Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 30.10.2006, Az.: 4 ME 36/06
Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren; Anforderungen an die Verpflichtung eines Sozialhilfeträger zur vollständigen Übernahme der durch dieöffentliche Förderung nicht vollständig gedeckten Investitionskosten im Fall der Bedürftigkeit ; Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Beschwerde
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 30.10.2006
- Aktenzeichen
- 4 ME 36/06
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2006, 27351
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2006:1030.4ME36.06.0A
Rechtsgrundlagen
- § 93 BSHG
- § 9 SGB XI
- § 82 Abs. 3 SGB XI
- § 82 Abs. 4 SGB XI
- § 75 SGB XII
- § 146 Abs. 4 S. 6 VwGO
Fundstellen
- NDV-RD 2006, 130-131 (Volltext mit amtl. LS)
- NordÖR 2007, 93 (amtl. Leitsatz)
- PflR 2007, 348-350 (Volltext mit red. LS u. Anm.)
- ZfF 2008, 20
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Soweit in einer zugelassenen Pflegeeinrichtung iSd § 72 SGB XI vom Vereinbarungsrahmen des SGB XI nicht umfasste, weiter gehende Leistungen nach § 68 BSHG bzw. § 61 SGB XII erbracht werden, kommen dafür Vereinbarungen nach § 92 Abs. 2 BSHG bzw. § 75 Abs. 3 SGB XII in Betracht.
- 2.
Eine Differenzierung im Leistungsangebot kann in Bezug auf die betriebsnotwendigen Anlagen und die erforderliche Ausstattung notwendig sein, wenn von der Einrichtung neben Leistungen nach dem BSHG bzw. SGB XII auch Leistungen nach dem SGB XI und SGB V erbracht werden.
Gründe
Die Antragstellerin begehrt, die Antragsgegnerin im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, vorläufig bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren ihre Angebote auf Abschluss einer Leistungs- und einer Prüfungsvereinbarung anzunehmen.
Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, dass bereits zweifelhaft sei, ob ein Anordnungsgrund bestehe, die Antragstellerin aber jedenfalls einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht habe. Die Antragstellerin habe deshalb keinen Anspruch auf Abschluss einer Leistungs- und einer Prüfungsvereinbarung nach § 93 BSHG bzw. § 75 SGB XII, weil es sich bei ihr um eine Pflegeeinrichtung handele, die im Sinne von § 82 Abs. 3 SGB XI nach Landesrecht gefördert werde. Bei einer solchen Einrichtung sei kein Raum für Vereinbarungen nach § 93 BSHG bzw. § 75 SGB XII hinsichtlich der Investitionskosten. § 93 Abs. 7 Satz 4 BSHG bzw. § 75 Abs. 5 Satz 3 SGB XII enthalte für die Investitionskosten einer Einrichtung eine Sonderregelung. Danach sei der Träger der Sozialhilfe zur Übernahme gesondert berechneter Investitionskosten nach § 82 Abs. 4 SGB XI nur dann verpflichtet, wenn hierüber entsprechende Vereinbarungen nach Abschnitt 7 bzw. nach dem Zehnten Kapitel getroffen worden seien. Handele es sich dagegen um eine Einrichtung, die nach Landesrecht gefördert werde, müsse der Sozialhilfeträger die durch die öffentliche Förderung nach § 9 SGB XI nicht vollständig gedeckten Investitionskosten im Fall der Bedürftigkeit übernehmen, wenn die zuständige Landesbehörde ihre Zustimmung erteilt habe.
Die dagegen eingelegte Beschwerde der Antragstellerin hat keinen Erfolg.
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts unterliegt unter den Gesichtspunkten, auf die sich die Antragstellerin zur Begründung ihrer Beschwerde beruft, und auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, im Ergebnis keinen Bedenken.
Soweit die Antragstellerin ihre Beschwerde damit begründet hat, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht Zweifel am Vorliegen des Anordnungsgrundes erhoben, kann dieses Vorbringen der Beschwerde schon deshalb nicht zum Erfolg verhelfen, weil das Verwaltungsgericht diese Frage offen lassen durfte. Denn es hat die Ablehnung des Eilantrages nicht auf das Fehlen eines Anordnungsgrundes, sondern - wie noch auszuführen sein wird - im Ergebnis zu Recht darauf gestützt, dass ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht worden ist.
Die von der Antragstellerin geltend gemachten Einwände gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, ein Anordnungsanspruch sei nicht glaubhaft gemacht worden, greifen im Ergebnis nicht durch.
Allerdings hat das Verwaltungsgericht zu Unrecht angenommen, dass bei einer im Sinne von § 82 Abs. 3 SGB XI nach Landesrecht geförderten Pflegeeinrichtung kein Raum für Vereinbarungen nach § 93 Abs. 2 BSHG bzw. § 75 Abs. 3 SGB XII bestehe und schon aus diesem Grund ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht worden sei.
§ 93 Abs. 7 BSHG bzw. § 75 Abs. 5 SGB XII treffen eine Sonderregelung für zugelassene Pflegeeinrichtungen i. S. d. § 72 SGB XI. Für diese Einrichtungen sind grundsätzlich keine Vereinbarungen nach § 93 Abs. 2 BSHG bzw. § 75 Abs. 3 SGB XII abzuschließen. Vielmehr gelten die in der Regel mit den Pflegekassen nach dem 8. Kapitel des SGB XI getroffenen Vereinbarungen. Etwas anderes gilt nur, soweit es um die Übernahme von Investitionskosten durch den Sozialhilfeträger geht, die nicht nach Landesrecht geförderte Pflegeeinrichtungen nach § 82 Abs. 4 SGB XI den Pflegebedürftigen gesondert in Rechnung stellen.
Wie sich aus den Formulierungen in § 93 Abs. 7 Satz 1 BSHG bzw. § 75 Abs. 5 Satz 1 SGB XII "soweit nicht nach § 68 (BSHG) weitergehende Leistungen zu gewähren sind" bzw. "soweit nicht nach § 61 (SGB XII) weiter gehende Leistungen zu gewähren sind" ergibt, findet die Sonderregelung aber nur Anwendung auf Leistungen, die vom Vereinbarungsrahmen des SGB XI umfasst werden. Werden in der zugelassenen Pflegeeinrichtung dagegen - wie im vorliegenden Fall - weitergehende Leistungen nach § 68 BSHG bzw. § 61 SGB XII für pflegebedürftige Personen unterhalb der Pflegestufe I oder über die Leistungspflicht der Pflegekassen nach dem SGB XI hinausgehende Leistungen erbracht, kommen Vereinbarungen nach § 93 Abs. 2 BSHG bzw. § 75 Abs. 3 SGB XII in Betracht. Für diese Leistungen sind ausschließlich die Vorschriften der §§ 93 ff. BSHG bzw. §§ 75 ff. SGB XII maßgebend; die §§ 82 bis 92 SGB XI finden insoweit keine Anwendung (vgl. Mergler/Zink, BSHG, 4. Auflage, Stand: August 2004, § 93 Rn. 73; LPK-BSHG, 6. Auflage, § 93 Rn. 56; Schellhorn, BSHG, 16. Auflage, § 93 Rn. 65; Grube/ Wahrendorf, SGB XII, § 75 Rn. 39).
Eine solche Leistungs-, Vergütungs- und Prüfungsvereinbarung nach § 93 Abs. 2 BSHG haben die Beteiligten hier auch - allerdings unvollständig - am 28. November 2003 geschlossen. Nach § 93 a Abs. 1 Satz 1 BSHG bzw. § 76 Abs. 1 Satz 1 SGB XII gehört zum Inhalt einer Leistungsvereinbarung mindestens, dass darin u. a. die betriebsnotwendigen Anlagen der Einrichtung und die erforderliche sächliche Ausstattung festgelegt werden. Daran fehlt es jedoch in der Vereinbarung vom 28. November 2003. Diese Lücke soll durch die im vorliegenden Verfahren streitigen Angebote der Antragstellerin zum Abschluss - ergänzender - Leistungs- und Prüfungsvereinbarungen geschlossen werden.
Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch aber deshalb nicht glaubhaft gemacht, weil das von ihr vorlegte Leistungsangebot vom Oktober 2004 nicht den Anforderungen genügt, die an ein annahmefähiges Leistungsangebot zu stellen sind.
Nach § 93 a Abs. 1 Satz 1 BSHG bzw. § 76 Abs. 1 Satz 1 SGB XII muss die Vereinbarung über die Leistung die wesentlichen Leistungsmerkmale festlegen, mindestens jedoch die betriebsnotwendigen Anlagen der Einrichtung, den von ihr zu betreuenden Personenkreis, Art, Ziel und Qualität der Leistung, Qualifikation des Personals sowie die erforderliche sächliche und personelle Ausstattung. Dabei ist bereits bei der Leistungsvereinbarung eine Differenzierung vorzunehmen, wenn in einer Einrichtung für unterschiedliche Personengruppen Leistungen angeboten werden (LPK-BSHG, a.a.O., § 93 a Rn. 5). Die Notwendigkeit einer Differenzierung in der Leistungsvereinbarung kann sich auch - wie im vorliegenden Fall - in Bezug auf die betriebsnotwendigen Anlagen und Ausstattungen ergeben. Die betriebsnotwendigen Anlagen der Einrichtung bezeichnen die räumliche und sächliche Ausstattung der Einrichtung, wie Gebäude, Grundstück, Ausstattung und Inventar (Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 75 Rn. 39). Wie sich aus § 93 a Abs. 1 Satz 1 BSHG bzw. § 76 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ergibt, sind in der Leistungsvereinbarung die betriebsnotwendigen Anlagen der Einrichtung und die erforderliche sächliche Ausstattung festzulegen. Welche Anlagen als betriebsnotwendig zu gelten haben bzw. welche sächliche Ausstattung erforderlich ist, wird wesentlich von der konkreten Aufgabenstellung der Einrichtung und dem konkreten Leistungsangebot bestimmt. Die zwischen den Beteiligten geschlossene Vereinbarung, die durch die streitige Vereinbarung ergänzt werden soll, betrifft weitergehende Leistungen nach § 68 BSHG bzw. § 61 SGB XII für pflegebedürftige Personen unterhalb der Pflegestufe I sowie über die Leistungspflicht der Pflegekassen nach dem SGB XI hinausgehende Leistungen. Aus dem von der Antragstellerin vorgelegten Leistungsangebot vom Oktober 2004 ergibt sich jedoch nicht, in welchem Umfang die Anlagen und Ausstattungen des von ihr betriebenen ambulanten Pflegedienstes für die mit der Antragsgegnerin vereinbarten Leistungen konkret erforderlich sind. Eine solche Konkretisierung ist hier deshalb notwendig, weil die Antragstellerin mit ihrem ambulanten Pflegedienst neben den mit der Antragsgegnerin vereinbarten Leistungen nach dem BSHG bzw. SGB XII auch Leistungen nach dem SGB XI und dem SGB V erbringt. Dass die Antragstellerin in ihrem Leistungsangebot darauf verweist, die Nutzung der betriebsnotwendigen Anlagen und Anlagegüter erfolge anteilig (auch SGB V - und SGB XI - Leistungen), genügt nicht den an eine detaillierte Zuordnung der Leistungen zu den Anlagen und Anlagegütern zu stellenden Anforderungen. Dies folgt auch daraus, dass die Leistungsvereinbarung mit den in ihr festgelegten Leistungsmerkmalen, zu denen die betriebsnotwendigen Anlagen einschließlich ihrer Ausstattung gehören, die Grundlage für die Vergütungsvereinbarung nach § 93 a Abs. 2 BSHG bzw. § 76 Abs. 2 SGB XII und damit für den zu vereinbarenden Investitionsbetrag darstellt.