Verwaltungsgericht Oldenburg
Beschl. v. 16.07.2010, Az.: 7 B 1698/10

Baulärm; Lärmschutz; Immissionen; Generalklausel; Verordnung

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
16.07.2010
Aktenzeichen
7 B 1698/10
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2010, 41262
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGOLDBG:2010:0716.7B1698.10.0A

Amtlicher Leitsatz

  1. 1..

    Zum Verhältnis von § 11 Nds. SOG zu § 24 BImSchG

  2. 2..

    § 55 Nds. SOG ermächtigt eine Gemeinde nicht zum Erlass eigener immissionsrechtlicher ortsbezogener Lärmschutzvorschriften.

Gründe

1

Das nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu beurteilende Begehren des Antragstellers, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Umbau des Außenbereichs des ...-Cafés auf der Insel ... durch den Erlass einer Ordnungsverfügung vorläufig stillzulegen, ist unbegründet.

2

Der Antragsteller hat keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Es besteht bei der im Rahmen der vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage keine überwiegende Wahrscheinlichkeit (vgl. zum Maßstab Kopp/ Schenke, VwGO, 16. Auflage 2009, § 123, Rn. 25) dafür, dass ihm ein Anspruch auf ein Einschreiten der Antragsgegnerin gegen die Bauarbeiten an dem ...-Café zusteht.

3

Ein Anspruch auf ein solches Einschreiten der Antragsgegnerin käme hier allein nach § 11 Nds. SOG in Betracht. Danach können die Verwaltungsbehörden und die Polizei die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine Gefahr abzuwehren, soweit nicht die Vorschriften des Dritten Teils (des Nds. SOG) die Befugnisse der Verwaltungsbehörden und der Polizei besonders regeln. Die polizeirechtliche Generalklausel findet (nur) dann Anwendung, wenn und soweit Eingriffe in den besonderen Bestimmungen des Nds. SOG oder Spezialgesetzen der Gefahrenabwehr nicht abschließend geregelt sind (Böhrenz/Unger/Siefken, Nds. SOG, § 11, Rn. 1).

4

Hier kann auf § 11 Nds. SOG als Eingriffsgrundlage zurückgegriffen werden, soweit die Durchsetzung der Vorschriften der "Juister Gefahrenabwehrverordnung" - JGefAVO - bezweckt wird. Dies folgt aus folgenden Erwägungen:

5

Im vorliegenden Fall behauptet der Antragsteller eine Gefahr durch von einer Baustelle ausgehenden Lärm, d.h. Geräuschimmissionen. In einem solchen Fall ist durch Auslegung zu ermitteln, ob und in welchem Umfang die Generalklausel ergänzend zu den einschlägigen Spezialregelungen Anwendung finden kann (Böhrenz/Unger/Siefken, a.a.O.).

6

Der Bund hat mit dem Erlass des BImSchG von seiner umfassenden (konkurrierenden) Zuständigkeit (Art. 74 Nr. 24 GG) im Bereich des Immissionsschutzes - insbesondere der Lärmbekämpfung - Gebrauch gemacht. Mit dem BImSchG wurde die umfassende Regelung des materiellen Immissionsschutzrechts angestrebt (Jarass, BImSchG, Einl, Rn 43 ff.). Gemäß § 24 BImSchG kann die zuständige Behörde im Einzelfall die zur Durchführung des § 22 BImSchG und der auf dieses Gesetz gestützten Rechtsverordnungen erforderlichen Anordnungen treffen. Damit existiert eine spezialgesetzliche Eingriffsermächtigung für Behörden zur Durchsetzung immissionsrechtlicher Bestimmungen, die der Generalklausel des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts (§ 11 Nds. SOG) grds. vorgeht.

7

Eine Anwendung des § 11 Nds. SOG neben dem § 24 BImSchG kommt allenfalls dann in Betracht, wenn immissionsrechtliche Bestimmungen durchgesetzt werden sollen, die nicht unter den Tatbestand des § 24 BImSchG zu subsumieren sind, ohne dass hierdurch die speziellen Regelungen des BImSchG umgangen würden. Wenn die "Gefahr" allein in einem Verstoß gegen § 22 BImSchG oder gegen eine auf Grund von § 23 BImSchG erlassene Verordnung besteht, genießt die bundesrechtliche Vorschrift des § 24 BImSchG Vorrang gegenüber der polizeirechtlichen Generalklausel. Wird hingegen zugleich eine andere Norm des Landesrechts oder (anderen) Bundesrechts verletzt, so bestehen die Eingriffsmöglichkeiten nach beiden Rechtsgebieten ggf. nebeneinander (Feldhaus, BImSchG, § 24, Rn. 9 f.).

8

Im vorliegenden Fall begehrt der Antragsteller von der Antragsgegnerin ein Einschreiten wegen eines Verstoßes gegen die JGefAVO. Diese regelt in ihrem § 4, dass "im Kurbereich (...) Bau- und Baunebenarbeiten sowie die Anfuhr und Abfuhr von Baumaterialien bzw. Bauschutt, Aushub u.ä., die in nicht ganz unerheblichem Umfang störenden Lärm verursachen, während der Zeit vom 01. Mai bis 30. September jeden Jahres (Sommerkurzeit) sowie in den Ruhezeiten der übrigen Jahreszeiten verboten (sind). Hierunter fallen insbesondere Arbeiten, bei denen Geräte mit stärkerer Geräuschentwicklung (z.B. Mischmaschinen, Kreissägen, Kompressoren, Bagger, Planierraupen) eingesetzt werden oder bei denen durch Rammen, Zimmern, Sägen u.ä. störender Lärm verursacht wird."

9

Bei dieser Regelung handelt es sich dem Inhalt nach um eine ortsrechtliche Vorschrift im Sinne des § 49 Abs. 3 BImSchG, "die Regelungen zum Schutz der Bevölkerung vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen oder Geräusche zum Gegenstand" hat.

10

§ 24 BImSchG ermöglicht ein Einschreiten zum Vollzug des § 22 BImSchG sowie der auf das BImSchG gestützten Verordnungen. Hierzu gehört die JGefAVO nicht. Verordnungen im Sinne des § 24 BImSchG sind neben den Verordnungen nach § 23 BImSchG die Verordnungen, die auf Grund der Ermächtigungen in § 49 Abs. 1 und 2 BImSchG erlassen wurden (Feldhaus, a.a.O., § 24, Rn. 15). Die JGefAVO wurde von der Antragsgegnerin auf Grund der Ermächtigungsgrundlage des § 55 Nds. SOG erlassen und enthält Vorschriften im Sinne des § 49 Abs. 3 BImSchG. Folglich stellt sie weder formell noch inhaltlich eine Verordnung dar, deren Vorschriften mit Hilfe des § 24 BImSchG durchgesetzt werden können.

11

Die Voraussetzungen des § 11 Nds. SOG sind hier nicht erfüllt. Es fehlt an einer Gefahr im Sinne des § 2 Nr. 1a Nds. SOG, d.h. an einer Sachlage, bei der im einzelnen Fall die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ein Schaden für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung eintreten wird.

12

Ein solcher Schaden für die öffentliche Sicherheit, der das Einschreiten der Antragsgegnerin nach § 11 Nds. SOG unter Berücksichtigung des Grundsatzes des Vorrangs des spezielleren Gesetzes (vgl. hierzu die vorstehenden Ausführungen) ermöglicht, könnte sich allein aus der Verletzung von Vorschriften der JGefAVO ergeben. In Betracht käme insbesondere ein Verstoß gegen § 4 JGefAVO durch die Durchführung der Bauarbeiten im Außenbereich des ...-Cafés. Allerdings ist diese Vorschrift nach Auffassung der Kammer rechtswidrig und damit unwirksam, so dass ein Verstoß gegen § 4 JGefAVO keinen Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit und damit keine Gefahr im Sinne des § 2 Nr. 1a Nds. SOG begründet.

13

An der Feststellung der Rechtswidrigkeit des § 4 JGefAVO ist die Kammer weder aufgrund des Verwerfungsmonopols des Nds. Oberverwaltungsgerichts gemäß § 47 Abs. 1 2. Alt. VwGO i.V.m. § 7 Nds. AGVwGO noch aufgrund des summarischen Charakters des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes gehindert. Zwar ist die Inzidentkontrolle einer Satzung oder Verordnung, die schwierige Fragen aufwirft und eine eingehenden Prüfung zugrunde legt, mit dem summarischen Charakter des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes nicht vereinbar. In einem solchen Verfahren ist vielmehr regelmäßig von der Gültigkeit von Satzungsbestimmungen auszugehen, wenn sich diese nicht ersichtlich als rechtswidrig erweisen (vgl. hierzu etwa Nds. OVG, Beschluss vom 22. März 2007 - 9 ME 84/07 -; weitergehend wohl Kopp/Schenke, a.a.O., § 123, Rn. 16, § 80, Rn. 161 f.). Davon ausgehend erweist sich die Bestimmung des § 4 JGefAVO auch bei summarischer Prüfung als ersichtlich rechtswidrig. Es fehlt hier an einer Ermächtigungsgrundlage für den Erlass einer solchen immissionsrechtlichen Vorschrift durch die Antragsgegnerin.

14

§ 4 JGefAVO lautet:

"Im Kurbereich sind Bau- und Baunebenarbeiten sowie die Anfuhr und Abfuhr von Baumaterialien bzw. Bauschutt, Aushub u.ä., die in nicht ganz unerheblichem Umfang störenden Lärm verursachen, während der Zeit vom 01. Mai bis 30. September jeden Jahres (Sommerkurzeit) sowie in den Ruhezeiten der übrigen Jahreszeiten verboten. Hierunter fallen insbesondere Arbeiten, bei denen Geräte mit stärkerer Geräuschentwicklung (z.B. Mischmaschinen, Kreissägen, Kompressoren, Bagger, Planierraupen) eingesetzt werden oder bei denen durch Rammen, Zimmern, Sägen u.ä. störender Lärm verursacht wird"

15

Der Sinn und Zweck dieser Vorschrift ergibt sich aus § 3 Abs. 1 JGefAVO. Dieser lautet:

"Juist ist ein Nordseeheilbad. Mit Rücksicht auf die besonderen gesundheitsfördernden Aufgaben eines Heilbades hat sich deshalb jeder so zu verhalten, dass kein anderer mehr als nach den Umständen unvermeidbar durch Lärm beeinträchtigt oder sonst gesundheitlich beeinträchtigt wird."

16

§ 4 JGefAVO dient damit offenkundig dem Schutz des als besonders schutzbedürftig eingeschätzten Kurgebietes der Antragsgegnerin vor (Bau-)Lärm.

17

Die Antragsgegnerin hat den Erlass der JGefAVO auf § 55 Abs. 1 Nr. 1 Nds. SOG gestützt. Danach werden die Gemeinden ermächtigt, zur Abwehr abstrakter Gefahren für ihren Bezirk oder Teile ihres Bezirks Verordnungen zu erlassen. § 55 Nds. SOG stellt jedoch keine Ermächtigungsgrundlage für die Beklagte ortsbezogener Vorschriften zum Schutz besonderer Gebiete vor Lärmeinwirkungen dar, wie sie §§ 3 bis 6 der JGefAVO darstellen. Eine andere Ermächtigungsgrundlage für den Erlass solcher Vorschriften durch die Antragsgegnerin existiert ebenfalls nicht. Dies ergibt sich aus folgen Erwägungen:

18

Grds. besitzt der Bund im Bereich des Immissionsschutzes - insbesondere der Lärmbekämpfung - eine umfassende (konkurrierende) Zuständigkeit. Von dieser Zuständigkeit hat er mit dem Erlass des BImSchG Gebrauch gemacht. Mit dem BImSchG wurde die umfassende Regelung des materiellen Immissionsschutzrechts angestrebt. Landesrechtliche Regelungen sind nur zulässig, soweit die bundesrechtlichen Vorschriften nicht abschließend oder landesrechtliche Regelungen im BImSchG ausdrücklich vorbehalten sind. Im Bereich des Lärmschutzes besonders schutzbedürftiger Gebiete hat der Bund u.a. die 32. BImSchV (Geräte- und Maschinenlärmschutzverordnung) erlassen. In dessen § 7 wird der Schutz besonders schutzbedürftiger Gebiete (u.a. Kurgebiete) vor Lärm durch Maschinen und Geräte geregelt, die typischerweise bei Bauarbeiten eingesetzt werden. Aus § 7 Abs. 3 der 32. BImSchV ergibt sich, dass diese Regelung nicht abschließend ist, sondern weitergehende landesrechtliche Regelungen zum Schutz von Wohn- und sonstiger lärmempfindlicher Nutzung möglich sind. Zudem stellt § 49 BImSchG eine spezielle Rechtsgrundlage zum Erlass landesrechtlicher Vorschriften zum Schutz besonders schutzbedürftiger Gebiete vor Luftverunreinigungen oder Lärm dar. Besonders schutzbedürftige Gebiete im Sinne des § 49 BImSchG sind u.a. Badeorte und heilklimatische Kurorte (Feldhaus, BImSchG, § 49, Rn. 16). Der besondere Schutz solcher Gebiete vor Immissionen obliegt gemäß § 49 Abs. 1 und Abs. 2 BImSchG grds. den Landesregierungen. Diese können wiederum die Gemeinden zum Erlass ortsrechtlicher Vorschriften ermächtigen (§ 49 Abs. 3 BImSchG : "Landesrechtliche Ermächtigungen für die Gemeinden und Gemeindeverbände zum Erlass von ortsrechtlichen Vorschriften, die Regelungen zum Schutz der Bevölkerung vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen oder Geräusche zum Gegenstand haben, bleiben unberührt."). Eine solche landesrechtliche Ermächtigung für die Gemeinden existiert im Land Niedersachsen - im Gegensatz zu anderen Bundesländern (vgl. etwa Art. 10, 14 BayImSchG; § 5 LImschG NRW) - jedoch nicht. Die ordnungsrechtliche Generalermächtigung des Polizei- und Ordnungsrechts (§ 55 Nds. SOG) ist keine landesrechtliche Ermächtigung im Sinne des § 49 Abs. 3 BImSchG, da sie nicht spezifisch auf schädliche Umwelteinwirkungen ausgerichtet ist (Feldhaus, a.a.O., § 49, Rn. 59; Jarass, a.a.O., § 49, Rn. 27).

19

Zudem fehlt es an der zum Erlass einer Verordnung nach § 55 Nds. SOG erforderlichen abstrakten Gefahr im Sinne des § 2 Nr. 2 Nds. SOG. Regelungen zum Immissionsschutz, die über das durch das BImSchG und die aufgrund des BImSchG erlassenen Verordnungen gewährte Maß an Schutz vor Immissionen hinausgehen, wehren keine abstrakte Gefahr ab.

20

Ein Anspruch des Antragstellers auf Einschreiten der Antragsgegnerin nach anderen Vorschriften (insbesondere nach § 24 BImSchG oder § 89 NBauO) scheidet mangels sachlicher Zuständigkeit der Antragsgegnerin aus.

21

Ergänzend wird auf Folgendes hingewiesen:

22

Fraglich ist, ob der Antragsteller ein Einschreiten der Antragsgegnerin in der beantragten Form (Stilllegung der Baustelle durch Erlass einer Ordnungsverfügung) verlangen kann, da die Antragsgegnerin nach dem Vortrag des Antragstellers als Bauherrin und Inhaberin der Baugenehmigung zugleich Störerin ist und damit ein ordnungsrechtliches Einschreiten der Antragsgegnerin gegen sich selbst begehrt wird. Fraglich ist zudem, ob § 4 JGefAVO Drittschutz (gerade) zugunsten des Antragstellers als Gewerbetreibenden entfaltet, da die immissionsrechtlichen Regelungen der JGefAVO gemäß § 3 Abs. 1 JGefAVO in erster Linie dem Schutz der "besonderen gesundheitsfördernden Aufgaben eines Heilbades" dienen. Bei der oben dargestellten Sach- und Rechtslage kommt es auf die Beantwortung dieser Fragen jedoch nicht entscheidungserheblich an. Gleiches gilt hier die Frage, ob die Antragsgegnerin eine rechtmäßige Ausnahmegenehmigung gemäß § 10 JGefAVO erteilt hat.

23

Die Kostenlast folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.