Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 10.10.2012, Az.: 5 A 2918/11

Azad Baris; Gruppenverfolgung; mittelbare Gruppenverfolgung; Türkei; Verfolgungsschlag; Viransehir; Yezide

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
10.10.2012
Aktenzeichen
5 A 2918/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 44328
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Die Klagen werden abgewiesen.

Die Kläger tragen jeweils die außergerichtlichen Kosten ihres Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand:

Die 1972 geborene Klägerin zu 1) des Verfahrens 5 A 2919/11 und ihre minderjährigen Kinder (der 1997 geborene Kläger zu 2) des Verfahrens 5 A 2919/11 und die 1999, 2001 und 2002 geborenen Kläger des Verfahrens 5 A 2918/11) sind türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit und yezidischen Glaubens aus V.. Im Jahre 2009 war sie bereits mit ihren Kindern S., O. und der 1995 geborene Tochter D. etwa zwei Monate lang auf der Grundlage von Visa zu Besuchszwecken im Bundesgebiet. Ebenso gab es 2001 mit Tochter D. einen weiteren Voraufenthalt.

Am 6. Juli 2011 reisten die Kläger auf dem Luftweg mit von der Deutschen Botschaft in Ankara ausgestellten Besuchsvisa (gültig bis zum 24. August 2011) erneut in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie sich zunächst bei Verwandten aufhielten. Gleichzeitig und ebenfalls mit Visum reiste ihre Tochter/Schwester D. (die Klägerin des Parallelverfahrens 5 A 2916/11) ins Bundesgebiet ein und am 23. Juli 2011 ihr 1993 geborener Sohn/Bruder G. (der Kläger des Parallelverfahrens 5 A 2914/11), dem ein Besuchsvisum versagt worden war. Die Kläger beantragten am 24. August 2011 ihre Anerkennung als Asylberechtigte.

In ihrer Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 29. August 2011 gab die Klägerin zu 1) des Verfahrens 5 A 2919/11 im Wesentlichen an, sie und ihre Angehörigen unterlägen in der Türkei einer mittelbaren Gruppenverfolgung durch Muslime wegen ihres yezidischen Glaubens. Vor etwa 18 Jahren seien sie vom Dorf in die Stadt V. umgezogen, hätten aber auch dort keine Ruhe gefunden. Wirtschaftlich sei es ihnen gut gegangen. Sie hätten von der Landwirtschaft auf eigenen Flächen in der Nähe des Dorfes gelebt, die ihr Mann mit Hilfe von Arbeitern bewirtschaftet habe. In der Stadt gebe es nur noch wenige Yeziden, in ihrem Stadtviertel keinen weiteren. Wegen ihres yezidischen Glaubens seien sie von muslimischen Nachbarn angefeindet worden. Insbesondere ihre mittlerweile groß gewordenen Kinder seien unterdrückt worden. Ihr Sohn G. sei zwei bis drei Wochen vor Beginn der Schulferien geschlagen und mit dem Tod bedroht worden. Ihre Tochter D. habe vor etwa zwei Monaten in der Schule entführt werden sollen. Trotz guter Leistungen habe sie die Schule nicht weiter besuchen können. Sie selbst sei beschimpft, angefeindet sowie vor etwa einem Jahr geschlagen und von Frauen und Kindern aus der Nachbarschaft mit Steinen beworfen worden. Die Muslime im Dorf und selbst früher von ihnen beschäftigte Arbeiter seien gegen sie. Im Laufe des Jahres seien landwirtschaftliche Geräte zerstört und vor etwa vier Monaten ihr Hund vergiftet worden, um sie zu vertreiben. Ihr Mann sei zweimal zur Polizei gegangen. Es habe nichts gebracht, so dass er nicht mehr hingegangen sei. Wegen der ständigen Angst sei sie psychisch krank geworden. Sie sei deshalb in V. und S. in ärztlicher Behandlung gewesen und habe viele Medikamente nehmen müssen. Am 6. Juli 2011 habe die gesamte Familie das Haus verlassen. Während sie mit den Kindern nach A. gegangen sei, sei ihr Mann mit G. nach Istanbul gereist. Obwohl sie mit ihm per Handy in Kontakt stehe, wisse sie nicht, wo er sei.

Ihr Cousin und Bevollmächtigter Disli verwies auf die sachverständige Stellungnahme des entfernt verwandten B. vom 27. August 2011 zur Verfolgungssituation der Yeziden im Großraum V.. Die yezidische Großfamilie B. genieße eine regionale Bekanntheit und sei immer wieder Opfer muslimischer Übergriffe in Form von Landraub, Handelsverbot, physischer Gewalt, Erpressungen und Entführungen, die von den türkischen Behörden nicht hinreichend unterbunden würden. Ferner berief sich der Bevollmächtigte Disli auf ein Urteil des Strafgerichts Urfa vom 4. März 2010 (Verurteilung von Muslimen zu Haftstrafen wegen Entführung und Geiselnahme eines yezidischen Kindes), auf eine bedeutsame Dunkelziffer vergleichbarer Vorfälle, in denen aus Angst keine Anzeige gestellt werde, auf die fehlende Schutzwilligkeit örtlicher Behörden und auf eine noch einzureichende Liste ihm persönlich bekannt gewordener Übergriffe, denen das Bundesamt nachgehen müsse. Schließlich verwies er auf diverse Erkrankungen der Klägerin zu 1) des Verfahrens 5 A 2919/11 (reaktive Depression, Refluxösophagitis und Gastritis, HWS-Syndrom, Dorsalgie, Cephalgie), die medikamentös (Citalopram sowie Ibuprophen) behandelt würden (Arztbericht der Dipl. Medizinerin R. vom 30. September 2011).

Der Sohn G. gab in seiner Anhörung vom 29. August 2011 unter anderem an, nach Besuch des Gymnasiums sei er in der Ausbildung zum Buchhalter gewesen. Wegen seines yezidischen Glaubens habe er keine Freunde gehabt, sei verspottet, beschimpft sowie beleidigt worden und habe das Haus nicht viel verlassen können. Seine gezüchteten Tauben seien geklaut und sein Hund sei umgebracht worden. Vor den Schulferien sei er von dem muslimischen Mitschüler Ömer und einem weiteren Mitschüler am Kragen gepackt, beleidigt und zum Glaubensübertritt aufgefordert worden. Politisch sei er nicht aktiv gewesen und habe auch mit den türkischen Behörden keine Probleme gehabt.

Die Tochter D. gab anlässlich ihrer Anhörung am 29. August 2011 im Wesentlichen an, sie habe nach Grund- und Mittelschule das Gymnasium in V. besucht. Zwar sei es ihnen wirtschaftlich gut gegangen, als Yeziden hätten sie aber keine Ruhe gehabt und seien ausgegrenzt worden. Vor allem in der Schule seien muslimische Mitschüler hässlich zu ihr gewesen. Sie sei zum Übertritt zum muslimischen Glauben aufgefordert worden. Einmal sei sie mit Gewalt an der Hand festgehalten worden und ein anderes Mal habe sie auf den Koran schwören sollen. Einmal, zur Mittagszeit, sei sie alleine in der Schulkantine gewesen. Sie habe ihre Mitschüler Emin und Ozman, die sie schon früher bedrängt hätten, von weitem mit Beleidigungen gehört. Sie hätten sie aufgefordert, sie zu heiraten, weil sie damit ihren Glauben verlieren würde. Sie sei in ein kleines Häuschen auf dem Schulgelände gelaufen, habe die Türe abgeschlossen und per Handy ihren Vater angerufen. Draußen hätten die Mitschüler üble Sachen gesagt, sie beleidigt und angemacht. Als ihr Vater sie eine halbe Stunde später abgeholt habe, seien die Mitschüler nicht mehr da gewesen.

Mit Bescheiden vom 14. Dezember 2011 lehnte das Bundesamt die Anerkennung der Kläger (sowie der Kinder/Geschwister G. und D.) als Asylberechtigte sowie die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als offensichtlich unbegründet und die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG als unbegründet ab. Gleichzeitig drohte es ihnen unter Ausreiseaufforderung und Fristsetzung die Abschiebung in die Türkei an.

Die Kläger haben am 23. Dezember 2011 Klagen erhoben und erst nach Ablauf der Ausschlussfrist aus § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG mehrfach erfolglos um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (Beschlüsse des Einzelrichters vom 26. Januar 2012 - 5 B 2268 und 2599/12 bzw. 5 B 2265 und 2602/12 -) und um Feststellung inlandsbezogener Vollstreckungshindernisse (Beschluss der Ausländerkammer vom 18. Juli 2012 - 11 B 3970/12 -) nachgesucht. Nach zwischenzeitlich erfolgter Abschiebung halten sie sich nach ihrem Vorbringen vorübergehend in Istanbul auf. Die parallel eingeleiteten Klageverfahren der Kläger/Geschwister G. und D. hat das Gericht zwischenzeitlich infolge Untertauchens und Nichtbetreibens eingestellt (Beschlüsse vom 4. Oktober 2012 - 5 A 2914/11 und 5 A 2916/11 -).

Zur Begründung ihrer aufrecht erhaltenen Klagen tragen die Kläger im Wesentlichen vor: Sie hätten ihr Verfolgungsschicksal unter Berücksichtigung von kulturellem Hintergrund, Bildungsstand und psychischen Beschwerden der Klägerin zu 1) des Verfahrens 5 A 2919/11 plausibel geschildert. Wegen des zugenommenen Drucks sei der Ehemann/Vater B. ebenfalls geflohen. Sein gegenwärtiger Verbleib sei ebenso unbekannt wie der Aufenthalt des erwachsenen Sohnes/Bruders C.. Die insgesamt sehr kleine Gruppe in der Türkei lebender Yeziden (laut Yezidischem Forum insgesamt weniger als 500 Personen) sei zu schwach, um sich selbst gegen Übergriffe muslimischer Nachbarn zu schützen. Infolge bedeutsamer Verschlechterung der Verhältnisse sei wieder von einer mittelbaren Gruppenverfolgung wegen des yezidischen Glaubens auszugehen. Die gegenteilige Rechtsprechung beruhe auf einer veralteten Tatsachenfeststellung der Sachlage in den Jahren 2008/2009. Aktuelle Lageberichte, etwa des Auswärtigen Amtes, enthielten keine substantiierten Informationen über tatsächlich stattfindende Übergriffe auf Yeziden und unzureichende behördliche Schutzmaßnahmen, was auf unzureichende Aufklärung der Verhältnisse schließen lasse. Den einschlägigen Erkenntnissen des Bevollmächtigten Disli (am 12. Januar 2012 erhaltene Auflistung [Bl. 51 GA 5 A 2919/11]: Mindestens 21 Vorfälle von 2009 bis 2011 im Großraum V.) und der Stellungnahme des Sachverständigen B. vom 8. August 2012 (mit Nachtrag) sei zu entnehmen, dass es spätestens seit 2010 einen quantitativen und qualitativen Umschwung der Verhältnisse gebe. So hätten die Übergriffe in Form gewaltsamer Landnahme durch muslimische Nachbarn, Beschimpfungen, Diffamierungen, physische Gewalt, Entführungen und räuberische Erpressungen signifikant zugenommen. Laut B. seien im Distrikt V. die dort nur noch ansässigen 36 Familien mit insgesamt 186 Personen in der Zeit von März 2010 bis September 2012 etwa 34 Übergriffen auf die ansässigen Bewohner oder deren auf Besuch befindliche yezidische Verwandte ausgesetzt gewesen. Neun Familien seien auf der Flucht bzw. von der Flucht betroffen. Zumal jede dritte Familie in diesem Bereich von den Übergriffen betroffen sei, seien die Verfolgungsschläge mittlerweile hinreichend dicht. Gleichzeitig zeige sich ein duldendes bis billigendes Verhalten türkischer Behörden, weil das Schicksal der kleinen Gruppen der Yeziden niemand bewege und die Ordnungsbestrebungen im Zuge eines von der Türkei angestrebten Beitritts zur Europäischen Union nachgelassen hätten. Die vermindert Schutzwilligkeit und -fähigkeit türkischer Behörden zeige sich etwa in Form von herablassenden Äußerungen des Innenministers Idris Naim Sahin in dessen Rede vor dem türkischen Parlament am 17. April 2012 nebst Presseecho (etwa in den Zeitschriften Haber Türk und Vatan) als auch in der Einschätzung des im Bundesgebiet lebenden Yeziden Bubo Yildiz in dessen Leserbrief der Zeitung "V." vom 6. Juli 2012 angesichts seiner Eingabe bei der Staatsanwaltschaft V. und einer offenbar ausstehenden Reaktion. Die AKP habe vor Kurzem bei ihrer Schulreform religiöse Koranschulen („Imam-Hatip-Schulen") zu der beherrschenden schulischen Institution gemacht. Der Lehrplan schreibe Korankunde, andere islamisch ausgerichtete Lehrinhalte und sogar islamorientiertes außerschulisches Verhalten (u.a. Moscheebesuche) vor, von denen sich nichtmuslimische Schüler nicht befreien lassen könnten. Bei erneuter Anerkennung einer Gruppenverfolgung drohe angesichts der geringen Zahl in der Türkei verbliebener Yeziden kein massenhafter Zustrom von Asylbewerbern.

Im Übrigen leide die Klägerin zu 1) des Verfahrens 5 A 2919/11 unter schweren psychischen und physischen Erkrankungen, die sie in der Türkei nicht ausreichend behandeln lassen könne.

Die Kläger beantragen jeweils,

die Beklagte zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen sowie festzustellen, dass in ihrer Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei vorliegen,

hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, hinsichtlich der Türkei Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG bezüglich ihrer Person festzustellen,

weiter hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, hinsichtlich der Türkei Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG bezüglich ihrer Person festzustellen und

die Bescheide des Bundesamtes vom 14. Dezember 2011 aufzuheben, soweit sie dem entgegenstehen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verteidigt den angefochtenen Bescheid und hält insbesondere die Voraussetzungen für die Annahme einer mittelbaren Gruppenverfolgung wegen des yezidischen Glaubens für nicht gegeben.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Gerichtsakten 5 A 2914/11 und 5 A 2916/11, der vorgelegten Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie der Ausländerakten des Landkreises Leer Bezug genommen. Weiter wird verwiesen auf Auskünfte, Gutachten und Stellungnahmen, die auf Blatt 111 der Gerichtsakte 5 A 2914/11 aufgeführt und die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die zulässigen Klagen sind unbegründet.

Die angefochtenen Bescheide des Bundesamtes sind rechtmäßig, die Kläger haben keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte, Feststellung der Flüchtlingseigenschaft oder von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG. Zur Begründung wird auf die ausführlichen und zutreffenden Ausführungen in den Bescheiden des Bundesamtes vom 14. Dezember 2011 Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylVfG). Das Vorbringen im gerichtlichen Verfahren erfordert keine weitere Aufklärung und rechtfertigt keine andere Entscheidung.

Auch nach Überzeugung des Gerichts findet gegenwärtig keine Gruppenverfolgung von Kurden in der Türkei statt (vgl. Grundsatzurteil der Kammer vom 30. November 2000 - 5 A 762/99 - seither ständige Rechtsprechung; so auch: OVG Lüneburg, Urteil vom 17. Juli 2007 - 11 LB 332/03 - juris, bestätigt durch BVerwG, Beschluss vom 23. April 2008 - 10 B 156.07 -; Beschlüsse vom 29. November 2007 - 11 LB 14/06 - und vom 2. September 2010 - 11 LA 563/09 -; OVG NW, Urteil vom 31. August 2007 - 15 A 5128/04.A -; OVG Sachsen Anhalt - ST -, Urteil vom 24. Oktober 2007 - 3 L 303 und 380/04 - und vom Urteil vom 24. Februar 2011 - A 3 B 551/07 - sowie Urteil vom 14. März 2012 - 3 L 152/09 -juris; OVG Saarland, Urteil vom 11. März 2010 - 2 A 401/08 -).

Die behauptete gruppenbezogene Gefährdung der Kläger durch Übergriffe der muslimischen Mehrheitsbevölkerung bei einer Rückkehr in die Türkei wegen ihres yezidischen Glaubens rechtfertigt keine andere Entscheidung, ohne dass es einer weiteren Aufklärung bedurfte. Die tatsächlichen Verhältnisse in der Türkei haben sich seit etwa 2003 bis heute derart geändert, dass eine mittelbare Gruppenverfolgung der Yeziden in ihren angestammten Siedlungsgebieten in der Türkei nicht mehr festgestellt werden kann. Es ist auch nicht anzunehmen, dass sich die seitdem stabilisierte Lage wiederum in den letzten Jahren signifikant zulasten der Yeziden verschlechtert hat.

Die Kammer hat in ihrem Urteil vom 2. Oktober 2008 (5 A 3155/06 - juris) in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts - Nds. OVG - (etwa Grundsatzurteil vom 17. Juli 2007 - 11 LB 332/03 - juris; Beschluss vom 1. September 2008 - 11 LA 206/08 -) entschieden, dass selbst unter Beachtung des im Widerrufsverfahren (seinerzeit) gebotenen strengen Maßstabs der hinreichenden Sicherheit vor Verfolgung für zurückkehrende Yeziden keine Gefahr einer mittelbaren Gruppenverfolgung in der Türkei besteht und daher der Widerruf von Asyl und Flüchtlingseigenschaft nach § 51 Abs. 1 AuslG grundsätzlich rechtmäßig ist. Dies galt gleichzeitig und erst Recht für Asylerstverfahren am (niedrigeren) Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. etwa OVG ST, Urteil vom 14. März 2012 - 3 L 152/09 - S. 11 UA) einer Verfolgung, der mittlerweile einheitlich in Asylverfahren jeglicher Art zugrunde zu legen ist. In diesem Zusammenhang hat es sich u.a. mit den Hinweisen und Erkenntnismitteln betreffend die schon seinerzeit betonten Besonderheiten (geringe Größe der gefährdeten Gruppe der Yeziden, Auflistung und Bewertung von Verfolgungsschlägen) auseinandergesetzt. Dabei ging es davon aus, dass eine als Voraussetzung für eine Schutzgewährung nach Art. 16 a GG bzw. § 60 Abs. 1 AufenthG erforderliche Verfolgungsdichte bei (wertender) Betrachtung der Relation zwischen Größe der verfolgten Gruppe sowie Anzahl der (hinreichend gesichert feststehenden und verfolgungsrelevanten) Verfolgungsschläge nicht anzunehmen ist. Auch unter qualitativen Gesichtspunkten ergab sich nicht, dass jeder in der Türkei lebende (oder zurückkehrende) Yezide in eine ausweglose Lage gerät, zumal auch der türkische Staat gegenüber Übergriffen der muslimischen Mehrheitsbevölkerung schutzwillig und schutzfähig ist. Das Gericht hat sich dabei - und in seiner seither ständigen Rechtsprechung - mit den Auswirkungen der so genannten EU-Qualifikationsrichtlinie (ABl. EU L 304 vom 30. April 2004, S. 12 ff.), dem Vorlagebeschluss des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - an den Europäischen Gerichtshof - EuGH - vom 7. Februar 2008 (10 C 23, 31 und 33.07 - juris) und neueren Erkenntnismitteln über die Lage der Yeziden in der Türkei und deren gewandeltes religiöses Selbstverständnis im Exil auseinander gesetzt.

Damit befand und befindet sich das Gericht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte in Asylerst- und Folgeverfahren (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 17. Juli 2007 - 11 LB 332/03 - juris, bestätigt durch BVerwG, Beschluss vom 23. April 2008 - 10 B 156.07 -; Beschlüsse vom 29. November 2007 - 11 LB 14/06 -, vom 2. September 2010 - 11 LA 563/09 - und jüngst vom 17. August 2012 - 11 LA 345 und 369/11 -; OVG NW, Urteil vom 31. August 2007 - 15 A 5128/04.A -; OVG ST, Urteil vom 24. Oktober 2007 - 3 L 303 und 380/04 - sowie Urteil vom 14. März 2012 - 3 L 152/09 - juris; OVG Saarland, Urteil vom 11. März 2010 - 2 A 401/08 -; Sächs. OVG Bautzen, Urteil vom 24. Februar 2011 - A 3 B 551/07 - juris). Die abweichenden Entscheidungen zur Frage der hinreichenden Verfolgungssicherheit von Yeziden vor den Gefahren einer erneuten mittelbaren Gruppenverfolgung wegen ihres Glaubens (OVG Rh.-Pf., Urteil vom 21. Februar 2008 - 10 A 11002/07 - und vom 5. Juni 2007 - 10 A 11576/06 -; daran anknüpfend: OVG Schleswig, Beschluss vom 22. August 2007 - 4 LA 40/07 - Asylmagazin 2007, 19) hat es insbesondere als nicht überzeugend erachtet, weil dort - anders als bei der eingehenden Würdigung des Niedersächsischen OVG - fünf Übergriffsfälle auf Yeziden in angreifbarer Weise zu der anderen Lageeinschätzung herangezogen werden und die bei der Annahme von Gruppenverfolgung selbst bei kleinen Gruppen gebotene Relationsbetrachtung von Größe der betroffenen Gruppe und Anzahl der Verfolgungsschläge in Zweifel gezogen wird. Außerdem leuchtete nicht ein, wieso das OVG Schleswig die Verfolgungsgefahren bei einer "Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit" auf Basis identischer Erkenntnismittel anders bewertet als bei der Gruppenverfolgung. An seiner o.g. Rechtsprechung hält das Gericht auch angesichts neuerer Erkenntnisquellen und insbesondere der hier eingeführten Angaben zu Gruppengröße, Verfolgungsschlägen und Lebensbedingungen der Yeziden insbesondere im Großraum V. fest.

Hierzu bedurfte es weder der zusätzlichen Anhörung benannter Repräsentanten yezidischer Organisationen (zu den aufgelisteten Vorfällen oder der zuletzt behaupteten Schändung yezidischer Gräber in letzter Zeit oder dem Anzeigeverhalten betroffener Yeziden) noch der Anhörung des Sachverständigen Azad B. zu seiner Auflistung noch der Einholung eines Sachverständigengutachtens oder einer Auskunft des Auswärtigen Amtes hierzu. Die entsprechenden Beweisanträge sind zum Teil unzulässig und zum Teil unerheblich. Aus verschiedenen Gründen besteht für das Gericht kein weiterer Aufklärungsbedarf. Soweit die Beweisanträge nicht auf objektive Tatsachen, sondern auf Würdigung sowie Bewertung von komplexen Verhältnissen und subjektiven Haltungen abzielen, sind sie bereits unzulässig. Die entscheidungserhebliche Frage einer mittelbaren Gruppenverfolgung von Yeziden in der Türkei ist eine Rechts- und Wertungsfrage. Dabei ist es originäre Aufgabe des Gerichts, bekannt gewordene Vorfälle in Gesamtschau mit übrigen Erkenntnismitteln und unter den für die Gruppenverfolgung bei kleinen Gruppen geltenden Besonderheiten zu würdigen. Ebenso ist es gerichtliche Aufgabe, die Würdigung der verwandtschaftlichen und sonstigen Nähe des Sachverständigen Azad B. und ein etwaiges potentielles Eigeninteresse seiner Informanten an den wiedergegebenen Vorfällen vorzunehmen, ebenso wie die Interessenlage der Autoren anderer Erkenntnismittel. Hierbei ist das Gericht hinreichend sachkundig auf der Grundlage des hier bereits in das Verfahren eingeführten Materials und der aktuellen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zur Frage der Gruppenverfolgung der Yeziden. Insoweit wird das bestehende Ermessen dahingehend ausgeübt, dass kein Sachverständigengutachten einzuholen ist und auch keine Zeugen zu vernehmen sind. Hierbei ist zu unterstellen, dass der Sachverständige Azad B. seine schriftlichen Erläuterungen in der überreichten Auflistung vom 8. August 2012 einschließlich des Nachtrags im Schriftsatz von dem Bevollmächtigten Dr. Härdle vom 8. Oktober 2012 so bestätigt, wie schriftlich ausgeführt und dies auch nach bestem Wissen und Gewissen so erstellt haben will. Ebenso ist zu unterstellen, dass die genannten Informanten die aufgelisteten Ereignisse so an ihn geschildert haben. Es handelt sich im Übrigen um einen unzulässigen Ausforschungsbeweis, soweit sich die Beweisanträge - etwa der von Rechtsanwalt Disli zu den Grabschändungen - auf bislang nicht substantiiert und innerhalb der Ausschlussfrist des Gerichts unterbreitete Umstände bezieht. An die eingeführten und unterstellten Tatsachen anknüpfende Wertungsfragen sind Aufgaben des Gerichts, das hierbei weder der Aufklärung weiterer Einzelheiten der aufgelisteten Vorfälle noch Wertungen und Einschätzungen sachverständiger Dritter bedarf.

Bei Gesamtschau auf die vorliegenden Erkenntnismittel und längerfristiger Betrachtung der Verhältnisse ist weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht von einer Verschlechterung der Lage der Yeziden in der Türkei seit etwa 2010 auszugehen. Die dieses Ergebnis teilende überwiegende Rechtsprechung beruht keineswegs auf veralteter Tatsachenfeststellung der Sachlage in den Jahren 2008/2009. Auch in jüngeren Entscheidungen, in denen die Verwaltungsgerichte Asylerstverfahren gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung beurteilt haben, gab es keinen Anlass zur weitergehenden Aufklärung oder zu begründeten Zweifeln an der verneinten mittelbaren Gruppenverfolgung (Nds. OVG, Beschlüsse vom 17. August 2012 - 11 LA 345 und 369/11 -; OVG ST, Urteil vom 14. März 2012 - 3 L 152/09 -; VG Oldenburg, Urteil vom 14. März 2012 - 5 A 2576, 2578 und 2580/11 -). Der die Lage der Yeziden in der Türkei betreffende Lagebericht vom 26. August 2012 (Seite 14 f.), der im Wesentlichen dem vorausgegangenen Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 8. April 2011 entspricht, fällt zwar recht kurz aus. Er betont die (seit längerem überwiegend anerkannte) Schwierigkeit, die genaue Anzahl der in der Türkei verbliebenen Yeziden in den Kreisen V./Provinz Sanli Urfa und B./Provinz Batman (zwischen etwa 400 bis 2000 Personen) einzuschätzen und räumt ein, dass es bei Yeziden "in Einzelfällen zu Schwierigkeiten mit den politisch gut vernetzten Clans in der Region (kommt), wenn sie versuchen, in der Vergangenheit zurückgelassenes und erstmals katastermäßig erfasstest Land als Eigentum registrieren zu lassen". Die Kürze und Zielrichtung dieser Darstellung zwingt nicht zur weiteren Aufklärung. Sie lässt sich - entgegen der Auffassung der Kläger - auch dahingehend interpretieren, dass es insoweit in den letzten Jahren gemessen an gemeldeten Vorkommnissen und lokalen Berichten keinen begründeten Anlass für weitergehende Untersuchungen und Darstellungen des Amtes gegeben hat. Auf die Richtigkeit dieser Annahme deutet auch hin, dass sich aus anderen der vielfältigen Erkenntnisquellen ebenfalls keine Hinweise erschließen, die auf einen signifikanten Umschwung der Verhältnisse hindeuten.

Für die hier vorgelegten Lageeinschätzungen und Auflistungen des Sachverständigen Azad B. vom 27. August 2011 und 8. August 2012 (einschließlich Nachtrag) sowie des Bevollmächtigten der Kläger Disli (Auflistung vom 12. Januar 2012) speziell für im Großraum V. verbliebene Yeziden und jüngere Verfolgungsschläge dort gilt, was schon anlässlich ähnlicher Darstellungen seitens der betroffenen Yeziden, ihrer Organisationen und exponierter Repräsentanten in vergleichbaren früheren Gerichtsverfahren zu beachten war. Solchen Darstellungen ist zwar zuzugeben, dass hier Informationen über unmittelbar Betroffene gewonnen und über ein Netz persönlicher Kontakte weitergegeben werden können, die so auf andere Weise nicht einfach zu ermitteln sind. Wegen der persönlichen Betroffenheit der Informationsgeber und des potentiellen Eigeninteresses an der Lagebewertung sind solche Informationen jedoch sorgfältig im Kontext mit anderen Erkenntnisquellen zu sehen und kritisch zu würdigen. Nach der vorgelegten Auflistung des Sachverständigen B. vom 8. August 2012 (einschließlich des Nachtrags im Schriftsatz von dem Bevollmächtigten Dr. Härdle vom 8. Oktober 2012) sind alleine im Distrikt V. die dort derzeit nur noch ansässigen 36 Familie mit insgesamt 186 Personen in der Zeit von März 2010 bis September 2012 etwa 34 Übergriffen auf die ansässigen Bewohner oder auf deren auf Besuch befindliche yezidische Verwandte ausgesetzt gewesen. Weitere oder andersartige Erkenntnisse ergeben sich aus den vorausgegangenen Auflistungen des Bevollmächtigten Disli, die dieser unter dem 12. Januar 2012 vorgelegt hat (vgl. etwa Blatt 51 der GA 5 A 2919/11), auch nach eigenem Vortrag nicht. Vielmehr sind dies Vorinformationen, die B. in seiner Auflistung vom 8. August 2012 aufbereitet hat. Dass es daneben noch eine Dunkelziffer nennenswerter zusätzlicher Übergriffe auf Yeziden geben könnte, erscheint dem Gericht bei dieser Art von (durch unmittelbare Befragung innerhalb der betroffenen Gruppe gewonnenen) Informationen unrealistisch. Die Belastbarkeit der aufgelisteten Vorfälle ist in der Sache sorgfältig und unter Berücksichtigung der Betroffenheit und des potentiellen Eigeninteresses der Informationsgeber an der Lagebewertung vorzunehmen. Insoweit fällt auf, dass im Zusammenhang mit einigen aufgelisteten Übergriffen die Betroffenen selbst oder auch Familienangehörige geflüchtet sein sollen und sich im Bundesgebiet ebenfalls in Asylverfahren befanden oder befinden. Dies birgt die Gefahr einer aus nahe liegendem Eigeninteresse verzerrten Darstellung der Geschehnisse. So hat sich bei eingehender Prüfung des individuellen Verfolgungsschicksals anderer Yeziden aus V. in jüngerer Zeit gezeigt, dass die Schilderungen nicht immer einer gerichtlichen Glaubhaftigkeitsprüfung standhalten (vgl. etwa: VG Oldenburg, Urteile vom 14. September 2011 - 5 A 624/11 - Benzer, vom 10. Oktober 2011 - 5 A 2090/11 - Benzer und vom 14. März 2012 - 5 A 2576, 2578 und 2580/11 - Arat).

Die schon in ähnlichen vorausgegangenen Gerichtsverfahren geäußerten Zweifel an der Unparteilichkeit des Sachverständigen B. (vgl. OVG ST, Urteil vom 14. März 2012 - 3 L 152/09 - S. 20 f. UA) bestehen grundsätzlich auch hier, weil er selbst nicht nur Yezide, sondern als entfernter Verwandter der Kläger über seine (Groß-)Familie selbst betroffen ist, sich maßgeblich auf Berichte von Zeugen vom Hörensagen verlassen hat und - zumindest in vorausgegangenen Verfahren (vgl. OVG ST, a.a.O.) - Formulierungen verwandt hatte, die Bedenken an seiner Unvoreingenommenheit aufkommen ließen. Dort wurde ihm zudem mit beachtlichen Gründen vorgehalten, er gehe von einem unzutreffenden Yeziden-Begriff aus und differenziere in der Bewertung der Vorfälle nicht hinreichend danach, ob die behaupteten Bedrohungen oder Übergriffe tatsächlich asylrechtlich (glaubensbedingt) motiviert sind oder zu der Gruppe nachbarrechtlicher Streitigkeiten zählen könnten, die unabhängig von der religiösen Zugehörigkeit häufig in ländlichen Bereichen der Türkei vorkommen (OVG ST, a.a.O. S. 21 UA).

Selbst wenn die dargestellten Zweifel zurückgestellt und nunmehr die Angaben in der Auflistung des Sachverständigen B. vom 8. August 2012 in die anzustellende Relationsbetrachtung einbezogen wird, rechtfertigt sich nach Auffassung des Gerichts nicht die Annahme, dass die Glaubensgemeinschaft der Yeziden mittlerweile (wieder) einer mittelbaren Gruppenverfolgung durch die muslimische Bevölkerung ausgesetzt ist. Denn auch unter Zugrundelegung seines Zahlenmaterials - etwa der von ihm zeitlich, örtlich und personenmäßig den yezidischen Großfamilien zugeordneten Verfolgungsschläge - ist nicht von einer solchen Verfolgungsdichte auszugehen, dass die Annahme einer Gruppenverfolgung begründet wäre. Selbst bei dieser Annahme lässt sich nicht der Schluss ziehen, dass die Verfolgungsschläge "gleichsam an der Tagesordnung wären" und damit so dicht und eng fallen, dass bei objektiver Betrachtung für jeden Yeziden und jede yezidische Familie die aktuelle Gefahr bestünde, selbst Opfer eines asylrelevanten Übergriffs zu werden (vgl. OVG ST, a.a.O. S. 24 UA zur Betrachtung von etwa 30 Verfolgungsschlägen auf eine Gruppe von etwa 400 Yeziden in der gesamten Türkei im Zeitraum 2002 bis 2006). Insoweit war u.a. zu berücksichtigen, dass die Übergriffe häufig den Charakter nachbarrechtlicher Landstreitigkeiten sowie kriminellen Unrechts tragen und auch eine nicht unwesentliche Zahl von zu Besuchszwecken in der Türkei befindlicher Yeziden betroffen war, die sich überwiegend im Ausland aufhalten. Außerdem fällt auf, dass die Betroffenen schon nach Darstellung von B. vielfach gar nicht bei örtlichen und ggf. überörtlichen Behörden Anzeigen und Beschwerden eingereicht haben, um erlittenes Unrecht klären und ggf. ahnden zu lassen. Vielmehr wird häufig unmittelbar die Flucht zu Verwandten ins Ausland veranlasst, wobei weiter auffällt, dass vielfach die Betroffenen nicht mit der gesamten Familie flüchten, sondern Familienmitglieder weiter vor Ort verbleiben. Dieses zurückhaltende Anzeigeverhalten bzw. Nichtausschöpfen innerstaatlicher Rechtsschutzmöglichkeiten lässt sich auch nicht plausibel mit Ängsten und schlechten Erfahrungen mit den türkischen Sicherheitsbehörden erklären, denn die verbliebenen yezidischen Großfamilien sind vielfach jedenfalls wirtschaftlich gut gestellt und damit grds. in der Lage, ggf. auch mit professioneller Hilfe ihre Rechte in Straf- und Zivilverfahren zu wahren, die die türkische Rechtsordnung auch ihnen eröffnet. Ohnehin lässt sich die innere Tatsache der jeweiligen Motivation für den zurückhaltenden Gebrauch innerstaatlicher Rechtschutzmöglichkeiten kaum aufklären, sondern nur bewerten.

Es kommt hinzu, dass bei der gebotenen längerfristigen Gesamtschau auf vielfältige Erkenntnismittel ein jüngerer qualitativer Umschwung der Verhältnisse zu Lasten der Yeziden nicht erkennbar wird, sondern nach wie vor der türkische Staat hinreichend schutzfähig und -willig ist, um den vorkommenden Übergriffen der muslimischen Mehrheitsbevölkerung entgegen zu treten. Nach wie vor garantiert die Türkei in ihrer Verfassung (Art. 24) und infolge völkerrechtlicher Vereinbarungen (etwa zur Europäischen Menschenrechtskonvention - EMRK) die Religions- und Gewissenfreiheit auch für die Yeziden, wenngleich die Ausübung anderer Religionen als der des Islam in der Praxis noch erheblichen rechtlichen und administrativen Einschränkungen unterliegt. Die vor dem Hintergrund des angestrebten Beitritts zur Europäischen Union und strenger Beobachtung der europäischen Öffentlichkeit angestrengten Bestrebungen, die Defizite in Gesetzgebung und Verwaltungspraxis abzubauen, mögen in letzter Zeit nachgelassen haben. Keineswegs lässt sich jedoch feststellen, dass die begonnenen Reformen rückgängig gemacht wurden und Angehörige religiöser Minderheiten wie Yeziden mittlerweile völlig rechtlos gestellt wären oder generell von türkischen Sicherheitsbehörden und Gerichten systematisch benachteiligt würden. So belegt etwa das von den Klägern selbst vorgelegte Urteil des Strafgerichts Urfa vom 4. März 2010 (Verurteilung von Muslimen zu Haftstrafen wegen Entführung und Geiselnahme eines yezidischen Kindes), dass es bei entsprechender Anzeige, ggf. nachdrücklichem Mitwirken der betroffenen Opfer und hinreichender Beweislage in Strafverfahren durchaus möglich ist, kriminellen Übergriffen und Missachtungen Andersgläubiger zu begegnen. Solche und ähnliche nationale Rechtsschutzmöglichkeiten gilt es trotz aller Schwierigkeiten, Kosten und Hemmnisse auszuschöpfen, die bisweilen auftreten können. Beweisschwierigkeiten, die zu für die betroffenen Opfer unbefriedigenden Verfahrenseinstellungen führen können, gibt es auch in Strafverfahren besser organisierter Staaten; sie können nicht ohne Weiteres als Beleg einer grundsätzlichen Schutzunwilligkeit oder -fähigkeit angeführt werden. Die Einschaltung überörtlicher Instanzen bietet sich da an, wo auf örtlicher Ebene Nähe oder Verstrickung der Sicherheitsbehörden mit verdächtigen Tätern oder deren Großfamilie zu besorgen sind. Gegen bedeutsame Verstöße und Versäumnisse türkischer Behörden oder Gerichte im Hinblick auf nach der EMRK geschützte Rechtsgüter kann schließlich in letzter Konsequenz auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte angerufen werden, zumal nicht ersichtlich wird, dass die Türkei dessen sie betreffende Urteile systematisch missachtet. In absehbarer Zeit droht auch keine massenhafte zwangsweise oder freiwillige Rückkehr von Yeziden in die Türkei mit etwaigen destabilisierenden Folgewirkungen. Denn die Bundesrepublik Deutschland hat in den meisten Fällen ihre zunächst flächendeckende Widerrufe früherer Schutzgewährungen wegen Gruppenverfolgung aus rechtspolitischen Gründen (wieder) aufgehoben und führt allenfalls eine überschaubare Anzahl unzureichend integrierter Yeziden oder erfolglose Asylerstbewerber aus jüngerer Zeit in deren Heimatland zurück (vgl. OVG ST, Urteil vom 14. März 2012 - 3 L 152/09 - S. 29 UA). Insgesamt bestätigt sich daher die überwiegende Lageeinschätzung der Verwaltungsgerichte, dass sich das verbleibende Gefährdungspotential der Yeziden im Bereich des allgemeinen Lebensrisikos bewegt.

Aus der zitierten Rede des Innenministers Idris Naim Sahin vor dem türkischen Parlament am 17. April 2012 lässt sich ein qualitativer Umschwung der die Yeziden betreffenden Verhältnisse in der Türkei nicht ableiten. Sie bezieht sich nur am Rande auf Yeziden und deren Glauben, ist als - wenngleich scharfer - politischer Debattenbeitrag zu werten und stellt die geltende nationale Rechtsordnung einschließlich der bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten unmittelbar nicht in Frage. Ebenso wenig kommt der Lageeinschätzung des im Bundesgebiet lebenden Yeziden Y. in dessen Leserbrief der Zeitung "V." vom 6. Juli 2012 ein besonderes Gewicht zu. Sie ist als Ansicht einer betroffenen und engagierten Privatperson zu werten, die sich nicht ohne weiteres verallgemeinern lässt. Im Übrigen könnte selbst aus dem Umstand, dass die Staatsanwaltschaft V. nicht förmlich auf seine Eingabe und Kritik an Ermittlungstätigkeiten bei Anzeigen von Yeziden reagiert, auf eine generelle Schutzunwilligkeit geschlossen werden. Vielmehr obliegt es in erster Linie jedem Betroffenen selbst, in seinem eigenen Verfahren von bestehenden Mitwirkungs- und Beschwerderechten - ggf. mit anwaltlicher Hilfe - Gebrauch zu machen. Auch in Deutschland kann es vorkommen, dass Behörden auf Eingaben nicht verfahrensbeteiligter Dritter nicht reagieren. Was eine vor kurzem beschlossene Schulreform betreffend religiöse Koranschulen („Imam-Hatip-Schulen") angeht, erschließt sich auch hieraus kein bedeutsamer qualitativer Umschwung der Verhältnisse in jüngerer Zeit. Es ist schon nicht neu, dass der islamischer Glauben eine vorrangige Stellung im türkischen Schulwesen hat und dies bisweilen zu Konflikten mit Angehörigen von Minderheitenreligionen führt. Dementsprechend haben Yeziden in vorausgegangenen Asylverfahren regelmäßig auf schulische Schwierigkeiten sowie Benachteiligungen hingewiesen und diese sind von den Gerichten gewürdigt worden. Zudem bleibt abzuwarten, wie sich die tatsächliche Umsetzung in der Schulpraxis auswirkt, die der geltenden Rechtsordnung einschließlich der verfassungs- und völkerrechtlich garantierten Religions- und Gewissenfreiheit genügen müsste. Künftig ggf. von Einschränkungen Betroffene wären auch in diesem Bereich gehalten, bestehende Schutzmöglichkeiten in der nationalen Rechtsordnung auszuschöpfen.

Gegen die Annahme eines qualitativen Umschwungs der Verhältnisse zu Lasten der Yeziden sprechen schließlich verschiedene nochmals zu betonende Umstände: Nach wie vor kehren in Einzelfällen Yeziden in die Türkei zurück und erhalten dort ggf. Unterstützung durch die türkische Regierung (vgl. OVG ST, Urteil vom 14. März 2012 - 3 L 152/09 - S. 24 UA unter Hinweis auf die Stellungnahme des Sachverständigen Kamil Taylan vom 21. Februar 2011 an das OVG Saarland). Belastbare Meldungen über erhebliche und dauerhafte Schwierigkeiten zwangsweise zurückgeführter Yeziden sind dem Gericht nicht bekannt geworden. Zahlreiche Exil-Yeziden mit dauerhaften Aufenthaltsrechten in Deutschland oder anderen nordeuropäischen Staaten halten sich zeitweise zu Besuchs- und Geschäftszwecken in der Türkei auf, gehen also selbst nicht von einer flächendeckenden und unausweichlichen Gefährdungslage aus. Einige der im Ausland verstorbenen Yeziden lassen sich im Heimatland bestatten. Häufig reisen die in der Türkei verbliebenen Yeziden - so auch die Klägerin zu 1) des Verfahrens 5 A 2919/11 und ein Teil ihrer Kinder -, bisweilen sogar mehrfach, zu Besuchszwecken zu ihren im Ausland befindlichen Verwandten und auch wieder zurück, obwohl die Verhältnisse der letzten Jahre sich im Wesentlichen ähneln. Ein Teil der Kern- und Großfamilien bleibt regelmäßig selbst dann in der Türkei, wenn andere Angehörige unter Hinweis auf eine angebliche Gruppenverfolgung flüchten, und ist offenbar weiterhin in der Lage, die eigene Landwirtschaft oder andere Geschäfte weiter zu betreiben. Auffallend groß erscheint dem Gericht nach seiner Erfahrung aus entsprechenden Asylverfahren der letzten Jahre der Anteil von Yeziden, die in guten wirtschaftlichen Verhältnissen leben und ihren Kindern den Besuch weiterführender Schulen (auch Gymnasien) sowie qualifizierte Berufsausbildungen ermöglichen.

Auf individuelle Verfolgungsgründe i.S.v. § 60 Abs. 1 AufenthG können sich die Kläger nicht mit Erfolg berufen. Gem. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Ein in diesem Zusammenhang bedeutsames individuelles Verfolgungsschicksal hat die Klägerin zu 1) des Verfahrens 5 A 2919/11 weder für sich noch für ihre minderjährigen Kinder glaubhaft unterbreitet. Angesichts der Begleitumstände ihres Asylantrags (etwa Voraufenthalte im Bundesgebiet 2001 und 2009, vorbereitete Einreise mit Visum, keine unverzügliche Antragstellung, keine glaubhafte zeitnahe Flucht des Ehemanns/Vaters und des erwachsenen Sohnes C.) sowie der vagen, unsubstantiierten und widersprüchlichen Angaben ist ihr Vorbringen schon unglaubhaft. Außerdem würden sich die angegebenen Beeinträchtigungen, Beleidigungen und Beschimpfungen - ihre Wahrheit entgegen der vorrangigen Einschätzung unterstellt - unterhalb der Schwelle verfolgungsrelevanter Handlungen bewegen, sofern es nicht bereits teilweise an dem erforderlichen persönlichen Bezug und zeitlichen Zusammenhang zwischen behaupteten Verfolgungsgeschehen und Flucht fehlte.

Das Gericht teilt zudem die Einschätzung des Bundesamtes, dass die attestierten Beschwerden der Klägerin zu 1) des Verfahrens 5 A 2919/11 (reaktive Depression, Refluxösophagitis und Gastritis, HWS-Syndrom, Dorsalgie, Cephalgie, vgl. Arztbericht der Dipl. Medizinerin Rubel vom 30. September 2011, Suizidgefährdung) in der Türkei hinreichend behandelbar sind, um die für § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderliche besondere konkrete Gefahrenlage auszuschließen.

Die Behandlung psychischer Erkrankungen einschließlich posttraumatischer Belastungsstörungen ist in der Türkei grundsätzlich gewährleistet (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 28. Februar 2005 - 11 LB 121/04 -; OVG NW, Urteil vom 18. Januar 2005 - 8 A 1242/03.A -, InfAuslR 2005, 281; VG Oldenburg, Urteil vom 16. Juli 2007 - 5 A 5367/05 -; VG Stuttgart, Urteil vom 09. November 2010 - A 6 K 430/09 -). Diese Einschätzung wird auch in den Lageberichten Türkei des Auswärtigen Amtes vom 11. April 2010 (S. 36), vom 8. April 2011 (S. 24 f. und 34 f.) und vom 26. August 2012 (S. 29 f. und 35 f.) bestätigt. Danach garantiert das Gesundheitswesen der Türkei psychisch kranken Menschen umfassenden Zugang zu Gesundheitsdiensten und Beratungsstellen. Dauereinrichtungen für psychisch Kranke wie offene oder geschlossene Psychiatrien, betreute Wohnheime, gibt es jedoch nur in begrenzter Kapazität für chronische Fälle, in denen familiäre Unterstützung nicht gewährleistet ist oder die eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellen. Auch bei der Behandlung psychischer Erkrankungen ist - wie für alle anderen medizinischen Bereiche - ein ständig steigender Standard festzustellen. Entsprechendes gilt für die Behandelbarkeit der physischen Erkrankungen der Klägerin.

Ferner ist in der Rechtsprechung geklärt, dass es nicht nur auf die allgemeine Möglichkeit der notwendigen ärztlichen Behandlung oder Medikation im Heimatland ankommt, sondern der erkrankte Ausländer muss diese auch tatsächlich erlangen können, d. h. sie muss für ihn individuell aus finanziellen oder sonstigen Gründen erreichbar sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2002 - 1 C 1.02 - DVBl. 2003, 463). Unabhängig davon, dass die Klägerin zu 1) des Verfahrens 5 A 2919/11 mittels einer von der Gesundheitsverwaltung auszustellenden "Grünen Karte" ("yesil kart") kostenlose medizinische Versorgung im staatlichen Gesundheitssystem in Anspruch nehmen könnte - was ihr nach eigenem Vorbringen auch bereits vor Ausreise gelungen ist -, steht ihr mit zu erwartender Unterstützung ihrer finanziell gut gestellten Familie im In- und Ausland die Behandlung in privaten Kliniken und Einrichtungen offen. Insoweit ist auf den traditionellen Zusammenhalt in den yezidischen Großfamilien zu verweisen, so dass die Klägerin zu 1) des Verfahrens 5 A 2919/11 grundsätzlich auch mit finanzieller Unterstützung ihres offenbar nach wie vor im Heimatland lebenden Ehemanns und erwachsenen Sohnes C., ggf. sogar ihrer zahlreichen in Deutschland lebenden Angehörigen rechnen kann. Nach eigenen Angaben der Klägerin hat die Familie in der Türkei Grundeigentum, das sie landwirtschaftlich nutzt.

Damit ist im Ergebnis ausgeschlossen, dass sich die bei der Klägerin zu 1) des Verfahrens 5 A 2919/11 attestierten Erkrankungen infolge fehlender medizinischer Behandlungsmöglichkeiten in der Türkei wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern wird. Dass der Standard der gesundheitlichen Versorgung in der Türkei nicht an den bundesdeutschen Standard heranreicht, ist rechtlich ohne Bedeutung.

Ebenso wenig ist davon auszugehen, dass die Garantie eines religiösen Existenzminimums für die Kläger gefährdet sein könnte (ebenso: Nds. OVG, Beschlüsse vom 17. August 2012 - 11 LA 345 und 369/11 -; OVG ST, Urteil vom 14. März 2012 - 3 L 152/09 - S. 30 ff. U.A.). Eine hinreichende religiöse Betreuung dürfte - wie bisher - jedenfalls in den wiederbesiedelten Yezidendörfern unschwer möglich sein. Es gibt dort zumindest noch einen alten Sheik der Filation Sheik Saeükhuekr und eine Sheikfamilie der Filation Sicaden. Nach weitgehend übereinstimmenden wissenschaftlichen Erkenntnissen handelt es sich bei der Religion der Yeziden wenigstens überwiegend um eine sog. Geheimreligion, da viele Riten unter Ausschluss anderer Glaubenszugehöriger nicht öffentlich praktiziert werden, so dass sich die Rechtslage im Hinblick auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs - EuGH - zur Reichweite des Schutzes religiöser Betätigung nach der Qualifikationsrichtlinie (vgl. EuGH, Urteil vom 5. September 2012 - C-71/11 und C-99/11 - juris) nicht bedeutsam anders darstellt.