Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 26.10.2006, Az.: 3 B 38/06
Anforderungen an die Gefahrprognose hinsichtlich der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung einer Versammlung; Wahrscheinlichkeit massiver Übergriffe und Auseinandersetzungen zwischen Versammlungsteilnehmern, autonomen Gruppen, Gegendemonstranten und der Polizei; Unberechenbarkeit der Menge der Demonstranten, Autonomen und Gegendemonstranten; Ausnahmezustand für das gesamte Stadtgebiet; Rechtfertigung eines vollständigen Versammlungsverbots aufgrund des polizeilichen Notstands; Zulässigkeit eines ausschließlichen Vorgehens gegen "Nichtstörer"; Schlagwortartige Kennzeichnung des polizeilichen Notstands; Stationäre Kundgebung als Modifikation der Versammlung
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 26.10.2006
- Aktenzeichen
- 3 B 38/06
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2006, 32038
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGLUENE:2006:1026.3B38.06.0A
Rechtsgrundlagen
- Art. 8 GG
- § 15 Abs. 1 VersG
- § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO
Verfahrensgegenstand
Versammlungsrecht
Redaktioneller Leitsatz
Da in Niedersachsen das Widerspruchsverfahren weitgehend abgeschafft ist, kann ein Eilantrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zulässigerweise frühestens mit der Klageerhebung gestellt werden.
In der Verwaltungsrechtssache [...]
hat das Verwaltungsgericht Lüneburg - 3. Kammer -
am 26. Oktober 2006
beschlossen:
Tenor:
- 1.
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
- 2.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller wehrt sich gegen den Sofortvollzug einer versammlungsrechtlichen Verbotsverfügung.
Der Antragsteller meldete für den 28. Oktober 2006 einen Umzug in Celle an. Dieser soll von 16:00 Uhr - 20:00 Uhr stattfinden, es werden 100 - 200 Teilnehmer zu einem Umzug durch die Stadt erwartet, und das Thema soll sein: "Gegen linke Gewalt und behördliche Repression!".
Die Antragsgegnerin verbot diese Versammlung mit Verfügung vom 20. Oktober 2006, verbot zugleich alle Ersatzveranstaltungen in Celle, und sie ordnete die sofortige Vollziehung ihrer Verbotsverfügung an. Zur Begründung führte die Antragsgegnerin aus, der Antragsteller sei ein bundesweit agierender Rechtsextremist. Es sei mit Übergriffen zwischen Versammlungsteilnehmern, autonomen Gruppen, Gegendemonstranten und der Polizei zu rechnen. Zum Schutz der Versammlung und der Begleitung der angemeldeten Gegendemonstrationen seien rund 2.500 Polizeibeamte erforderlich, es könnten jedoch lediglich 800 Beamte gestellt werden. Es bestehe ein polizeilicher Notstand, der es rechtfertige, die Versammlung vollständig zu verbieten.
Der Antragsteller hat am 24. Oktober 2006 vorläufigen Rechtsschutz begehrt, Klage hat er jedoch nicht erhoben.
II.
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 VwGO ist unzulässig und unbegründet.
1.
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 VwGO ist unzulässig, da der Antragsteller keine Klage erhoben hat.
Nach § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO haben Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 VwGO entfällt die aufschiebende Wirkung in den Fällen, in denen - wie hier - die sofortige Vollziehung des Verwaltungsaktes im öffentlichen Interesse besonders angeordnet wird. Nach Abs. 5 Satz 1 und 2 a.a.O. kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung jedoch wiederherstellen, wobei der Antrag schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig ist.
Ausgehend von dieser Vorschrift ist der Antrag unzulässig.
Denn der Aussetzungsantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO kann zulässigerweise erst gestellt werden, wenn der jeweilige Antragsteller - was hier nicht geschehen ist - Anfechtungsklage erhoben hat. Erst die Klage löst die aufschiebende Wirkung aus, die vom Gericht wiederhergestellt werden kann. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines noch nicht eingelegten Rechtsbehelfs kann nicht beantragt werden, da § 80 Abs. 5 VwGO nicht der Gewährung vorbeugenden Rechtsschutzes dient. Wenn es in § 80 Abs. 5 Satz 2 VwGO heißt, dass der Antrag schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig ist, betrifft dies den Fall, in dem die aufschiebende Wirkung eines eingelegten Widerspruches betroffen ist. Ist - wie in Niedersachsen - das Widerspruchsverfahren weitgehend (auch für Fälle der vorliegenden Art) abgeschafft, kann der Eilantrag frühestens mit der Klageerhebung gestellt werden. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus Art. 19 Abs. 4 GG und dem Zweck der Rechtsbehelfsfristen, dem Betreffenden eine Überlegungszeit einzuräumen (so aber Kopp/Schenke, VwGO, 14. Auflage 2005, § 80 Randnr. 139). Denn wer Zeit zur Überlegung hat, ob er einen Aussetzungsantrag stellen will, hat auch Zeit zur Überlegung, ob er eine Anfechtungsklage erheben will. Zudem besteht für vorläufigen Rechtsschutz kein Bedürfnis, wenn ein durch Klage offengehaltenes Hauptsacheverfahren (noch) gar nicht vorhanden ist (vgl. Schoch/Schmidt-Assmann/Pietzner, VwGO, Kommentar, § 80 Randnr. 314 f; Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Auflage 1998, Randnr. 952; a.A.: Kopp/u.a., a.a.O.).
2.
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist auch unbegründet.
Im Rahmen des § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO hat das Gericht im Hinblick auf den Sofortvollzug eine eigene Ermessensentscheidung aufgrund der beiderseitigen Interessen zu treffen. Bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes, überwiegt das Interesse des Rechtsschutzsuchenden am Aufschub des Vollzuges, weil am Sofortvollzug eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes ein öffentliches Interesse nicht besteht. Ist der angefochtene Verwaltungsakt demgegenüber offensichtlich rechtmäßig und besteht ein besonderes öffentliches Vollzugsinteresse, ist der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abzulehnen.
Hiervon ausgehend kann der bei Gericht gestellte Antrag keinen Erfolg haben. Denn die Verbotsverfügung der Antragsgegnerin ist offensichtlich rechtmäßig (a., b.), und am Sofortvollzug der Verbotsverfügung besteht ein besonderes öffentliches Interesse (c).
a)
Das durch die Antragsgegnerin geregelte Versammlungsverbot in Ziffer 1. der Verfügung ist offensichtlich rechtmäßig. Es findet seine Rechtsgrundlage im Versammlungsgesetz - VersG -. Das Versammlungsverbot ist nach § 15 Abs. 1 VersG inhaltlich gerechtfertigt.
Nach § 15 Abs. 1 VersG kann die zuständige Behörde die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzugs unmittelbar gefährdet ist. Durch diese Vorschrift wird das Grundrecht des Art. 8 GG, wonach alle Deutschen das Recht haben, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln, beschränkt. Die Möglichkeit der Beschränkung der Versammlungsfreiheit ist in Art. 8 Abs. 2 GG ausdrücklich vorgesehen.
Die Frage, ob die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzugs unmittelbar gefährdet ist, unterliegt als polizeiliche Gefahrenprognose einer vollständigen gerichtlichen Überprüfung.
Der Begriff der öffentlichen Sicherheit umfasst den Schutz zentraler Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen, insgesamt die Integrität der Rechtsordnung, den Bestand und die Funktionsfähigkeit des Staates und seiner Organe.
Die Gefahrenprognose hat sich gemäß § 15 Abs. 1 VersG auf die zur Zeit des Erlasses der Verfügung "erkennbaren Umstände" zu beziehen. Der Begriff Umstände umfasst Tatsachen, Verhältnisse, Sachverhalte und sonstige Einzelheiten. Umstände sind "erkennbar", wenn sie offen zutage treten, oder wenn sie der zuständigen Behörde bei dem von ihr zu fordernden Bemühen um Sachverhaltsaufklärung zur Verfügung stehen. An die Gefahrenprognose dürfen keine zu geringen Anforderungen gestellt werden. Bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen reichen nicht aus. Die zuständige Behörde darf - anders ausgedrückt - eine die Versammlung einschränkende Verfügung erst erlassen, wenn bei verständiger Würdigung der erkennbaren Umstände die Durchführung der Versammlung mit Wahrscheinlichkeit eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung verursacht (BVerfG, Beschl. v. 14.5.1985 - 1 BvR 233, 341/81 - BVerfGE 69, 315 - Brokdorf -). Dabei können an die Wahrscheinlichkeit um so geringere Anforderungen gestellt werden, je größer und folgenschwerer der drohende Schaden ist (Dietel/Gintzel/Kniesel, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, 14. Aufl. 2005, § 15 Rdnr. 30).
aa)
Im vorliegenden Fall wäre bei Durchführung der angemeldeten Versammlung in Celle die öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährdet.
Die Prognose der Antragsgegnerin über die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit wird vom Gericht im vollen Umfang geteilt. Die Antragsgegnerin hat ausgeführt, es sei mit massiven Übergriffen und Auseinandersetzungen zwischen Versammlungsteilnehmern, autonomen Gruppen, Gegendemonstranten und der Polizei zu rechnen. Es werde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Eigentum und Gesundheit von unbeteiligten Dritten, von Polizeibeamten und Versammlungsteilnehmern gefährdet.
Nach den Angaben des Antragstellers ist mit bis zu 200 Versammlungsteilnehmern zu rechnen. Für Gegendemonstrationen sind bis zu 600 Teilnehmer angemeldet. Die Antragsgegnerin befürchtet, dass sich die Zahl der Demonstranten, der Autonomen und der Gegendemonstranten erhöhen wird. Die Antragsgegnerin stützt sich dabei auf Vorfälle in Göttingen am 29. Oktober 2005. Dort hatte die Polizei mit 500 militanten Autonomen gerechnet, erschienen waren jedoch 1.500. Die Demonstration musste aufgrund der Ausschreitungen von linken Autonomen vorzeitig abgebrochen werden, trotz des Einsatzes von rund 4.000 Polizeibeamten. Diese haben es seinerzeit nicht verhindern können, dass insgesamt 70 Personen so erheblich verletzt worden sind, dass sie ärztlich versorgt werden mussten, sie konnten es auch nicht verhindern, dass Sachschaden in Höhe von rund 90.000 EUR entstand.
Die Berufung der Antragsgegnerin auf die "Göttinger Verhältnisse" zur Gefahrenprognose in Celle ist zulässig. Die Antragsgegnerin geht zu Recht davon aus, dass die Gefahr besteht, dass sich die Ereignisse von Göttingen in Celle wiederholen können.
Die innere und äußere Verbindung von Göttingen zu Celle ergibt sich aus Folgendem: Am 28. Oktober 2006 soll nicht nur die Versammlung in Celle stattfinden, vielmehr findet vorher schon eine Versammlung in Göttingen statt. Hier ist eine stationäre Versammlung von 12:00 Uhr bis 14:00 Uhr auf dem Bahnhofsvorplatz zugelassen worden. Der Einsatz in Göttingen erfordert Polizeikräfte von rund 6.000 Polizeibeamten. Die Antragsgegnerin befürchtet zu Recht, dass nach Abschluss der Demonstration in Göttingen ein Teil der Demonstranten nach Celle fährt, wo die Versammlung um 16:00 Uhr beginnen soll. So ist bereits in der Verbotsverfügung darauf hingewiesen worden, dass Herr xxx als Mitglied des Aktionsbündnisses freier Nationalisten zu einer Demonstrationsteilnahme in Göttingen und anschließend in Celle aufgerufen hat. Nach einer Stellungnahme der Polizeidirektion Lüneburg vom 25. Oktober gegenüber der Stadt Celle ist darauf hingewiesen wird, dass der Anmelder der NPD-Versammlung in Göttingen in einem Telefongespräch deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass eine Teilnahme der Göttinger Versammlungsteilnehmer auch in Celle "eine beschlossene Sache" sei. Allerdings ist nicht nur zu befürchten, dass Angehörige der rechten Szene sowohl in Göttingen als auch anschließend in Celle demonstrieren wollen, sondern auch Gegendemonstranten. So hat die Antragsgegnerin einen Internetaufruf vorgelegt, in dem es heißt:
Die Nazis rufen dazu auf, nach dem bereits für 12:00 Uhr angesetzten Termin in Göttingen nach Celle zu kommen. Somit besteht ein direkter Zusammenhang zwischen beiden Aufmärschen. Wir rufen alle Celler und Cellerinnen dazu auf, sich am 28. Oktober den Nazis entgegen zu stellen. Den Nazi-Aufmarsch verhindern! Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen!
Die Polizeidirektion Lüneburg hat in ihrem Schreiben vom 25. Oktober 2006 an die Antragsgegnerin ergänzt, dass auch die antifaschistische Aktion Hannover und die "Revolution Wolfsburg - unabhängige Jugendorganisation" in Celle demonstrieren wollen.
Damit befürchtet die Antragsgegnerin zu Recht, dass die Gefahr besteht, dass wegen der Unberechenbarkeit der Menge der Demonstranten, Autonomen und Gegendemonstranten mit einem "Ausnahmezustand für das gesamte Stadtgebiet" gerechnet werden muss. Die Antragsgegnerin befürchtet auch zu Recht in diesem Zusammenhang ähnliche Schadensfolgen wie in Göttingen, als es trotz hohen Polizeieinsatzes zu zahlreichen Verletzungen und zu Sachschaden in erheblichem Ausmaß gekommen ist. Der befürchtete und drohende Schaden ist groß und folgenschwer, so dass an die Schadenswahrscheinlichkeit geringere Anforderungen zu stellen sind.
Bei verständiger Würdigung der erkennbaren Umstände ist demzufolge bei Durchführung der Versammlung mit Wahrscheinlichkeit mit einer unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zu rechnen. Es ist der Schluss gerechtfertigt, dass es durch gewaltbereite Gegner des Antragstellers mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Gewalttätigkeiten und damit zu einer Verletzung elementarer Rechtsgüter bei Durchführung des angekündigten Demonstrationsaufzuges kommen wird. Eine versammlungsspezifische Gefahr (§ 15 Abs. 1 VersG) liegt somit vor. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die öffentliche Sicherheit auch dann gefährdet sein kann, wenn Rechtsgütergefährdungen nicht von der Versammlung selbst und insgesamt ausgehen, sondern von einer Minderheit oder von Dritten, die aus Anlass der Versammlung und gegebenenfalls parallel zu deren Zielsetzung zu Störern werden. Dies folgt aus dem Wortlaut des § 15 Abs. 1 VersG unmittelbar. Wenn es dort heißt, dass die öffentliche Sicherheit oder Ordnung beiDurchführung unmittelbar gefährdet ist, zeigt dies an, dass es nicht darauf ankommt, ob die Versammlung insgesamt, eine Minderheit der Versammlung oder Dritte, die sich außerhalb der Versammlung bewegen, für die Gefahr verantwortlich sind.
bb)
Das vollständige Versammlungsverbot ist aufgrund eines polizeilichen Notstandes gerechtfertigt.
Die Annahme eines polizeilichen Notstandes setzt im Versammlungsrecht voraus, dass die von störenden Dritten ausgehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit auf andere Weise - als durch das Vorgehen gegen "Nichtstörer" und die Einschränkung ihres Versammlungsrechtes - nicht oder nicht rechtzeitig abgewehrt werden kann, oder Maßnahmen gegen Störer keinen Erfolg versprechen, oder die Behörde nicht über ausreichende eigene Mittel verfügt, um die gefährdeten Rechtsgüter wirksam schützen zu können. Das Gebot, vor der Inanspruchnahme von Nichtstörern und einer Einschränkung ihres Versammlungsrechtes eigene Kräfte der Polizei gegen die Störer einzusetzen, steht indes unter dem Vorbehalt der Verfügbarkeit solcher Kräfte. Es liegt in der Entscheidung der Polizeibehörde, wie sie die Vielzahl ihrer konkreten Aufgaben bewältigt (BVerfG, Beschl. v. 26.3.2001 -1 BvQ 15/01 -, NJW2001, 1411). Die Frage, ob ein polizeilicher Notstand vorliegt, ist stets auch eine Frage der allgemeinen Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen (Tolle, NVwZ 2001, 153, 155). Sie ist weiter eine Frage des Ermessens, das der Behörde nach § 15 VersG eingeräumt ist, und das vom Verwaltungsgericht im Rahmen des § 114 VwGOüberprüft werden kann. Der polizeiliche Notstand im Versammlungsrecht ist letztlich kein Rechtsinstitut, das der Polizei ein freies Auswahlermessen einräumt, entweder den Störer oder den Nichtstörer in Anspruch zu nehmen. Die Polizei kann Maßnahmen gegenüber den Nichtstörern durch Einschränkung ihrer Versammlungsfreiheit nicht schon allein deshalb ergreifen, weil Maßnahmen den Nichtstörern gegenüber einfacher und leichter zu vollziehen und durchzusetzen sind als Maßnahmen gegenüber den Störern (Rühl, NVwZ 1988, 577, 583). In die Abwägungen, ob ein polizeilicher Notstand vorliegt, sind nicht nur polizeitaktische Erwägungen einzubeziehen, sondern auch das Verhältnis zwischen der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintrittes und der Schwere des befürchteten Schadens. Schlagwortartig und zugespitzt ist der polizeiliche Notstand dadurch gekennzeichnet, dass die Polizei letztlich nur die Wahl hat, die Gefahr durch die Inanspruchnahme des Nichtstörers oder gar nicht abzuwehren (Rühl, a.a.O.), wenn die Polizei nicht in der Lage ist, Störungen der öffentlichen Sicherheit wegen der großen Zahl der Teilnehmer oder wegen ungünstiger örtlicher Verhältnisse zu verhindern, oder wenn ein Einschreiten gegen Störer unangemessen (unverhältnismäßig i. e. S.) wäre. Der Schutz der Versammlungsfreiheit darf Polizeikräfte nicht so massiv binden, dass die Wahrnehmung sonstiger zumindest gleichwertiger polizeilicher Aufgaben in Frage gestellt wird (Dietel/u.a., a.a.O., § 15 Rdnr. 42).
(1.)
Im vorliegenden Fall liegen die Voraussetzungen für die Annahme eines solchen Notstandes vor.
Der Polizei ist es nicht möglich, die Versammlung des Antragstellers zu schützen. Ein ausreichender polizeilicher Schutz ist nicht gewährleistet. Die Antragsgegnerin hat dargelegt, dass für den Schutz der Versammlung des Antragstellers sowie die Begleitung der angemeldeten Gegendemonstrationen rund 2.500 Polizeibeamte erforderlich sind, und sie hat weiter dargelegt, dass eine solche Anzahl nicht zur Verfügung steht, ohne sonstige Sicherheitsinteressen gravierend zu vernachlässigen. Es könnten lediglich rund 800 Polizeibeamte gestellt werden.
Diese Zahlen sind vom Antragsteller nicht grundlegend in Frage gestellt worden.
Die Einschätzung der Antragsgegnerin, dass nur 800 Polizeibeamte zur Verfügung stehen, gründet sich auf die Stellungnahme der Polizeidirektion Lüneburg vom 25. Oktober 2006 gegenüber der Antragsgegnerin. Danach stehen (lediglich) sieben Hundertschaften zur Verfügung. Aufgrund der Zahlenangaben hat der Antragsteller allerdings die Zahl von 892 Personen errechnet. Auch dies liegt weit unter den benötigten 2.500 Kräften. Weitere Kräfte stehen auch nach einer durch das Innenministerium vorgenommen Abfrage nicht zur Verfügung. In dem Zusammenhang mit den zur Verfügung stehenden Kräften hat die Antragsgegnerin schlüssig dargelegt, dass der Einsatz in Göttingen bei der NPD-Demonstration schon rund 6.000 Polizeikräfte bindet. Darüber hinaus werden Polizeikräfte gebraucht bei Fußballspielen in Braunschweig, Emden und Wilhelmshaven sowie bei der Verabschiedung des Oberbürgermeisters von Hannover. Auch für den bevorstehenden Castortransport sind schon Kräfte gebunden. Zusätzliche Sicherheitskräfte können auch nicht dadurch nach Celle geschafft werden, dass die Polizeikräfte unmittelbar nach der Versammlung in Göttingen nach Celle verlegt werden. In diesem Zusammenhang hat die Antragsgegnerin zu Recht darauf hingewiesen, dass sich nicht absehen lässt, wie lange nach Beendigung der NPD-Kundgebung die Polizeikräfte in Göttingen aufgrund der Gefährdungslage im Stadtgebiet dort gebunden sein werden.
Die für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit erforderlichen 2.500 Polizeibeamten sind ebenfalls nachvollziehbar begründet. Insoweit hat die Antragsgegnerin ausgeführt, es habe im Januar 2006 einen vergleichbaren Einsatz gegeben, der ein ähnliches Kräfteaufgebot erfordert habe. Unter Berücksichtigung des Gefährdungspotentiales beim Aufeinandertreffen von "rechten" und "linken und autonomen" Gruppen ist die polizeiliche Einschätzung, es würden 2.500 Kräfte benötigt, nicht erkennbar fehlerhaft. Immerhin liegt es in der Entscheidung der Polizeibehörde, wie sie ihre konkreten Aufgaben bewältigt und wie viele Kräfte sie zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit einsetzt.
(2.)
Modifikationen oder Auflagen zur Gefahrenabwehr reichen nicht aus.
Auszugehen ist davon, dass ein vollständiges Versammlungsverbot mit Rücksicht auf die hohe Bedeutung des Grundrechtes aus Art. 8 GG unverhältnismäßig ist, wenn die von gewaltbereiten Gegendemonstranten zur erwartenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit durch Beschränkung der Versammlung auf eine stationäre Kundgebung und/oder andere Auflagen erheblich verringert werden können (OVG Lüneburg, Beschl. v. 5.5.2006 -11 ME 117/06-).
Eine Verlegung der Versammlung auf einen anderen Termin hat der Antragsteller ausgeschlossen. Auf Blatt 6 der Verbotsverfügung wird ausgeführt, dass der Antragsteller in dem Kooperationsgespräch vom 11. Oktober 2006 geäußert hat, am angemeldeten Termin strikt festzuhalten, ohne näher zu belegen, warum eine Verschiebung nicht in Frage komme.
Eine stationäre Kundgebung als Modifikation der Versammlung scheidet aus, da auch hierfür nicht genügend Polizeikräfte zur Verfügung stehen, um die öffentliche Sicherheit gewährleisten zu können. Die Polizeidirektion Lüneburg hat in ihrer Stellungnahme vom 25. Oktober 2006 gegenüber der Antragsgegnerin ausgeführt, dass aufgrund der Mobilisierung linksextremer Gruppierungen eine Beschränkung der Demonstration auf eine stationäre Versammlung den polizeilichen Kräfteeinsatz nicht reduzieren würde. Das Demonstrationsgeschehen in Göttingen im Oktober 2005 habe gezeigt, dass auch bei einer stationären Veranstaltung der Rechtsextremen die linksextremen Gegendemonstranten im gesamten Innenstadtbereich anzutreffen seien. Der Polizei obliege in Celle die Aufgabe, das gesamte Stadtgebiet zu schützen, hierfür sei der Kräftebedarf von 2.500 Einsatzkräften erforderlich.
Dass andere Auflagen oder Beschränkungen die Gefahr für die öffentliche Sicherheit erheblich reduzieren könnten, ist nicht erkennbar. Insbesondere würde auch eine zeitliche Reduzierung einer stationären Versammlung keinen zusätzlichen Sicherheitsaspekt darstellen können. Wegen des erforderlichen "Vorlaufes" und der Ungewissheit, ob die Versammlungsteilnehmer nach Versammlungsende friedlich abziehen, würde eine auch nur zeitliche eingeschränkte Demonstration den Bedarf an Sicherheitskräften nicht reduzieren können.
b)
Da weder vorgetragen noch ersichtlich ist, dass der Antragsteller eine Ersatzveranstaltung abhalten will, beschwert ihn die angefochtene Verfügung, soweit sie in ihrer Ziffer 2 Ersatzveranstaltungen verbietet, nicht. Sie ist zudem rechtmäßig, soweit sie Ersatzveranstaltungen für den 28. Oktober betrifft, da sich die Sicherheitslage in Celle nicht ändert, wenn die Versammlung in einem anderen Stadtteil durchgeführt wird.
c)
Ein öffentliches Interesse für die sofortige Vollziehbarkeit der Verbotsverfügung ist gegeben, es ist von der Antragsgegnerin auch hinreichend begründet worden (§ 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO). Inhaltlich und von der Sache her besteht ein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verbotes. Ohne den Sofortvollzug hätte eine Klage - sollte sie noch erhoben werden - aufschiebende Wirkung, und aus den Regelungen der Verbotsverfügung dürften keine tatsächlichen und rechtlichen Folgerungen gezogen werden. Das Versammlungsverbot wäre dann zunächst nicht durchsetzbar, und mit der Durchführung der Versammlung wäre aufgrund der aufgeführten Gefahren die öffentliche Sicherheit massiv gefährdet und gestört.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Streitwertbeschluss:
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 53 Abs. 3, 52 Abs. 1 und 2 GKG.
Göll - Waechter
H. Ludolfs