Verwaltungsgericht Oldenburg
Beschl. v. 10.05.2012, Az.: 11 B 3223/12

Wirksamkeit des in § 28 Abs. 1 S. 5 AufenthG vorgesehenen Spracherfordernisses für den Ehegattennachzug zu Deutschen; Anwendbarkeit des § 39 Nr. 6 AufenthV bei der Einreise mit einem nationalen Visum eines anderen Schengen-Staates

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
10.05.2012
Aktenzeichen
11 B 3223/12
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2012, 16729
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGOLDBG:2012:0510.11B3223.12.0A

Fundstellen

  • AUAS 2012, 206-207
  • InfAuslR 2012, 270-271
  • ZAR 2012, 22

Amtlicher Leitsatz

Aufgrund des Beschlusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Oktober 2011 (- 1 C 9.10 - InfAuslR 2012, 59) und der darin in Bezug genommenen Stellungnahme der Europäischen Kommission vom 4. Mai 2011 im Verfahren C-155/11 PPU beim Europäischen Gerichtshof erscheint es nunmehr wieder zweifelhaft, ob das Spracherfordernis in § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG mit Art. 7 Abs. 2 der Familiennachzugsrichtlinie 2003/86/EG vereinbar ist.

Die Wirksamkeit des in § 28 Abs. 1 Satz 5 AufenthG vorgesehenen Spracherfordernisses für den Ehegattennachzug zu Deutschen hängt wegen der angeordneten entsprechenden Anwendung des § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG ebenfalls von der Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit der Familiennachzugsrichtlinie ab (im Anschluss an BVerwG, Urteil vom 9. Juni 2009 - 1 C 11.08 - InfAuslR 2009, 440, 444).

Zur Anwendbarkeit des § 39 Nr. 6 AufenthV bei der Einreise mit einem nationalen Visum eines anderen Schengen-Staates.

Gründe

1

Das nach § 80 Abs. 5 VwGO zu beurteilende Begehren der Antragstellerin, die aufschiebende Wirkung ihrer Klage (11 A 3222/12) gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 19. März 2012, mit welchem ihr Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen abgelehnt und die Abschiebung in die Ukraine angedroht worden ist, anzuordnen, ist begründet.

2

Das Interesse der Antragstellerin vorläufig in der Bundesrepublik Deutschland verbleiben zu dürfen überwiegt das öffentliche Interesse an einer baldigen Aufenthaltsbeendigung.

3

Der Ausgang des Verfahrens der Hauptsache lässt sich derzeit noch nicht mit der erforderlichen Sicherheit vorhersagen.

4

Die Antragstellerin erstrebt den Familiennachzug zu ihrem ebenfalls in der Gemeinde Apen lebenden Ehemann, dem deutschen Staatsangehörigen .............., den sie am 17. Februar 2012 in Dänemark geheiratet hat. Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG hat sie danach grds. einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis. Nach ihren unbestritten gebliebenen Angaben kann sie ihren Lebensunterhalt sichern, so dass eine Ausnahme von der Regel des § 28 Abs. 1 Satz 3 AufenthG nicht in Betracht zu ziehen ist. Auch ist ihre Identität geklärt und sie erfüllt die Passpflicht (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 a und 4 AufenthG).

5

Allerdings kann sie sich - wie ebenfalls unstreitig ist - nicht zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen (§§ 28 Abs. 1 Satz 5, 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). In der höchstrichterlichen Rechtsprechung war zunächst auch geklärt, dass dieses Spracherfordernis mit höherrangigem Recht, insbesondere mit Art. 7 Abs. 2 der Familiennachzugsrichtlinie 2003/86/EG des Rates vereinbar ist (BVerwG, Urteil vom 30. März 2010 - 1 C 8.09 - InfAuslR 2010, 331; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 25. März 2011 - 2 BvR 1413/10 - InfAuslR 2011, 237). Hieran sind indes neuerdings berechtigte Zweifel entstanden. Das Bundesverwaltungsgericht (Beschluss vom 28. Oktober 2011 - 1 C 9.10 - InfAuslR 2012, 59) hat im Rahmen einer Kostenentscheidung nach Erledigung des Rechtsstreits die Auffassung vertreten, dass die Frage, ob das Spracherfordernis gegen die genannte Bestimmung der Familiennachzugsrichtlinie verstößt, zweifelhaft geworden sei und bei Fortführung des Verfahrens dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Klärung hätte vorgelegt werden müssen. Dabei ist auf eine Stellungnahme der Europäischen Kommission vom 4. Mai 2011 gegenüber dem Europäischen Gerichtshof im Verfahren C-155/11 PPU verwiesen worden. Hierin wird unter Berücksichtigung des Wortlauts des Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 EG, des systematischen Zusammenhangs mit Abs. 1 der Bestimmung, der Zielsetzung der Richtlinie und des Art. 8 EMRK, wonach der Familiennachzug nicht unangemessen erschwert werden darf, die auch nach Meinung der beschließen Kammer gut nachvollziehbare Auffassung vertreten, dass eine Verweigerung der Einreise und des Aufenthalts nicht wegen einer nicht bestandenen Eingliederungsprüfung im Ausland erfolgen darf. Vielmehr erlaube Art. 7 Abs. 2 der Familiennachzugsrichtlinie lediglich, Integrationsmaßnahmen nach der Aufenthaltsgewährung zu fordern. Das angeführte Verfahren beim Europäischen Gerichtshof ist mit Beschluss vom 10. Juni 2011 ohne Entscheidung zur Sache beendet worden, weil sich der zu Grunde liegende Rechtstreit in der Hauptsache erledigt hatte.

6

Die mithin ungeklärte Rechtsfrage kann wegen ihrer Schwierigkeit und weitreichenden Bedeutung nicht in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren geklärt werden, sondern bedarf einer sorgfältigen Beurteilung im Hauptsacheverfahren, in dem auch eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV in Erwägung zu ziehen ist.

7

Nach Auffassung der Kammer kann die aufgeworfene europarechtliche Frage hier nicht deshalb unbeantwortet bleiben, weil die Familiennachzugsrichtlinie nach ihrem Art. 1 nur für den Nachzug zu Drittstaatsangehörigen gilt, nicht aber für die hier angestrebte Familienzusammenführung mit einem deutschen Staatsangehörigen. Durch die in § 28 Abs. 1 Satz 5 AufenthG angeordnete entsprechende Anwendung des § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG hat der Gesetzgeber die Bestimmungen für den Nachzug zu Deutschen von dem Bestand der Regelungen über den Nachzug zu Drittstaatsangehörigen abhängig gemacht (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Juni 2009 - 1 C 11.08 - InfAuslR 2009, 440 <444> zu §§ 28 Abs. 3, 31 AufenthG).

8

Dass die Antragstellerin nicht mit dem gem. § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG erforderlichen nationalen deutschen Visum eingereist ist, wäre unschädlich, wenn die Antragstellerin das Spracherfordernis nach § 28 Abs. 1 Satz 5 AufenthG nicht erfüllen müsste. Denn nach § 39 Nr. 6 AufenthV kann ein Ausländer einen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet einholen, wenn er einen von einem anderen Schengen-Staat ausgestellten Aufenthaltstitel besitzt und auf Grund dieses Aufenthaltstitels berechtigt ist, sich im Bundesgebiet aufzuhalten, sofern die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels erfüllt sind. Wie oben ausgeführt erfüllt die Antragstellerin alle sonstigen gesetzlichen und regelhaften Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG, welche dann zwingend zu erteilen wäre ("ist").

9

Nach den nicht zweifelhaften Angaben der Antragstellerin, die auch von dem Antragsgegner nicht in Frage gestellt worden sind, ist sie bei Beantragung der Aufenthaltserlaubnis im Besitz eines nationalen polnischen Visums der Kategorie D gewesen.

10

Dieses Visum stellt einen Aufenthaltstitel im Sinne des § 39 Nr. 6 AufenthV dar. Es berechtigt nach Art. 21 Abs. 2 a des Schengener Durchführungsabkommens (SDÜ) in der Fassung, die es durch die Verordnung 265/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. März 2010 (ABL. EG Nr. 1 85, S. 1) erhalten hat, zum Aufenthalt in den anderen SchengenStaaten für die Dauer von insgesamt drei Monaten und ist nicht wie nach der vorherigen Regelung in Art. 18 Satz 2 SDÜ lediglich einem Schengen-Visum, welches der speziellen Regelung des § 39 Nr. 3 AufenthV unterfällt (vgl. dazu OVG Koblenz, Beschluss vom 20. April 2009 - 7 B 10037/09 - [...], Rn. 19), gleichgestellt (vgl. Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, Rn. 15 und 69 zu § 6; Rn. 13 zu § 81).

11

Wäre das Spracherfordernis unwirksam, müsste auch davon ausgegangen werden, dass die Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG bereits bei der Einreise und damit während der Berechtigung, sich auf Grund des polnischen Visums in Deutschland aufzuhalten, erfüllt waren (vgl. dazu allgemein: OVG Bremen, Beschluss vom 21. Dezember 2011 - 1 B 246/11 -juris, Rn. 24 m.w.N. aus der obergerichtlichen Rechtsprechung).

12

Ist mithin der Ausgang des Rechtsstreits derzeit nicht sicher zu beurteilen, überwiegt bei der erforderlichen Abwägung der betroffenen Belange das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin. Denn eine gleichwohl durchgeführte Aufenthaltsbeendigung könnte nur schwer wieder rückgängig gemacht werden (ebenso VG Aachen, Beschluss vom 19. Januar 2012 - 8 L 341/11 - [...] in einem vergleichbaren Fall).