamas insoweit zu befürchten. Es sei auch nicht glaubhaft, dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Gazastreifen durch seinen Onkel getötet werde, da bereits nicht davon auszugehen sei, dass der Kläger unbemerkt von seinem Onkel das Land habe verlassen können. Dies gelte insbesondere, da er Schmiergelder an die Hamas zu zahlen gehabt habe. Hinzukomme, dass er nach dem Rauswurf aus dem elterlichen Haus noch sechs Monate unbehelligt habe leben können, ohne dass ihm in dieser Zeit etwas passiert sei. Gegen eine begründete Furcht des Klägers vor Verfolgung spreche auch, dass er vorgetragen habe, er habe schon viel früher den Gazastreifen verlassen wollen, dies sei ihm jedoch aufgrund mangelnder finanzieller Mittel und weil die Grenzen geschlossen gewesen seien nicht möglich gewesen. Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes lägen nicht vor. Dem Kläger drohe in seinem Herkunftsland weder die Vollstreckung oder Verhängung der Todesstrafe, noch sei er nach Maßgabe des § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG schutzberechtigt. Wie bereits ausgeführt, drohe ihm nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Tötung oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung durch seinen Onkel oder sonstige Angehörige der Hamas. Der Kläger müsste auch keine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit befürchten, weil er als Zivilperson nicht von willkürlicher Gewalt im Rahmen eines in seinem Herkunftsland bestehenden innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes betroffen sei. Zwar sei davon auszugehen, dass im Gazastreifen ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt bestehe oder zumindest nicht ausgeschlossen werden könne. Der vorliegend festgestellte Grad willkürlicher Gewalt erreiche jedoch nicht das für eine Schutzgewährung erforderliche hohe Niveau, demzufolge jedem Antragsteller allein wegen seiner Anwesenheit im Konfliktgebiet ohne weiteres Schutz nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG gewährt werden müsste. Es fehle insoweit hinsichtlich der Auseinandersetzungen zwischen Hamas und Fatah als auch bei denen zwischen den israelischen Streitkräften und der Hamas an der erforderlichen Gefahrendichte. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG seien ebenfalls nicht gegeben.

Der Kläger hat am 27. Juli 2020 Klage erhoben. Er trägt vor: Er könne bereits die deklaratorische Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG beanspruchen. Die Beklagte lasse den Bewertungsmaßstab der ipso facto- Anerkennung gänzlich unberücksichtigt. Vor seiner Ausreise habe er den Schutz und die Leistungen des UNRWA in Anspruch genommen, er sei dort auch registriert. Aufgrund einer sehr unsicheren persönlichen Lage sei er zum Verlassen des Gazastreifens gezwungen gewesen. Er könne auch den Schutz des UNRWA im entscheidungserheblichen Zeitpunkt nicht erneut in Anspruch nehmen. Er sei wiederholt von der Hamas wegen seiner politischen Ansichten festgenommen und körperlich misshandelt worden. Zudem sei er wiederholt Übergriffen und Bedrohungen seitens eines Onkels, der ein hoher Funktionär bei den so genannten Kassam-Brigaden sei, ausgesetzt gewesen. Dieser habe gedroht, ihn umzubringen. Die Verfolgungsgefahr durch die Hamas und seinen Onkel halte an. Er sei bereits in der Vergangenheit in den Fokus der Hamas geraten. Ein Freund habe ihm auch mitgeteilt, dass sein Onkel zunächst nichts von seiner Ausreise gewusst habe, später aber Kenntnis davon erlangt habe. Auch sei bekannt, dass nach Gaza zurückkehrende Palästinenser bei Einreise einer Befragung durch Hamas-Behörden unterworfen würden. Hierbei drohten Menschenrechtsverletzungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Darüber hinaus spreche auch die allgemeine Konflikt- und Sicherheitslage gegen eine Möglichkeit der erneuten Inanspruchnahme des Beistandes des UNRWA. Es seien aber auch die allgemeinen Voraussetzungen des § 3 AsylG gegeben. Es liege ein Verfolgungsgrund vor, da ihm eine unliebsame politische Ansicht zumindest nachgesagt worden sei. Dafür spreche auch, dass er von der Schule geworfen worden sei. Die erlittene Bedrohung mit dem Tode stelle zudem bereits eine Verfolgungshandlung dar. Er sei mithin vorverfolgt ausgereist, so dass ihm die Beweislastumkehr zugutekomme. Die Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie sei nicht zu widerlegen. Nach dem Rauswurf aus seinem Elternhaus habe er mit seinen Geschwistern wiederholt den Aufenthaltsort gewechselt und sich versteckt. Wie genau seine Tante die Ausreise organisiert habe, wisse er nicht. Bei der Bewertung der Verfolgungsgefahr sei eine Gesamtschau des jeweiligen Lebenssachverhalts einschließlich der politischen Situation im Herkunftsland notwendig, wobei die Häufung möglicher politischer Verfolgungsgründe für eine erhöhte Verfolgungswahrscheinlichkeit und damit für die Begründetheit einer darauf beruhenden Verfolgungsfurcht des Betroffenen sprechen könne. So entstamme er einer gebildeten Familie, die zur alten Fatah- Regierung gehöre, sein Vater habe bis zur Machtübernahme durch die Hamas in einem Ministerium der Fatah gearbeitet. Er habe sich zudem wiederholt offen gegen die Ideologie der Hamas engagiert und habe mehrere nahe Angehörige, die von der Hamas verfolgt worden seien. Zudem sei er auch subsidiär schutzberechtigt.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 6. Juli 2020 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise, ihm subsidiären Schutz nach § 4 AsylG zuzuerkennen,

weiter hilfsweise, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf die Palästinensischen Autonomiegebiete festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verteidigt den angefochtenen Bescheid.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 6. Juli 2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Nach § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG (vgl. auch Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011) ist ein Ausländer nicht Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Art. 1 Abschn. D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (im Folgenden: GFK) genießt. Wird ein solcher Schutz oder Beistand nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, ist § 3 Abs. 1 und 2 AsylG gemäß § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG anwendbar. Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) fällt derzeit als einzige Organisation in den Anwendungsbereich dieser Bestimmungen, die Art. 1 Abschn. D GFK sowie Art. 12 Abs. 1 Buchst. a RL 2011/95/EU aufgreifen bzw. umsetzen und die gerade im Hinblick auf die besondere Lage der - regelmäßig staatenlosen - Palästina-Flüchtlinge geschaffen worden sind, die den Beistand oder Schutz des UNRWA genießen (vgl. EuGH, Urteil vom 17. Juni 2010 - C-31/09 - juris; BVerwG, Urteil vom 27. April 2021 - 1 C 2/21 - juris Rn. 12). Sein gegenwärtiges Mandat endet am 30. Juni 2023 (Ziff. 7 der Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2019 - A/RES/74/83 S. 3).

Die sog. Ausschlussklausel des § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG verfolgt im Einklang mit Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 RL 2011/95/EU und Art. 1 Abschn. D Satz 1 GFK das Ziel, alle diejenigen von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auszuschließen, die unter dem Beistand des UNRWA stehen. Im Lichte dieser Zielsetzung genügen weder die bloße Abwesenheit von dem Einsatzgebiet des UNRWA noch das freiwillige Verlassen dieses Einsatzgebiets oder der freiwillige Verzicht auf Schutz und Beistand des Hilfswerks, um den in § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG vorgesehenen Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling gemäß Satz 2 der Vorschrift zu beenden (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2021 - 1 C 2/21 - juris Rn. 17 ff.; EuGH, Urteile vom 19. Dezember 2012 - C-364/11 - Rn. 49 ff. und vom 13. Januar 2021 - C-507/19 - Rn. 69 ff.).

Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen der Ausschlussklausel des § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG, da er Schutz und Beistand des UNRWA genossen hat.

Die konkrete Bedeutung der alternativen Betreuungsformen "Schutz" und "Beistand" bestimmt sich nach der im Rahmen seines Auftrags wahrgenommenen Tätigkeit des UNRWA. Maßgebend ist, ob der Betroffene der Personengruppe angehört, deren Betreuung das UNRWA entsprechend seinem Mandat übernommen hat. Von dieser sind indes nur diejenigen Personen erfasst, die die Hilfe des UNRWA tatsächlich in Anspruch nehmen. Die betreffenden Bestimmungen sind eng auszulegen und erfassen daher nicht auch Personen, die lediglich berechtigt sind oder waren, den Schutz oder Beistand dieses Hilfswerks in Anspruch zu nehmen, ohne jedoch von diesem Recht Gebrauch zu machen. Als ausreichender Nachweis der tatsächlichen Inanspruchnahme des Schutzes oder Beistands ist die Registrierung bei dem UNRWA anzusehen (EuGH, Urteile vom 17. Juni 2010 - C-31/09 - juris Rn. 51f. und vom 13. Januar 2021 - C-507/19 - juris Rn. 48). Der Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling liegt nicht nur bei Personen vor, die zurzeit den Beistand des UNRWA genießen, sondern auch bei solchen, die diesen Beistand kurz vor Einreichung eines Asylantrags in einem Mitgliedstaat tatsächlich in Anspruch genommen haben (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2012 - C 364/11 - juris Rn. 52; BVerwG, Urteil vom 27. April 2021 - 1 C 2/21 - juris Rn. 14).

Nach diesen Maßstäben hat der Kläger, welcher sich vor seiner Ausreise im Einsatzgebiet des UNRWA - dem Gazastreifen - aufgehalten hat, grundsätzlich über den Schutz und Beistand des UNRWA verfügt. Die Bescheinigung der Registrierung durch das UNRWA vom 17. September 2014 hat der Kläger im Verfahren vorgelegt und er hat auch vorgetragen, etwa durch den Besuch einer vom UNRWA betriebenen Schule dessen Leistungen in Anspruch genommen zu haben.

Für den Kläger liegen aber die Voraussetzungen der sog. Einschlussklausel des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG vor. Diese Vorschrift regelt, dass, wenn ein Schutz oder Beistand im Sinne des Satzes 1 nicht länger gewährt wird, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, § 3 Abs. 1 und 2 AsylG gemäß § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG anwendbar ist .

Sind die Voraussetzungen des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG gegeben, ist einem Antragsteller ohne weitere Prüfung der Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG ipso facto die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, ohne dass dieser nachweisen muss, dass er in Bezug auf das Gebiet, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, eine begründete Furcht vor Verfolgung hat (vgl. EuGH, Urteil vom 3. März 2022 - C-349/20 - juris Rn. 50). Erforderlich ist es jedoch, dass die betroffene Person einen Antrag auf Anerkennung als Flüchtling stellt, der von dem zuständigen Mitgliedstaat zu prüfen ist (vgl. EuGH, a.a.O. Rn. 51), weil er den Schutz und Beistand des UNRWA verloren hat.

Das Gericht ist zu der Überzeugung gelangt, dass dem Kläger sowohl vor seiner Ausreise als auch im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts nicht länger Schutz und Beistand durch das UNRWA gewährt wurde bzw. wird, ohne dass seine Lage gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist. Die Lage der palästinensischen Flüchtlinge ist auch viele Jahrzehnte nach der Gründung des Hilfswerks bis heute nicht "endgültig geklärt" (vgl. OVG des Saarlandes, Urteil vom 5. Oktober 2021 - 2 A 153/21 - juris Rn. 37).

Einem Staatenlosen palästinensischer Herkunft wird im Sinne des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG Schutz oder Beistand im Sinne des § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG nicht länger gewährt, wenn sich auf der Grundlage einer individuellen Beurteilung aller maßgeblichen Umstände herausstellt, dass er sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet und es dem UNRWA, um dessen Beistand er ersucht hat, unmöglich ist, ihm Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der Aufgabe des UNRWA im Einklang stehen, sodass er sich aufgrund von Umständen, die von seinem Willen unabhängig sind, dazu gezwungen sieht, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen (vgl. EuGH, Urteile vom 19. Dezember 2012 - C-364/11 - Rn. 59 und vom 13. Januar 2021 - C-507/19 - Rn. 51, 69 ff.). Die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG verfolgt im Einklang mit Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 RL 2011/95/EU und Art. 1 Abschn. D Satz 1 GFK das Ziel, alle diejenigen von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auszuschließen, die den Beistand des UNRWA genießen. Im Lichte dieser Zielsetzung genügen weder die bloße Abwesenheit von dem Einsatzgebiet des UNRWA noch das freiwillige Verlassen dieses Einsatzgebiets oder der freiwillige Verzicht auf Schutz und Beistand des Hilfswerks, um den in § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG vorgesehenen Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling gemäß Satz 2 der Vorschrift zu beenden (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2021 - 1 C 2/21 - juris Rn. 18; kritisch zu der Voraussetzung des unfreiwilligen Verlassens des UNRWA-Gebiets VG Köln, Urteil vom 11. Juli 2022 - 20 K 3032/21.A. - juris mit Verweis auf die Ausführungen des EuGH im Urteil vom 3. März 2022 - C-349/20 - juris).

Nach Maßgabe dessen hat sich der Kläger vor seiner Ausreise aus dem Gazastreifen in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befunden und es war dem UNRWA nicht möglich, für ihn dort die Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der Aufgabenerfüllung des UNRWA in Einklang stehen. Dies ergibt sich aus einer individuellen Prüfung aller maßgeblichen Umstände (vgl. EuGH, Urteil vom 13. Januar 2021 - C 507/19 - juris Rn. 55). Für den Kläger ist der Schutz des UNRWA im Gazastreifen aus Gründen entfallen, welche von seinem Willen unabhängig waren und er hat sich gezwungen gesehen, den Gazastreifen zu verlassen.

Die sehr unsichere persönliche Lage des Klägers ergibt sich bereits ungeachtet der zusätzlich bestehenden schwierigen Sicherheitslage und der prekären humanitären Situation im Gazastreifen aus seinem glaubhaften Vorbringen hinsichtlich der Bedrohung durch die Hamas, ohne dass es aber wie bereits dargelegt erforderlich ist, an dieser Stelle eine die Anforderungen des § 3 Abs. 1 AsylG erfüllende Verfolgung nachzuweisen (vgl. EuGH, Urteil vom 3. März 2022 - C-349/20 - juris Rn. 50; OVG des Saarlandes, Urteil vom 5. Oktober 2021 - 2 A 153/21 - juris Rn. 36). Aber auch wenn der Nachweis des Vorliegens der Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG nicht erforderlich ist, folgt hier dennoch aus der im vorliegenden Einzelfall dargelegten begründeten Furcht vor individueller Verfolgung zugleich die Unfreiwilligkeit der Ausreise des Klägers (vgl. Bay.VGH, Beschluss vom 14. September 2022 - 15 ZB 22.30934 - juris Rn. 6).

Der Kläger hat überzeugend dargelegt, sich vor seiner Ausreise aufgrund von Schwierigkeiten mit der Hamas in einer äußerst gefährlichen Situation befunden zu haben. So hat er vorgetragen, dass er nicht nur Hamas-kritische Texte gemeinsam mit seinen Geschwistern, seiner Tante oder auch alleine verfasst und diese sodann veröffentlicht habe, sondern dass er wegen dieser Tätigkeit auch über mehrere Jahre hinweg mehrfach verhaftet und misshandelt worden sei. Darüber hinaus sei es ihm aufgrund seiner politischen Einstellung verwehrt worden, als Lehrer an staatlichen Schulen im Gazastreifen tätig zu sein, und er sei überdies konkret und unmissverständlich von seinem Onkel - einem General der Kassam-Brigaden - mit dem Tode bedroht worden.

Das dahingehende Vorbringen des Klägers war überaus überzeugend, widerspruchsfrei und nachvollziehbar. Er hat auf das Gericht einen äußerst glaubwürdigen Eindruck gemacht und war sichtlich darum bemüht, seine bereits gegenüber dem Bundesamt getätigten Angaben zu konkretisieren, ohne diese zu steigern. Insbesondere stimmt sein Vorbringen mit den ebenfalls sehr ausführlichen Angaben seiner Geschwister in deren eigenen Asylverfahren überein, wie sich aus den vom Gericht beigezogenen Verwaltungsvorgängen ergibt. Danach ist das Gericht davon überzeugt, dass dem Kläger tatsächlich vor seiner Ausreise eine Gefahr für Leib und Leben aufgrund seiner politischen Einstellung gedroht hat, welche zu einer sehr unsicheren persönlichen Lage geführt hat.

Zu dieser sehr unsicheren persönlichen Lage kommt die schwierige Sicherheits- und humanitäre Lage im Gazastreifen hinzu, zu welcher das VG Lüneburg ausgeführt hat (Urteil vom 22. April 2022 - 4 A 136/20 - V.n.b.):

"Seit dem Abzug Israels aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 kam es zu wiederholt zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Israel und den palästinensischen bewaffneten Gruppierungen in Gaza, so etwa in den Jahren 2008, 2012, 2014 und zuletzt im Mai 2021. Diese Auseinandersetzungen hatten verheerenden Einfluss auf die Zivilbevölkerung mit zivilen Opfern, Binnenvertreibungen, der Zerstörung von Häusern und Infrastruktur und der Unterbrechung von grundlegenden Dienstleistungen, was die bereits seit langem angespannte humanitäre Lage und die instabilen Lebensbedingungen verschlimmerte. Der letzte Ausbruch von Kampfhandlungen begann am 10. Mai 2021 als Antwort auf Massenunruhen im besetzten Westjordanland inklusive Ostjerusalem. Die Eskalation der Kampfhandlungen umfasste die Bombardierung aus der Luft und mit Hilfe von Artillerie durch israelische Streitkräfte auf dichtbevölkerte Gebiete in Gaza, ebenso wie willkürliche Angriffe unter Verwendung von Raketen und Mörsern auf Israel durch militante palästinensische Gruppen. Hierbei wurden mindestens 130 Zivilisten getötet, darunter 67 Kinder, und über 2.210 Zivilpersonen verletzt, hierunter 685 Kinder. Auf dem Höhepunkt der Kampfhandlungen waren 113.000 Zivilpersonen binnenvertrieben und suchten Schutz in den Schulen des UNRWA, in informellen Unterkünften oder bei Verwandten. Im Dezember 2021 waren noch etwa 8.250 Personen binnenvertrieben, da ihre Wohnstätten zerstört oder erheblich beschädigt waren Am 21. März 2021 schlossen Israel und die Hamas einen Waffenstillstand, der weiterhin in Kraft ist. Die Sicherheitslage bleibt volatil. Gelegentliche Raketenangriffe von Gaza nach Israel und Vergeltungsmaßnahmen von Israel in Form von Luftangriffen auf Gaza finden dennoch statt. Erneute Spannungen wurden infolge der Wiederaufnahme von Protesten am Grenzzaun (Great March of Return) im August 2021 gemeldet, wobei durch israelisches Gewehrfeuer Protestierende am Grenzzaun getötet und verletzt wurden (UNHCR, UNHCR Position on Returns to Gaza, März 2022, S. 4 ff.). Im Jahr 2022 wurden im Gazastreifen bislang keine Palästinenser getötet und lediglich eine Person verletzt. Im Jahr 2021 sollen nach Angaben von OCHA demgegenüber insgesamt 263 Personen getötet und 2.367 Personen verletzt worden sein. Im Jahr 2020 waren es 6 Todesfälle und 56 Verletzte (OCHA, Protection of Civilians, occupied Palestinian teritory, 22. März-4. April 2022).

Gaza befindet sich seit Jahren in einem wirtschaftlichen Abschwung, der seine Ursache hauptsächlich in der fortgesetzten Land-, Luft- und Seeblockade durch Israel hat und der Bevölkerung den Zugang zu adäquatem Wohnraum, Bildung, Wasser und Hygiene vorenthält. Hinzu kommen wiederholt aufflammende Unruhen und die fortbestehende intra-palästinensische politische Trennung. Aufgrund dieser sich überschneidenden Probleme und deren Verstärkung durch die Covid-19-Pandemie hat sich die humanitäre Lage im Verlauf des Jahres 2021 erheblich verschlechtert (UNHCR, UNHCR Position on Returns to Gaza, März 2022, S. 14).

Über 1,47 Millionen palästinensischer Flüchtlinge sind beim UNRWA in Gaza registriert, was etwa 70% der Gesamtbevölkerung von Gaza ausmacht. Von diesen Flüchtlingen lebt mehr als die Hälfte in den acht anerkannten palästinensischen Flüchtlingslagern, die eine der höchsten Bevölkerungsdichten der Welt haben. Das UNRWA ist weder verantwortlich für die Verwaltung der Flüchtlingslager noch für deren Sicherheit. Die Flüchtlingslager, von denen sich viele zu urbanen Zentren entwickelt haben, zeichnen sich durch schwerwiegende Überbevölkerung, Lebensbedingungen unter dem Bevölkerungsdurchschnitt, soziale Probleme aufgrund von überlasteter Infrastruktur, hohe Arbeitslosigkeit, Armut und Lebensmittelunsicherheit, verschmutzte Wasservorräte, Umwelt- und Gesundheitsrisiken, einen Mangel an Privatsphäre sowie eng begrenzte Möglichkeiten für sichere Spiel- und Freizeitmöglichkeiten aus. Infolge der Unruhen im Mai 2021 wurden nach vorläufiger Beurteilung des UNRWA 2.300 Unterkünfte von etwa 1.400 Flüchtlingsfamilien zerstört oder derart beschädigt, dass sie unbewohnbar sind und einer vollständigen Neuerrichtung bedürfen. Weitere 1.400 Flüchtlingsunterkünfte sind nach dieser Schätzung reparaturbedürftig. Das UNRWA bietet eine schulische Grundausbildung, eine medizinische Grundversorgung, Hilfs- und Sozialdienste, Mikrokredite und Nothilfe für registrierte Flüchtlinge in Gaza. Die Grundbildung sowie die primäre Gesundheitsversorgung gewährt das UNRWA nach dem Prinzip der Universalität unabhängig davon, ob die Begünstigten innerhalb oder außerhalb der UNRWA-Flüchtlingslager leben. Für andere Formen der Unterstützung werden demgegenüber Förderfähigkeitskriterien angewendet. In Konfliktsituationen kann das UNRWA auch Nicht-Palästinaflüchtlinge, die dringend medizinischer Versorgung bedürfen, unterstützen. Akute und chronische medizinische Bedürfnisse, die einer tertiären Behandlung bedürfen, werden in die staatlichen Krankenhäuser überwiesen, die von der durch Israel veranlassten Blockade, den wiederauftretenden Unruhen und der Covid-19-Pandemie stark betroffen waren. Das UNRWA arbeitet mit NGOs und Privatkrankenhäusern zusammen, um den Flüchtlingen Krankenhausbehandlungen und eine limitierte Anzahl chirurgischer Eingriffe anzubieten. Bereitgestellte Gelder stehen zur Verfügung. Das UNRWA unterhält eine Liste der wichtigsten Arzneimittel (Essential Drug List) und bietet Zugang zu einigen handelsüblichen pharmazeutischen Produkten und Medikamenten in Abhängigkeit von zur Verfügung gestellten Geld- und Sachspenden. Das Angebot von Medikamenten, die durch das UNRWA zur Verfügung gestellt werden, ist nicht vollständig und umfasst möglicherweise nicht alle Erkrankungen. Die Mehrheit der palästinensischen Flüchtlinge ist aufgrund der weiteren Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen und einer Verringerung ihrer Anpassungsfähigkeiten aufgrund der herrschenden Covid-19-Pandemie zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse noch abhängiger von den Unterstützungsleistungen des UNRWA geworden. Der Umfang der Unterstützungsleistungen, die das UN-RWA zur Verfügung stellen kann, ist jedoch abhängig von den finanziellen Unterstützungsleistungen, die das UNRWA erhält und entspricht nicht immer den Bedürfnissen der palästinensischen Flüchtlinge. Fortgesetzte Finanzierungslücken bedrohen die Nachhaltigkeit der Unterstützungsleistungen des UNRWA und beschränken die Nothilfeaktivitäten, insbesondere Lebensmittel- und finanzielle Unterstützung. Die prekäre finanzielle Situation bedroht auch die Existenz der 12.800 Mitarbeiter des UNRWA in Gaza, wo das Hilfswerk nach dem öffentlichen Sektor der größte Arbeitgeber ist (UNHCR, UNHCR Position on Returns to Gaza, März 2022, S. 23 f.)."

Angesichts dieser Ausführungen, denen sich das Gericht unter Würdigung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel anschließt, ist das Gericht davon überzeugt, dass es dem UNRWA nicht möglich gewesen ist, dem Kläger angesichts seiner unsicheren persönlichen Lage im Zeitpunkt der Ausreise im Gazastreifen weiterhin Schutz und Beistand zu bieten, so dass der Kläger gezwungen gewesen ist, den Gazastreifen zu verlassen.

Hinsichtlich der Frage, ob das Verlassen in diesem Sinne unfreiwillig erfolgt ist, ist in räumlicher Hinsicht aber auf das gesamte - die fünf Operationsgebiete Gazastreifen, Westjordanland (einschließlich Ost-Jerusalem), Jordanien, Libanon und Syrien umfassende - Einsatzgebiet des UNRWA abzustellen (vgl. EuGH, Urteil vom 13. Januar 2021 - C-507/19 Rn. 47, 53 f., 64-67). Die Feststellung, Schutz oder Beistand des UNRWA würden im Sinne des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG nicht länger gewährt, ist daher nicht schon dann gerechtfertigt, wenn sich der Staatenlose palästinensischer Herkunft aufgrund von Umständen, die von seinem Willen unabhängig sind, gezwungen sieht, ein bestimmtes Operationsgebiet des UNRWA zu verlassen. In diesem Fall bedarf es vielmehr zusätzlich der Feststellung, dass der Staatenlose auch in kein anderes Operationsgebiet einreisen kann, um den Schutz oder Beistand des UNRWA konkret in Anspruch zu nehmen; andernfalls ist seine Entscheidung, das Einsatzgebiet (insgesamt) zu verlassen, nicht unfreiwillig (vgl. EuGH, Urteil vom 13. Januar 2021 - C-507/19 - Rn. 72). Diese Feststellung ist auf der Grundlage einer individuellen Beurteilung sämtlicher Umstände des konkreten Einzelfalles zu treffen (EuGH, Urteile vom 25. Juli 2018 - C-585/16 - Rn. 134 f. und vom 13. Januar 2021 - C-507/19 - Rn. 63 und 67).

Ob ein Staatenloser palästinensischer Herkunft Zugang zu Schutz oder Beistand des UNRWA hat, hängt zum einen von der konkreten Möglichkeit dieses Staatenlosen ab, in ein Operationsgebiet des UNRWA einzureisen. Allein der Status "Palästinaflüchtling im Nahen Osten" berechtigt die Inhaber nicht zur Einreise in andere Operationsgebiete ohne vorherige Einreiseerlaubnis des betreffenden Zielstaates. Schutz und Beistand des UNRWA setzen vielmehr notwendig voraus, dass die Aufnahmegebietskörperschaft nicht nur die Tätigkeit des UNRWA zulässt, sondern auch den von diesem betreuten Personen die Einreise und den Aufenthalt auf ihrem Territorium gestattet (BVerwG, Urteil vom 21. Januar 1992 - 1 C 21.87 - juris Rn. 27). Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn der betroffene Staatenlose in einem Staat oder autonomen Gebiet, zu dem ein Operationsgebiet des UNRWA gehört, Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels hat. Besteht ein solcher Anspruch nicht, so können das Unterhalten familiärer Beziehungen oder das vormalige Bestehen eines tatsächlichen oder gewöhnlichen Aufenthalts in einem bestimmten Operationsgebiet des Einsatzgebiets des UNRWA eine entsprechende Einreisemöglichkeit nahelegen (vgl. EuGH, Urteil vom 13. Januar 2021 - C-507/19 - Rn. 60 f.). Zu berücksichtigen sind im Übrigen sämtliche Umstände, die - wie Erklärungen oder Praktiken der Behörden der genannten Staaten oder Gebiete - Aufschluss über die Haltung gegenüber Staatenlosen palästinensischer Herkunft geben, insbesondere, wenn durch diese Erklärungen und Praktiken die Absicht zum Ausdruck gebracht wird, die Anwesenheit dieser Staatenlosen in ihrem Gebiet nicht länger zu dulden, sofern diese über kein Aufenthaltsrecht verfügen (EuGH, Urteil vom 13. Januar 2021 - C-507/19 - Rn. 62). Zum anderen muss es dem Staatenlosen möglich sein, sich in dem betreffenden Gebiet in Sicherheit und unter menschenwürdigen Lebensbedingungen aufzuhalten (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2021 - 1 C 2/21 - juris Rn. 21; EuGH, Urteile vom 25. Juli 2018 - C-585/16 - Rn. 134, 140 und vom 13. Januar 2021 - C-507/19 - Rn. 54 ff., 67).

Dem Kläger war es unter Berücksichtigung dieser Grundsätze auch nicht möglich, vor seiner Flucht in die anderen Operationsgebiete des UNRWA auszuweichen.

Das UNRWA kann seinerseits nicht selbständig den Zugang der palästinensischen Schutzsuchenden zu den zu ihrem Operationsgebiet gehörenden Staaten regeln oder legitimieren. Allein aus der Anwesenheit einer berechtigten Person in einem bestimmten zum Einsatzgebiet der Organisation gehörenden Staat und - möglicherweise - der Gewährung von Unterstützung und Schutz seitens des Hilfswerks folgt noch kein Aufenthaltsrecht in dem jeweiligen Land. Ein solches ist allein Gegenstand der jeweiligen staatlichen Vorgaben. Eine Aufnahmebereitschaft der anderen Einsatzgebiete ist derzeit weder rechtlich gesichert, noch uneingeschränkt, dauerhaft oder voraussetzungslos gewährleistet; zudem kann dort selbst ein einmal gewährter Aufenthalt wieder entzogen werden kann (vgl. OVG des Saarlandes, Urteil vom 5. Oktober 2021 - 2 A 153/21 - juris Rn. 42).

Die Einreise in das Westjordanland wäre dem Kläger rein praktisch nicht möglich gewesen (vgl. zur eingeschränkten Bewegungsfreiheit der Einwohner des Gazastreifens BfA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gaza, 29. April 2020, S. 29). Auf einen Aufenthalt in Syrien, welches seit Jahren von kriegerischen Auseinandersetzungen erschüttert wird und dessen Einwohner selbst in der Regel einen Schutzstatus in der Bundesrepublik Deutschland erhalten, ist der Kläger ebenso wenig zu verweisen wie auf eine Einreise in den Libanon, da nicht nur davon auszugehen ist, dass das UNRWA den palästinensischen Flüchtlingen dort derzeit keinen Schutz oder Beistand leisten kann, sondern die Lage der im Libanon lebenden palästinensischen Flüchtlinge auch bereits im Zeitpunkt der Ausreise des Klägers äußerst prekär gewesen ist (siehe hierzu ausführlich VG Köln, Urteil vom 11. Juli 2022 - 20 K 3032/21.A. - juris).

Die zahlenmäßig meisten Palästinaflüchtlinge mit über zwei Millionen Menschen leben nach den offiziellen Angaben des UNRWA in Jordanien, wobei viele davon - anders als der Kläger - die jordanische Staatsangehörigkeit besitzen. Rund 18 % leben in zehn über das gesamte Land verteilten Flüchtlingscamps. Zehntausende aus Syrien vertriebene palästinensische Flüchtlinge haben in Jordanien um Unterstützung des UNRWA nachgesucht. Die Mehrzahl davon lebt auch hier in einem "prekären legalen Status". Gerade für Palästinenser ist es aber zudem ungleich schwieriger als etwa für syrische Flüchtlinge, in Nachbarländer Syriens einzureisen, sondern auch dort zu bleiben und einen legalen Aufenthaltsstatus zu erhalten (vgl. OVG des Saarlandes - 2 A 153/21 - juris Rn. 42), so dass für den Kläger auch ein Ausweichen nach Jordanien nicht zumutbar gewesen wäre.

Zusätzlich setzt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf der Grundlage von § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG voraus, dass es dem Betroffenen auch noch im Zeitpunkt der Entscheidung nicht möglich oder zumutbar ist, sich dem Schutz oder Beistand des UNRWA durch Rückkehr in eines der fünf Operationsgebiete des Einsatzgebiets dieser Organisation erneut zu unterstellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2021 - 1 C 2/21 - juris Rn. 24 sowie EuGH, Urteil vom 3. März 2022 - C-349/20 - juris). Dies ist hier der Fall. Wie bereits ausgeführt worden ist, ist die Lage in sämtlichen Operationsgebieten des UNRWA zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers zumindest in seinem Einzelfall nicht ausreichend sicher gewesen, um ihm Schutz oder Beistand gewährleisten zu können.

Die gegenwärtige Lage im Entscheidungszeitpunkt hat sich gerade im Gazastreifen und im Libanon in den vergangenen Jahren ausweislich der vorliegenden Erkenntnismittel noch einmal deutlich verschärft (vgl. UNHCR, Position on Returns to Gaza, März 2022), so dass dem Kläger, welcher sich außer in Gaza in keinem anderen Teil des UNRWA-Operationsgebietes aufgehalten hat und dort auch über keinerlei familiäre Strukturen oder anderweitige Anknüpfungspunkte verfügt, eine Ausreise dorthin nicht zumutbar ist. Im Übrigen hält das Gericht es auch für in praktischer Hinsicht äußerst fraglich, ob ihm die Einreise in eines der fünf Gebiete ohne weiteres möglich sein würde.

Das Gericht ist auch davon überzeugt, dass es dem Kläger selbst bei einer Rückkehr in den Gazastreifen nicht gelingen würde, sich angesichts der schwierigen humanitären Bedingungen dort eine Lebensgrundlage zu schaffen. Der Gazastreifen hatte bereits Ende 2018 eine Bevölkerungszahl von etwa zwei Millionen Menschen. Davon lebten damals 1,2 Millionen Flüchtlingslagern, die nach Angaben der Vereinten Nationen zu den am dichtesten besiedelten Orten der Welt gehören. Nach statistischen Angaben des UNRWA waren schon 2009 zwei Drittel bis drei Viertel der Bevölkerung Flüchtlinge, die vor dem Palästinakrieg (1947-1949) im heutigen Staatsgebiet von Israel lebten, oder deren Nachkommen. Davon leben in den acht von der UNRWA verwalteten Lagern etwa eine halbe Million Menschen. Damit lebten schon damals 22,42 % aller von der UNRWA registrierten palästinensischen Flüchtlinge im Gazastreifen. Die Bevölkerungsdichte dieser Lager gehört zu den höchsten der Welt. Nach der aktuellen Homepage des UNRWA ist inzwischen von einer Gesamtbevölkerung von 2,1 Millionen in Gaza auszugehen, wovon 1,4 Millionen Flüchtlinge aus Palästina sind. Mit der Übernahme der Kontrolle durch die Hamas hat Israel eine Blockade verhängt, die den Luft-, den See- und vor allem auch den Landweg erfasst. Die Lebensbedingungen der Menschen sind zum Teil katastrophal (vgl. OVG des Saarlandes - 2 A 153/21 - juris Rn. 45).

Dass der Kläger sich aktuell im Gazastreifen niederlassen und den Schutz des UNRWA in Anspruch nehmen könnte, erscheint ausgeschlossen, auch wenn berücksichtigt wird, dass er eine akademische Ausbildung im Gazastreifen durchlaufen und in Deutschland eine weitere Ausbildung gemacht und auch vor seiner Ausreise im Gazastreifen gearbeitet hat. Er verfügt jedoch über kein familiäres Netzwerk mehr im Gazastreifen und ist bereits vor der Flucht aus seinem Elternhaus vertrieben worden, so dass er sich sowohl eine neue Unterkunft als auch neue Verdienstmöglichkeiten suchen müsste. Beides - die Suche nach einer Unterkunft als auch diejenige nach einer Arbeitsstelle - wären zur Überzeugung des Gerichts aber - abgesehen von den ohnehin bestehenden aufgezeigten außerordentlich prekären Verhältnissen im Gazastreifen - mit äußerst hohen Gefahren für die Sicherheit des Klägers verbunden, da davon auszugehen ist, dass seine Rückkehr in den Gazastreifen seinem Onkel bzw. weiteren Hamas-Angehörigen bekannt werden würde und er dann erneut und vermutlich in noch gravierenderer Weise wegen seiner Flucht ins Ausland von diesen bedroht werden würde. Schutz und Beistand in dieser unsicheren Lage könnte das UNRWA für den Kläger angesichts der dargestellten Verhältnisse im Gazastreifen ebenso wie in den übrigen Einsatzgebieten des UNRWA nicht leisten.

Der Kläger unterfällt auch keinem der Ausschlussgründe nach § 3 Abs. 2 AsylG, so dass er einen Anspruch auf die Anerkennung als Flüchtling nach § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG hat, ohne dass es weiterer Feststellungen zu § 3 Abs. 1 AsylG bedarf.

Über die Hilfsanträge war nicht zu entscheiden, weil dem Hauptantrag des Klägers entsprochen wurde.

Die in dem angefochtenen Bescheid vom 6. Juli 2020 getroffenen ebenfalls angefochtenen Feststellungen, dass der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt wird (Ziffer 3) und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4), sind im Übrigen gegenstandslos. Nach der Rechtsprechung des BVerwG wurde die Feststellung in einem Bescheid des Bundesamtes, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 Ausländergesetz nicht vorliegen, regelmäßig gegenstandslos, wenn die Asylklage Erfolg hatte. Das gilt in gleicher Weise für die Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG, die an die Stelle des § 53 AuslG getreten sind (vgl. VG Bremen, Urteil vom 7. Januar 2010 - 2 K 92/08.A - juris).

Schließlich kann auch die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung unter Ziffer 5 der angefochtenen Bundesamtsentscheidungen keinen Bestand haben. Dies folgt bereits aus § 34 Abs. 1 AsylG, wonach das Bundesamt nach den §§ 59 und 60 Abs. 10 AufenthG die Abschiebungsandrohung erlässt, wenn der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt und ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wird. Hieraus folgt im Umkehrschluss, dass für eine Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung nach dem Willen des Gesetzgebers dann kein Raum ist, wenn eine Flüchtlingsanerkennung erfolgt oder - wie hier aufgrund des vorliegenden Urteils - zu erfolgen hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO und § 83 b AsylG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 167 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11 ZPO.