Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 29.04.2015, Az.: 1 A 43/14

Berufsbezeichnung; Berufsfreiheit; Hebamme; Maßgeblicher Zeitpunkt; Prognose; Verhältnismäßigkeit; Widerruf; Zuverlässigkeit

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
29.04.2015
Aktenzeichen
1 A 43/14
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2015, 45251
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Bei der gerichtlichen Überprüfung eines Widerrufs der Erlaubnis, die Berufsbezeichnung "Hebamme" zu führen, ist für die Prognose der Zuverlässigkeit der Hebamme im Hinblick auf das Gewicht des Eingriffs in die Freiheit der Berufswahl auf den Zeitpunkt der letzten verwaltungsgerichtlichen Tatsachenentscheidung abzustellen (Abweichung von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, Urteil vom 28.04.2010 - 3 C 22/09 -, Berufsbezeichnung "Logopäde", und des Nds. Oberverwaltungsgerichts, Beschlüsse vom 04.03.2014 - 8 LA 138/13 - und vom 25.02.2011 - 8 LA 330/10 -).

Tatbestand:

Mit der Klage wendet sich die Klägerin gegen den Widerruf der Erlaubnis zum Führen der Berufsbezeichnung Hebamme durch den Beklagten.

Der am XX.XX.XX geborenen Klägerin wurde am 15.09.1983 durch die Bezirksregierung Q. die Anerkennung als Hebamme erteilt. Seit dem 01.05.1994 arbeitet sie als selbständige Hebamme. Im Mai 2011 informierte die R. S. die Staatsanwaltschaft T. über einen gegen die Klägerin wegen falscher Abrechnungen bestehenden Verdacht. In dem daraufhin eingeleiteten Strafverfahren wurde der Klägerin durch Strafbefehl des Amtsgerichts U. vom 01.10.2013 (XX Cs XX Js XX/XX - XX/XX) wegen 74 Betrugsstraftaten zu Lasten der R. S. und der V. eine Gesamtgeldstrafe von 85 Tagessätzen auferlegt. Zur Begründung führte das Amtsgericht aus, die Klägerin habe gegenüber den Krankenkassen falsch abgerechnet, indem sie Pauschalen von Kursteilnehmern an Geburtsvorbereitungskursen (37 Fälle) und Rückbildungskursen (21 Fälle) angesetzt habe, obwohl die maximale Teilnehmerzahl von jeweils 10 Personen erreicht gewesen sei und sie eigentlich einen zweiten Kurs hätte durchführen müssen. Darüber hinaus habe sie bei Hausbesuchen überhöhte Kilometerangaben gemacht (16 Fälle). Hierdurch sei den Krankenkassen ein Schaden von insgesamt 2.847,77 Euro entstanden.

Am 20.12.2012 schloss die Klägerin mit der R. S. eine Vereinbarung ab, in der sie zur Schadenswiedergutmachung wegen fehlerhafter Abrechnungen einen Betrag in Höhe von 20.409,86 Euro anerkannte. Am 10.08.2013 schloss sie mit der W. Krankenkasse (X.) für alle Ersatzkassen eine entsprechende Vereinbarung über einen Betrag von 15.000,00 Euro ab. Am 23.01.2015 verpflichtete sie sich gegenüber der Betriebskrankenkasse (Y.) Z. zur Rückzahlung von 2.420,90 Euro.

Nach Anhörung widerrief der Beklagte gegenüber der Klägerin durch Bescheid vom 04.03.2014 die Erlaubnis zum Führen der Berufsbezeichnung „Hebamme“ und führte zur Begründung aus, die Klägerin habe zwischen dem ersten Quartal 2008 und dem dritten Quartal 2011 in zahlreichen Fällen nicht erbrachte oder überhöhte Leistungen mit den Krankenkassen abgerechnet. Hieraus sei im Wege einer Prognose auf ihre Unzuverlässigkeit im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 2 des Hebammengesetzes zu schließen.

Am 25.03.2014 hat die Klägerin Klage erhoben. Sie trägt vor, sie habe in den Jahren 1998/1999 gemeinsam mit ihrem Ehemann drei Eigentumswohnungen als Anlageobjekte erworben. Ende 1998 sei bei ihrem Ehemann Multiple Sklerose diagnostiziert worden. Seit Oktober 2002 sei er Frührentner. Sie selbst sei in den Jahren 2001 und 2002 schwer erkrankt. Infolgedessen seien bei der Finanzierung der Wohnungen hohe Darlehensrückstände aufgelaufen. In der Folgezeit habe es in der Familie weitere Erkrankungen und Todesfälle gegeben. Alle Lasten hätten auf ihren Schultern geruht. Sie habe sich nicht anders zu helfen gewusst, als die Abrechnungen zu erstellen, um die es bei den Ermittlungsverfahren gegangen sei. Vor den Vorfällen habe sie sich seit Beginn ihrer Selbständigkeit nie etwas zuschulden kommen lassen. Danach habe sie weiterhin sorgsam und beanstandungsfrei gearbeitet. Sie habe Vereinbarungen zur Schadenswiedergutmachung mit allen beteiligten Krankenkassen geschlossen. Der Widerruf der Erlaubnis würde ihren wirtschaftlichen Untergang bedeuten. Sie könne sich für die Zukunft nicht bewähren, wenn sie in ihrem Beruf nicht mehr arbeiten dürfe.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 04.03.2014 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er trägt vor, die Taten der Klägerin ließen auf Charaktermängel schließen, die eine Unzuverlässigkeit begründeten. Ein korrektes Abrechnungsverhalten zähle zu den spezifischen Berufspflichten einer Hebamme. Die Verstöße hätten sich über den langen Zeitraum von drei Jahren hinweg ereignet. Die Klägerin könne nach einer Zeit der Bewährung außerhalb ihres Berufs zu gegebener Zeit die Wiedererteilung der Berufserlaubnis erreichen. Die Bewährungsfrist beginne mit der Bestandskraft der Verwaltungsentscheidung zu laufen. Die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin seien berücksichtigt worden, rechtfertigten ihr Fehlverhalten jedoch nicht.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs des Beklagten und die Auszüge aus den beigezogenen Strafakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig und begründet. Zwar war der Bescheid des Beklagten vom 04.03.2014 im Zeitpunkt des Erlasses rechtlich nicht zu beanstanden. Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung erweist er sich jedoch als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Er ist daher durch das Gericht aufzuheben.

Gemäß § 1 Abs. 1 des Gesetzes über den Beruf der Hebamme und des Entbindungspflegers (Hebammengesetz - HebG) bedarf der Erlaubnis, wer die Berufsbezeichnung „Hebamme“ oder „Entbindungspfleger“ führen will. Die Erteilung einer solchen Erlaubnis setzt nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 HebG u. a. voraus, dass sich der Antragsteller nicht eines Verhaltens schuldig gemacht hat, aus dem sich die Unzuverlässigkeit zur Ausübung des Berufs ergibt. Nach § 3 Abs. 2 HebG ist die Erlaubnis zu widerrufen, wenn nachträglich die Voraussetzung des § 2 Abs. 1 Nr. 2 HebG weggefallen ist.

Die der Klägerin von der Bezirksregierung Q. am 15.09.1983 erteilte Anerkennung als Hebamme gilt nach der Überleitungsregelung in § 27 Abs. 1 HebG als Erlaubnis nach § 1 Abs. 1 HebG. Als unzuverlässig ist ein Erlaubnisinhaber anzusehen, wenn er keine ausreichende Gewähr dafür bietet, dass er in Zukunft seinen Beruf ordnungsgemäß unter Beachtung aller in Betracht kommenden Vorschriften und Berufspflichten, insbesondere ohne Straftaten zu begehen, ausüben wird, und sich dadurch Gefahren für die Allgemeinheit oder die von ihm behandelten Patienten ergeben (Nds. OVG, Beschluss vom 25.02.2011 - 8 LA 330/10 -, juris, m.w.N.). Dabei sind die gesamte Persönlichkeit des Erlaubnisinhabers und seine Lebensumstände zu würdigen (Nds. OVG, Beschluss vom 04.03.2014 - 8 LA 138/13 -, juris, m.w.N.).

Hier hat die Klägerin über einen längeren Zeitraum hinweg in erheblicher Weise gegen ihre Berufspflichten verstoßen, sodass sie bei Erlass des Widerrufsbescheids nicht die Gewähr bot, künftig die Berufspflichten einer Hebamme zu erfüllen.

Die Berufspflichten der Hebammen, die in S. freiberuflich tätig sind, ergeben sich zum einen aus §§ 1 f. des Niedersächsischen Gesetzes über die Ausübung des Hebammenberufs (NHebG), werden zum anderen aber auch durch ihre Stellung als originäre Dienstleisterin für die Hebammenhilfe im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. § 134a SGB V) geprägt. Die freiberuflich tätige Hebamme rechnet die für ihre Patienten erbrachten Leistungen auf der Grundlage des zwischen den Berufsverbänden der Hebammen und den Spitzenverbänden der Krankenkassen geschlossenen Vertrags über die Versorgung mit Hebammenhilfe nach § 134a SGB V, der darin enthaltenen Hebammen-Vergütungsvereinbarung und der Richtlinien der Spitzenverbände der Krankenkassen nach § 302 Abs. 2 SGB V über Form und Inhalt des Abrechnungsverfahrens mit „Sonstigen Leistungserbringern“ sowie mit Hebammen und Entbindungspflegern (§ 301a SGB V) unmittelbar gegenüber den gesetzlichen Krankenkassen ab. Die Hebamme ist verpflichtet, diese Abrechnungen richtig vorzunehmen. Andernfalls wird das sozialversicherungsrechtliche Gesundheitssystem der Bundesrepublik Deutschland geschädigt, weil die Solidargemeinschaft der Versicherten für Leistungen aufzukommen hat, die überhaupt nicht oder nicht entsprechend der Abrechnung erbracht worden sind, was zur Folge hat, dass die Mittel an anderer Stelle fehlen. Die Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenkassen ist ein wesentlicher Pfeiler des Gesundheitswesens. Die Gefährdung ihrer finanziellen Basis durch betrügerische oder leichtfertige Falschabrechnungen in großem Umfang stellt daher eine schwerwiegende Verletzung der Berufspflichten dar (Nds. OVG, Beschluss vom 04.03.2014 - 8 LA 138/13 -, a.a.O., m.w.N.).

Nach diesen Maßstäben begründete der fortgesetzte Abrechnungsbetrug der Klägerin, wie er im rechtskräftigen Strafbefehl des Amtsgerichts U. vom 01.10.2013 geahndet worden ist, einen schwerwiegenden Verstoß gegen wesentliche Berufspflichten einer Hebamme. Die Klägerin rechnete im Zeitraum vom 20.03.2008 bis zum 01.08.2011 in 74 einzelnen Fällen als Hebamme gegenüber den Krankenkassen bewusst und mit Bereicherungsabsicht Leistungen ab, die tatsächlich nicht, nur teilweise oder unter Verstoß gegen Abrechnungsregelungen erbracht worden waren. So berechnete sie entgegen den Vorgaben gemäß Ziffer 0700 bzw. Ziffer 2700 des Leistungsverzeichnisses zur Hebammen-Vergütungsvereinbarung gegenüber der R. in 37 Fällen Leistungen für Geburtsvorbereitungskurse und in 21 Fällen Leistungen für Rückbildungskurse, obwohl die zulässige Höchstzahl von zehn Teilnehmerinnen je Unterrichtsstunde überschritten war. Darüber hinaus rechnete sie überhöhte Fahrtkosten für Hausbesuche gegenüber der R. in zehn Fällen und gegenüber der V. in sechs Fällen ab. Hierdurch verschaffte sie sich zulasten der genannten Krankenkassen einen Vermögensvorteil von insgesamt 2.847,77 Euro. Über die im Strafverfahren angeklagten Taten hinaus kam es zu weiteren fehlerhaften Abrechnungen gegenüber der R. und verschiedenen Ersatzkassen in einem noch weitaus größeren Umfang. Aufgrund dessen schloss die Klägerin mit der R. S. am 20.12.2012 eine Rückzahlungsvereinbarung über 20.409,86 Euro, gegenüber den Ersatzkassen am 10.08.2013 eine Rückzahlungsvereinbarung über 15.000,00 Euro und gegenüber der Y. Z. am 23.01.2015 eine Rückzahlungsvereinbarung über 2.420,90 Euro. Das Gericht geht daher davon aus, dass den Krankenkassen durch die fehlerhaften Abrechnungen der Klägerin ein Schaden von nahezu 38.000,00 Euro entstanden ist. Das über mehrere Jahre hinweg andauernde Fehlverhalten der Klägerin, durch das sie diesen erheblichen Schaden verursacht hat, rechtfertigte - bezogen auf den Zeitpunkt des Erlasses des Widerrufsbescheids vom 04.03.2014 - die Prognose, sie biete nicht die Gewähr, in Zukunft alle in Betracht kommenden und insbesondere die berufsspezifischen Vorschriften und Pflichten zu beachten.

Nach Auffassung des Gerichts ist für die Prognose jedoch nicht auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, sondern auf diejenigen zur Zeit der letzten verwaltungsgerichtlichen Tatsachenentscheidung und damit vorliegend im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen. Insoweit weicht die Kammer von der Rechtsprechung des Nds. Oberverwaltungsgerichts (Beschlüsse vom 04.03.2014 und vom 25.02.2011, jeweils a.a.O.) und des Bundesverwaltungsgerichts (z. B. Urteil vom 28.04.2010 - 3 C 22/09 -, juris, zum Widerruf einer Erlaubnis zum Führen der Berufsbezeichnung „Logopäde“) ab. Dem liegen folgende Erwägungen zugrunde:

Die Klägerin bekämpft den Widerruf der Erlaubnis, die Berufsbezeichnung „Hebamme“ zu führen, mit einer Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO. Das Gericht geht mit dem Bundesverwaltungsgericht (std. Rspr., vgl. z. B. Urteil vom 15.11.2007 - 1 C 45/06 -, BVerwGE 130, 20, m.w.N.) davon aus, dass das Prozessrecht einen Grundsatz, wonach die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts im Rahmen einer Anfechtungsklage stets nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung zu beurteilen ist, nicht kennt. Auf welchen Zeitpunkt abzustellen ist, bestimmt sich vielmehr in erster Linie nach materiellem Recht, dem nicht nur die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts, sondern auch die Antwort auf die Frage zu entnehmen ist, zu welchem Zeitpunkt diese Voraussetzungen erfüllt sein müssen.

Sofern ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung in Streit steht, ist regelmäßig auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen. Ein Dauerverwaltungsakt ist nach seinem Sinn und Zweck und dem einschlägigen materiellen Recht in seinen Wirkungen wesensgemäß auf Dauer angelegt. Er ist allgemein dadurch gekennzeichnet, dass er sich nicht in einem einmaligen Ge- oder Verbot oder in einer einmaligen Gestaltung der Rechtslage erschöpft, sondern ein auf Dauer berechnetes oder in seinem Bestand vom Verwaltungsakt abhängiges Rechtsverhältnis begründet oder inhaltlich verändert. Die Behörde hat den Dauerverwaltungsakt auf fortbestehende Rechtmäßigkeit zu überwachen; für seine rechtliche Beurteilung ist grundsätzlich die jeweils aktuelle Sach- und Rechtslage maßgeblich (BVerwG, Beschluss vom 29.10.2014 - 9 B 32/14 -, juris, m.w.N.). Der vom Beklagten ausgesprochene Widerruf der Erlaubnis, die Berufsbezeichnung „Hebamme“ zu führen, ist jedoch kein Dauerverwaltungsakt. Mit Beschluss vom 22.07.1982 (3 B 36/82, Buchholz 418.21 ApBO Nr. 4, zum Widerruf einer Apothekenbetriebserlaubnis) hat das Bundesverwaltungsgericht Folgendes ausgeführt:

„Nicht alle Verwaltungsakte mit dauernden Rechtsfolgen sind Verwaltungsakte mit verwaltungsrechtlicher Dauerwirkung (vgl. Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Aufl., § 47 V b). Der Widerruf einer Erlaubnis beendet den Rechtszustand, den die Erteilung der Erlaubnis begründet hatte. Wenn der Kläger nach dem Widerruf nicht mehr befugt ist, eine Apotheke zu betreiben, also sodann für ihn ein Betriebsverbot besteht, so ist dies eine Rechtsfolge der Umgestaltung der Rechtslage durch den Widerruf, nicht jedoch die Folge einer andauernden, sich immer wieder aktualisierenden und vollziehungsfähigen Rechtswirkung des Verwaltungsaktes ...“.

Entsprechendes gilt auch für den hier in Streit stehenden Widerruf nach § 3 Abs. 2 i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 2 HebG.

Im Fall eines Widerrufs auf der Grundlage des Hebammengesetzes gebietet es jedoch angesichts der erheblichen Bedeutung des Grundrechts der Betroffenen aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, nicht auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung abzustellen, sondern Veränderungen bis zur letzten Entscheidung des Tatsachengerichts zu berücksichtigen. Beim Widerruf der (begünstigenden) Erlaubnis zum Führen der Berufsbezeichnung „Hebamme“ handelt es sich um einen Eingriff in die durch Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG verfassungsrechtlich gewährleistete Freiheit der Berufswahl, denn die freie Berufswahl umfasst nicht nur die Entscheidung über den Eintritt in den Beruf, sondern auch die Entscheidung darüber, ob und wie lange ein Beruf ausgeübt werden soll (vgl. BVerfG, Beschluss vom 02.03.1977 - 1 BvR 124/76 - BVerfGE 44, 105; BVerwG, Urteil vom 16.09.1997 - 3 C 12/95 -, BVerwGE 105, 214). Diese Entscheidungsfreiheit wird der betroffenen Hebamme durch einen solchen Widerruf genommen. Auch die Klägerin wäre im Fall der Bestandskraft des Widerrufs für eine derzeit nicht absehbare Zeit daran gehindert, ihren Beruf auszuüben.

Das Bundesverwaltungsgericht stellt in seiner Rechtsprechung zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt in vergleichbaren Fällen darauf ab, ob der Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG dadurch ausgeglichen wird, dass das materielle Recht ein eigenständiges Wiedererteilungsverfahren vorsieht, in dem alle nachträglichen Umstände Berücksichtigung finden. Der Abschluss des behördlichen Widerrufsverfahrens bewirke eine Zäsur, durch die eine Berücksichtigung danach eingetretener Umstände dem späteren Wiedererteilungsverfahren zugewiesen werde (vgl. BVerwG, Urteil vom 28.04.2010 - 3 C 22/09 -, a.a.O.). Ein solches Wiedererteilungsverfahren ergibt sich, obwohl es im Berufsrecht der Hebammen nicht ausdrücklich vorgesehen ist, auch für diesen Rechtsbereich aus dem Umstand, dass bei Wiedervorliegen der Voraussetzungen ein Anspruch auf erneute Zuerkennung der Erlaubnis besteht (vgl. für das Berufsrecht der Logopäden BVerwG, Urteil vom 28.04.2010 - 3 C 22/09 -, a.a.O.). Gesetzlich ungeregelt und für die Betroffenen daher erheblich risikobehaftet ist jedoch, wann erstmals mit Aussicht auf Erfolg ein Antrag auf Wiedererteilung gestellt werden kann. Der Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung zum Ausdruck gebracht, dass er von einer grundsätzlich mehrjährigen Bewährungsfrist ausgehe, die im Einzelfall verkürzt werden könne. Dies zeigt, dass Maßstäbe, die der Klägerin eine gewisse Rechtssicherheit bieten könnten, hinsichtlich der Dauer der Bewährungszeit nicht bestehen. Ein weiteres Risiko liegt in der Auffassung des Beklagten, die Bewährungsfrist beginne erst mit der Bestandskraft der Widerrufsentscheidung zu laufen (vgl. den Schriftsatz vom 22.05.2014, Gerichtsakte Bl. 43 unten). Danach muss die Klägerin damit rechnen, dass sie nach der Bestandskraft des Widerrufs für einen ungewissen Zeitraum, dessen Länge durch den Beklagten bestimmt wird, ihren Beruf nicht ausüben darf und zur Durchsetzung ihres Anspruchs auf Wiedererteilung wegen der bestehenden Unklarheiten unter Umständen erneut gerichtliche Hilfe in Anspruch nehmen muss.

Im Übrigen hätte das faktische Berufsverbot zur Folge, dass es der Klägerin gar nicht möglich wäre, sich innerhalb ihres Berufs zu bewähren. Auch der Beklagte sieht dieses Problem und versucht, ihm dadurch zu begegnen, dass er eine Bewährung außerhalb des Berufs verlangt. Dabei versäumt er es jedoch, Kriterien zu benennen, nach denen sich eine erfolgreiche Bewährung beurteilen ließe. Die Kammer ist zudem der Auffassung, dass die Klägerin die Wiederherstellung ihrer Zuverlässigkeit in dem Bereich unter Beweis zu stellen hat, in dem sie zuvor beruflich versagt hat. Sie folgt damit der Rechtsprechung des Nds. Oberverwaltungsgerichts, das in vergleichbaren Fällen auf eine künftige beanstandungsfreie Abrechnungspraxis abstellt (Beschlüsse vom 04.03.2014 - 8 LA 138/13 - und vom 25.02.2011 - 8 LA 330/10 -, jeweils a.a.O.). Gerade in diesem Bereich wird es der Klägerin jedoch infolge des Eingriffs in ihr Grundrecht auf Berufsfreiheit unmöglich gemacht, ihre erneute Zuverlässigkeit nachzuweisen.

Angesichts der vorgenannten Unsicherheiten kann ein Abstellen auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung wegen der Bedeutung des berührten Grundrechts und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Berufsrecht der Hebammen nicht allein mit der Möglichkeit der Durchführung eines Wiedererteilungsverfahrens begründet werden. Sonstige Möglichkeiten, den Grundrechtseingriff abzumildern, bestehen nicht. Das Bundesverwaltungsgericht hat in mehreren Entscheidungen zum Widerruf der ärztlichen Approbation (z. B. Beschlüsse vom 25.02.2008 - 3 B 85/07 - und vom 14.04.1998 - 3 B 95/97 -, jeweils bei juris) darauf abgestellt, dass der Gesetzgeber selbst dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Rahmen des § 8 der Bundesärzteordnung Rechnung getragen habe. Nach dieser Regelung kann einem Arzt, der einen Antrag auf Wiedererteilung der Approbation gestellt hat, unter Zurückstellung der Entscheidung über diesen Antrag zunächst eine widerrufliche und befristete Erlaubnis zur Ausübung des ärztlichen Berufs bis zu einer Dauer von zwei Jahren erteilt werden, die auf bestimmte Tätigkeiten und Beschäftigungsstellen beschränkt werden kann. Durch die Erteilung einer solchen Erlaubnis wird der im Entzug der Approbation liegende Eingriff in die Berufsfreiheit weitgehend abgemildert, weil der betroffene Arzt seinen Beruf weiter ausüben kann. Eine vergleichbare Regelung existiert im Hebammengesetz nicht. Wenn jedoch der Gesetzgeber der Bundesärzteordnung es zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit für notwendig gehalten hat, einen entsprechenden Ausgleich zu schaffen, so muss ein solcher Ausgleich in einer vergleichbaren Rechtsmaterie in ähnlicher Weise erreicht werden. Dies wird für das Hebammenrecht dadurch ermöglicht, dass Veränderungen bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung berücksichtigt werden.

Für dieses Ergebnis sprechen auch die Regelungen zur Gewerbeuntersagung wegen Unzuverlässigkeit. Gemäß § 35 Abs. 6 der Gewerbeordnung (GewO) ist dem Gewerbetreibenden die Gewerbeausübung nach einer derartigen Gewerbeuntersagung auf Antrag wieder zu gestatten, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass eine Unzuverlässigkeit nicht mehr vorliegt. Zwar stellt das Bundesverwaltungsgericht im Hinblick auf die Neuregelung des Wiedergestattungsverfahrens in § 35 Abs. 6 GewO seit 1982 auch in seiner Rechtsprechung zu § 35 GewO auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung ab (Landmann/Rohmer, GewO, Loseblatt, Stand Oktober 2014, § 35 GewO Rn. 21 m.w.N.). Die ausdrückliche gesetzliche Regelung des Wiedergestattungsverfahrens in § 35 Abs. 6 GewO wahrt die Belange der von einer Gewerbeuntersagung Betroffenen jedoch ungleich wirksamer als dies im gesetzlich nicht geregelten Wiedererteilungsverfahren im Hebammenrecht der Fall ist. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass der Eingriff in die Berufsfreiheit durch eine Gewerbeuntersagung deutlich geringer ist als durch einen Widerruf nach dem Hebammengesetz. Der Gewerbetreibende wird nämlich nur an der Ausübung eines selbständigen Gewerbes gehindert, während er seinem Beruf - anders als die Hebamme - in unselbständiger Tätigkeit weiter nachgehen kann. Dieser geringfügigere Grundrechtseingriff wird des Weiteren dadurch verhältnismäßig, dass § 35 Abs. 6 Satz 2 GewO die Mindestfrist für die Wiedergestattung auf ein Jahr festsetzt und für den Fall des Vorliegens besonderer Gründe sogar eine Verkürzung dieser Frist ermöglicht. Hinzu kommt, dass die Wiedergestattung nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 23.11.1990 - 1 B 155/90 -, NVwZ 1991, 372) nicht voraussetzt, dass das Untersagungsverfahren bestands- bzw. rechtskräftig abgeschlossen ist, wodurch ermöglicht wird, dass die beiden Verfahren nebeneinander laufen. Eine solche Möglichkeit spricht der Beklagte der Klägerin im vorliegenden Verfahren ausdrücklich ab, was zu den oben dargestellten Risiken führt. Wenn aber der Gesetzgeber im Gewerberecht zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die Möglichkeit eröffnet, dass der von einer Untersagungsverfügung Betroffene bis zur Wiedererlangung der Zuverlässigkeit u. U. nur für eine kurze Zeit bzw. - sofern die Untersagung nicht sofort vollziehbar ist - gar nicht an der Ausübung seines Gewerbes gehindert wird, so muss im insoweit gesetzlich nicht geregelten Bereich des Hebammenrechts, in dem der Grundrechtseingriff weitaus schwerer wiegt, ein entsprechender Ausgleich dadurch geschaffen werden, dass Veränderungen bis zur mündlichen Verhandlung berücksichtigt werden.

Die Klägerin hat die berufsrechtliche Zuverlässigkeit bis zu diesem Zeitpunkt wiedererlangt. Sie hat bereits im Dezember 2012 und im August 2013 Vereinbarungen mit den geschädigten Krankenkassen abgeschlossen und sich zur Wiedergutmachung des von ihr verursachten Schadens verpflichtet. Mittlerweile ist sie ihren Rückzahlungsverpflichtungen vollständig nachgekommen, was angesichts des hohen Gesamtbetrags einen erheblichen finanziellen Kraftakt erfordert haben dürfte. Darüber hinaus hat sie Bescheinigungen der X. und der Y. Z. zu ihrem Abrechnungsverhalten vorgelegt. Die X. hat unter dem 24.03.2015 mitgeteilt, sie habe keine Kenntnis über ein weitergehendes Fehlverhalten der Klägerin; soweit spätere Abrechnungen geprüft worden seien, hätten diese keine Unstimmigkeiten aufgewiesen. Die Y. Z. hat mit Schreiben vom 28.04.2015 ausgeführt, die Klägerin habe mit Ausnahme einer einzigen beanstandeten Rechnung seit dem 01.08.2011 immer ohne Beanstandungen abgerechnet. Die R. S. hat es zwar abgelehnt, eine entsprechende Bescheinigung auszustellen. Sie hat jedoch auf telefonische Anfrage des Gerichts mitgeteilt, ihre Abrechnungsstelle führe eine Stichprobenkontrolle der (seit 2011 ca. 1.000) Abrechnungen der Klägerin durch und hätte Unregelmäßigkeiten gemeldet, sofern sie aufgefallen wären. Hinweise auf solche neuen Unregelmäßigkeiten habe es jedoch nicht gegeben. Zwar konnten der bloße Abschluss von Rückzahlungsvereinbarungen und ein unbeanstandetes Abrechnungsverhalten nicht dazu führen, dass die Klägerin schon zur Zeit des Erlasses des angefochtenen Bescheids wieder als zuverlässig anzusehen war. Mittlerweile hat sie jedoch durch ihre erheblichen und erfolgreichen Bemühungen zur Schadenswiedergutmachung und durch ihr weiteres Abrechnungsverhalten gezeigt, dass sie die nach dem Hebammengesetz erforderliche Zuverlässigkeit wieder erlangt hat. Das Gericht ist auch davon überzeugt, dass das Verhalten der Klägerin einem ehrlichen und ernsthaften Bemühen entspringt, ihre Berufspflichten in Zukunft beanstandungsfrei zu erfüllen, und nicht nur auf den Druck des schwebenden berufsrechtlichen Verfahrens zurückzuführen ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergeht nach § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Das Gericht lässt die Berufung gemäß §§ 124a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 und Nr. 4 VwGO zu. Die Frage des für die Prognose der Zuverlässigkeit maßgeblichen Zeitpunkts hat grundsätzliche Bedeutung und die Kammer weicht insoweit von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Nds. Oberverwaltungsgerichts ab.