Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 16.11.2023, Az.: 4 A 104/21

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
16.11.2023
Aktenzeichen
4 A 104/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 44487
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGGOETT:2023:1116.4A104.21.00

Tatbestand

Der am 1995 geborene Kläger wendet sich gegen die Rücknahme des ihm zuerkannten subsidiären Schutzes.

Er ist afghanischer Staatsangehöriger, sunnitischen Glaubens und gehört dem Volk der Tadschiken an. Er reiste gemeinsam mit seinen Eltern und seinen drei jüngeren Geschwistern im Jahr 2008 nach Griechenland ein. Sein Vater (I. C., Az. des Bundesamtes: 6017080-423) war in der Folgezeit in Griechenland etwa zweieinhalb Jahre lang in Haft, bevor er nach Afghanistan abgeschoben wurde. Die Mutter des Klägers (J. C., Az. des Bundesamtes: 5475239-423) kam im Jahr 2011 mit den jüngeren Geschwistern des Klägers (K. C., L. C. und M. C.) nach Deutschland. Der Kläger war daher in Griechenland etwa zwei Jahre lang auf sich allein gestellt, bevor er am 2. Oktober 2013 im Wege der Familienzusammenführung auf dem Luftweg zu seiner Mutter und seinen Geschwistern ebenfalls nach Deutschland einreiste. Der Vater reiste zwischenzeitlich, nach eigenen Angaben am 12. Juni 2015, ebenfalls nach Deutschland ein.

Bereits am 14. Oktober 2013 hatte der Kläger in Deutschland einen Asylantrag gestellt.

Bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 20. November 2013 trug der Kläger im Wesentlichen vor: Vor seiner Ausreise aus Afghanistan habe er in der Stadt Kabul gelebt. Dort sei er acht Jahre lang zur Schule gegangen. Zudem habe er hinter der Moschee Zigaretten verkauft. Einer seiner Kunden habe von dem Kläger verlangt, mittels eines Sprengstoffgürtels einen Selbstmordanschlag zu begehen. Der Vater des Klägers habe das verboten. Daher habe der Mann gedroht, die Schwester des Klägers zu seiner Frau zu nehmen. Daraufhin habe der Kläger gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern Afghanistan verlassen. Die Familie sei zunächst nach Griechenland gegangen. Dort habe der Kläger drei Jahre lang gelebt, bevor er nach Deutschland gekommen sei. Seine Großmutter sowie seine Onkel und Tanten väterlicherseits und mütterlicherseits würden alle weiterhin in der Stadt Kabul leben.

Mit Bescheid vom 23. Juni 2014 erkannte das Bundesamt dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu (Ziffer 1) und lehnte im Übrigen den Asylantrag ab (Ziffer 2).

Mit Urteil des Landgerichts D-Stadt vom 2. März 2020 (Az. 6 Ks 3/19) wurde der Kläger wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen sowie wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten verurteilt. Der Verurteilung lagen nach den Feststellungen des strafgerichtlichen Urteils folgende Sachverhalte zugrunde:

- Am 1. Dezember 2017 bespritzte der Kläger auf einer Geburtstagsfeier einen damals 16-jährigen Gast dermaßen mit Bier, dass dieser dadurch nass wurde und verärgert war. Die älteren Anwesenden forderten den Kläger auf, den Jungen in Ruhe zu lassen und zu gehen. Der Kläger reagierte hierauf empört und aggressiv. Er zerschlug im Zorn eine Bierflasche, behielt den Flaschenhals in der Hand und fragte, ob die anderen Streit suchen würden. Ein Anwesender forderte den Kläger und seine Begleiter auf, nun zu gehen. Als dem nicht nachgekommen wurde, sind der Kläger und seine Begleiter in Richtung Tür gedrängt und schließlich vor das Zimmer geschubst worden. Dem Kläger gelang es noch, einer Person eine Ohrfeige zu geben. Der Kläger und seine Begleiter versuchten, wieder in das Zimmer zu gelangen und traten und schoben gegen die sich nach innen öffnende Tür, die von innen durch die anderen Gäste der Feier zugedrückt wurde. Als zwei der sich von innen gegen die Tür stemmenden Gäste umfielen, öffnete sich die Tür so weit, dass der Kläger durch den Türspalt hindurch mittels des Flaschenhalses der kaputten Bierflasche auf den linken Unterarm eines der Gäste schlagen konnte. Dieser Gast erlitt dadurch eine stark blutende Verletzung; die Haut war mit zwei Schnitten auf einer Länge von etwa 5 cm und etwa 10 cm durchtrennt. Unmittelbar nach diesem Schlag entfernte sich der Kläger mit seinen Begleitern vom Tatort. Zum Tatzeitpunkt betrug die maximale Blutalkoholkonzentration beim Kläger 2,14 g 0/00. Aufgrund dieser Berauschung ging das Schwurgericht zugunsten des Klägers von einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit des Klägers zum Zeitpunkt seines Schlags mit der Bierflasche aus. Etwa einen Monat nach diesem Vorfall sandte der Kläger dem Geschädigten Nachrichten mit der Bitte, keine Anzeige gegen ihn zu erstatten. Er solle jemand anderen als Täter benennen. Sie seien doch beide Afghanen.

- Am 26. Januar 2019 wurde der Kläger gemeinsam mit einem Bekannten aus der "N." in O. geworfen, nachdem es dort zu einer lautstarken Streitigkeit gekommen war. Der Kläger und sein Bekannter stritten sodann vor der Bar weiter, sodass eine Polizeistreife auf sie aufmerksam wurde. Die Polizeibeamten trennten die beiden Kontrahenten und nahmen deren Personalien auf. Da der Wirt dem Kläger ein Hausverbot erteilt hatte, der Kläger sich aber noch von einem weiteren Bekannten in der Bar verabschieden wollte, verständigte der Wirt den in der Kneipe verbliebenen Bekannten des Klägers. Dieser erschien mit einem Bierglas in der Hand vor der Bar und begann sogleich, umstehende Beobachter der polizeilichen Maßnahme anzupöbeln. Der Kläger und sein Bekannter versuchten, beruhigend auf ihn einzuwirken. Daraufhin gerieten alle drei Personen untereinander in Streit und begannen, sich auf dem Bürgersteig vor der Bar zu schubsen. Die Polizei sprach daher allen drei Personen einen mündlichen Platzverweis für den Bereich der "N." aus. Daraufhin entfernte sich einer der Bekannten des Klägers und ging einige Schritte die Straße hinunter. Als der Kläger dies bemerkte, lief er hinter dem Bekannten her und versetzte ihm aus dem Laufen heraus mit Schwung von hinten eine sogenannte Kopfnuss, indem er mit seiner Stirn gegen den Hinterkopf seines Bekannten stieß. Einer der Polizisten nahm an, dass der Bekannte aufgrund der Heftigkeit des Stoßes erheblich verletzt worden war. Er rannte daher sogleich zu dem Kläger und brachte diesen zu Boden. Als der Polizist seinem Kollegen in einer anderen Angelegenheit zu Hilfe eilen musste, nutzte der Kläger diesen Moment, um aufzustehen und in die Bar zu flüchten. Nachdem der Kläger von den Polizisten wieder nach draußen geführt worden war, hob er bei der sodann durchgeführten Beschuldigtenbelehrung plötzlich die Arme und ließ sich auf den Boden sinken. Dort blieb er regungslos auf dem Rücken liegen und gab lediglich vereinzelte Laute von sich. Da er auf Ansprache und Schmerzreize nicht reagierte, wurde ein Rettungswagen angefordert. Der Rettungsdienst ging nach einer Untersuchung des Klägers davon aus, dass der Zusammenbruch lediglich simuliert wurde. Daraufhin wurde der Kläger zur Dienststelle verbracht. Zum Vorfallszeitpunkt gegen 02:25 Uhr hatte der Angeklagte eine maximale Blutalkoholkonzentration von 2,24 g 0/00.

- Am 25. April 2019 hielt sich der Kläger gemeinsam mit zwei Bekannten in O. vor einem Rewe-Einkaufsmarkt auf. Zufällig traf diese Gruppe auf zwei weitere Bekannte, die sich soeben in dem Supermarkt unter anderem eine Tüte Chips gekauft hatten. Im Zuge der sich nun ergebenden Unterhaltung wurde die zuvor gekaufte Chipstüte geöffnet, aus der sich auch der Kläger bediente. Als der Kläger einige Chips zu Boden fallen ließ, fragte ihn der später Geschädigte, der die Chipstüte gekauft hatte, warum er sich nicht selbst eine Tüte kaufe, und warum er, der aus Afghanistan stamme, einfach Brot wegschmeiße. Die beiden gerieten miteinander in Streit. Sie begannen sich zu schubsen und dabei mit den üblichen Androhungen sexueller Übergriffe auf Mutter und Familie zu beleidigen. Zudem wurden erste Schläge ausgetauscht. Der Kläger äußerte dabei, den später Geschädigten nicht leben zu lassen. Den drei anderen Bekannten gelang es jedoch, die Streitenden zu trennen. Die Streitenden standen sich nun einige Meter voneinander entfernt gegenüber, als der Kläger erneut auf den später Geschädigten losging, der noch von den anderen festgehalten wurde. Zuvor hatten sie sich weiter gegenseitig beleidigt. Unter anderem wurde der Kläger von dem später Geschädigten als "Scheißflüchtling" beleidigt. Erneut schlugen beide aufeinander ein. Der später Geschädigte packte den Kläger dabei am Halskragen seiner Kleidung und ließ ihn nicht los, obwohl zwei der anderen Bekannten versuchten, ihn von dem Kläger wegzuziehen. Der Kläger öffnete währenddessen, von allen unbemerkt, ein in seiner Tasche befindliches Klappmesser. Er nahm das Messer aus der Tasche und führte die Klinge in rascher Folge mindestens fünfmal gegen die linke Körperseite des Geschädigten, noch während beide sich gegenüberstanden. Der Kläger wollte, dass der Geschädigte ihn loslässt, und rechnete mit der Möglichkeit, diesen dabei zu verletzen, aufgrund der Heftigkeit der gegen die linke Rumpfseite geführten Stiche möglicherweise auch lebensgefährdend. Der Geschädigte erlitt durch die Attacke fünf Stichverletzungen im linksseitigen Rumpfbereich, wobei vier Verletzungen an der linken Flanke lagen. Eine der Stichverletzungen eröffnete die linke Brusthöhle, woraus eine Blut-Luftbrust resultierte. Zudem wurde eine den großen Rückenmuskel versorgende Schlagader verletzt. Als der Kläger das Blut sah, entfernte er sich sogleich einige Schritte und beobachtete aus der Entfernung das weitere Geschehen. Der Geschädigte wurde von den drei übrigen Bekannten zu einem Auto gebracht. Auf dem Weg dorthin setzten der Kläger und der Geschädigte ihre gegenseitigen Beschimpfungen aus der Entfernung heraus fort. Der Geschädigte wurde von seinen drei Bekannten zur Notaufnahme des O. Krankenhauses gefahren. Einer der Zeugen versuchte während der Fahrt, die stark blutenden Wunden abzudrücken. Er fürchtete, dass der Geschädigte aufgrund des hohen Blutverlustes versterben könnte. Diesem wurde auf der Fahrt zunehmend schwindelig. Am Krankenhaus angekommen, wurde der Geschädigte vom dortigen Personal übernommen und notversorgt. Er wurde operiert. Aufgrund der Blut-Luftbrust und der Schocksituation bestand akute Lebensgefahr. Ohne Behandlung hätte die spritzende Blutung zu einem Blutverlust mit Todeseintritt geführt. Zum Zeitpunkt der Messerstiche bestand beim Angeklagten - trotz einem vorherigen Alkoholkonsum - keine erhebliche Beeinträchtigung seiner Einsichts- und Steuerungsfähigkeit.

Aufgrund der Verurteilung leitete des Bundesamt am 27. Januar 2021 ein Rücknahmeverfahren ein. Der Kläger wurde mit Schreiben vom selben Tag zur beabsichtigten Rücknahme angehört. Hierauf erklärte der Kläger unter dem 29. März 2021, die Voraussetzungen für die Rücknahme des subsidiären Schutzes lägen nicht vor; zu seinen Gunsten sei zu berücksichtigen, dass er seit dem 16. November 2020 an der Bildungsmaßnahme "Integrations- und Deutschkurs" teilnehme; außerdem habe er bereits am 24. September 2015 das B1-Sprachzertifikat erworben; zudem habe er erfolgreich an der Maßnahme "180° - Veränderung durch Verantwortungsübernahme" teilgenommen; aktuell besuche er ein Anti-Gewalt-Training; hieran gemessen würden die von ihm begangenen Straftaten nicht den Schweregrad erreichen, der für die Rücknahme des subsidiären Schutzes erforderlich sei; außerdem sei zu berücksichtigen, dass er die Körperverletzung unter Alkoholeinfluss begangen habe; er habe nun gelernt, dass er Alkohol nicht oder nur in Maßen konsumieren solle; er stelle keine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland dar; auch liege keine Wiederholungsgefahr oder gegenwärtige Gefahr vor; zudem sei die lange Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet zu seinen Gunsten zu berücksichtigen; außerdem habe der Kläger Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG; er verfüge in Afghanistan über kein tragfähiges familiäres und soziales Netzwerk; die Familienmitglieder und auch seine Verlobte würde sich im Bundesgebiet aufhalten.

Mit Bescheid vom 22. April 2021 nahm das Bundesamt den mit Bescheid vom 23. Juni 2014 zuerkannten subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zurück (Ziffer 1). Zugleich erkannte es den subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 AsylG nicht zu (Ziffer 2). Schließlich stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 3). Zur Begründung führte es aus, die Zuerkennung des subsidiären Schutzes sei nach § 73b Abs. 3 AsylG zurückzunehmen, wenn der Ausländer nach § 4 Abs. 2 AsylG von der Gewährung des Status hätte ausgeschlossen werden müssen oder ausgeschlossen sei. Dies sei hier der Fall, da aufgrund des Urteils des Landgerichts D-Stadt vom 2. März 2020 rechtskräftig feststehe, dass der Kläger eine schwere Straftat im Sinne des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG begangen habe. Überdies erfülle der Kläger auch den Ausschlusstatbestand des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4, 1. Alt. AsylG. Denn von dem Kläger, der seit seiner Einreise in das Bundesgebiet regelmäßig straffällig geworden sei, gehe weiterhin eine hinreichend konkrete Wiederholungsgefahr aus. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 und 3 AsylG lägen aus den genannten Gründen ebenfalls nicht vor. Auch Abschiebungsverbote seien nicht festzustellen. Der Kläger sei im Vergleich zur afghanischen Durchschnittsbevölkerung überdurchschnittlich gut gebildet. Er könne sich daher aus eigener Kraft und ohne die Unterstützung durch ein familiäres Netzwerk sein Existenzminimum sichern.

Hiergegen hat der Kläger am 14. Mai 2021 Klage erhoben und zugleich um vorläufigen gerichtlichen Rechtschutz nachgesucht. Zur Begründung wiederholt und vertieft er seinen Vortrag im Verwaltungsverfahren. Ergänzend trägt er vor: Zwar sei er mit Urteil des Landgerichts D-Stadt vom 2. März 2020 u.a. wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Teilweise werde eine gefährliche Körperverletzung auch als "schwere Straftat" im Sinne des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG gewertet. Dies sei in seinem Fall jedoch anders zu sehen. Denn die durch ihn Geschädigten hätten keine schweren Verletzungen erlitten. Auch habe er sich für seine Tat entschuldigt, so dass er Einsicht in die Unrechtmäßigkeit seines Tuns gezeigt habe. Außerdem seien die entsprechenden Taten bereits in den Jahren 2017 und 2019 erfolgt. Schon aufgrund der seitdem vergangenen Zeit sei davon auszugehen, dass die Taten nicht mehr dazu geeignet seien, das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung erheblich zu tangieren. Auch befinde sich der Kläger im Erstvollzug. Es bestehe zudem keine Wiederholungsgefahr, weshalb von dem Kläger auch keine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ausgehe. Während der Haft habe er sich zu keiner Zeit aggressiv verhalten. Seiner Gefangenenpersonalakte seien keine besonderen Vorkommnisse mit Gewicht zu entnehmen. Es sei daher eine Nachreifung des Klägers unter den Bedingungen des Vollzugs festzustellen. Der Kläger habe sich von seinem früheren sozialen Umfeld losgesagt, welches die Begehung von Straftaten insbesondere aufgrund des gemeinsamen Alkohol- und Drogenkonsums begünstigt habe. Auch die Absicht, seine Verlobte zu heiraten, gebe ihm entscheidende Impulse für eine künftige Straffreiheit. Schließlich wolle er eine Ausbildung absolvieren. Bezogen auf die Voraussetzungen für die Gewährung eines Abschiebungsverbots trägt der Kläger ergänzend vor, seine Eltern und Geschwister befänden sich in der Bundesrepublik Deutschland. Zu seinen weiteren Verwandten in Afghanistan habe er seit seiner Ausreise im Jahr 2013 keinen Kontakt mehr.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 22. April 2021 aufzuheben,

hilfsweise, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung ihres Bescheides vom 22. April 2021 zu verpflichten, dem Kläger den subsidiären Schutz zuzuerkennen,

sowie hierzu weiter hilfsweise, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung ihres Bescheides vom 22. April 2021 zu verpflichten festzustellen, dass in der Person des Klägers ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Staates Afghanistan besteht.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.

Mit Beschluss vom 22. Juni 2021 hat das Gericht den Antrag auf Gewährung vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes abgelehnt (4 B 105/21).

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten im vorliegenden Verfahren und in den Verfahren 1 A 173/21, 1 B 174/21, 1 A 262/21 und 1 B 263/21 sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der Ausländerbehörde sowie auf die Erkenntnismittel gemäß der übersandten Erkenntnismittelliste Afghanistan Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig, aber in der Sache unbegründet.

Der angefochtene Bescheid vom 22. April 2021 ist hinsichtlich der ausgesprochenen Rücknahme des subsidiären Schutzes (Ziffer 1. des angefochtenen Bescheides) rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO; dazu weiter unter 1.). Hinsichtlich der gesondert ausgesprochenen Feststellung, dass der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt wird (Ziffer 2. des angefochtenen Bescheides), ist der angefochtene Bescheid zwar rechtswidrig; hierdurch wird der Kläger jedoch nicht in seinen Rechten verletzt (dazu weiter unter 2.). Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf die hilfsweise geltend gemachte Zuerkennung des subsidiären Schutzes und auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO; dazu weiter unter 2. und 3.).

Seiner Entscheidung hat das Gericht bei der vorliegenden Streitigkeit nach dem Asylgesetz die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zugrunde gelegt (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG).

1. Die Voraussetzungen für die Rücknahme des mit Bescheid vom 23. Juni 2014 zuerkannten subsidiären Schutzes (Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides) liegen vor.

Rechtsgrundlage für die Rücknahmeentscheidung ist (nunmehr) § 73 Abs. 5 AsylG. Hiernach ist die Zuerkennung des subsidiären Schutzes u.a. dann zurückzunehmen, wenn der Ausländer nach § 4 Abs. 2 AsylG von der Gewährung subsidiären Schutzes hätte ausgeschlossen werden müssen oder ausgeschlossen ist. Aus den Worten "hätte ausgeschlossen werden müssen" ergibt sich, dass auch ein nachträgliches Ereignis zur Rücknahme des Verwaltungsaktes führen kann (vgl. Marx, AsylG, 10. Auflage, 2019, § 73b, Rn. 7; siehe zum früheren Recht bereits BVerwG, Urteil vom 31. März 2011 - 10 C 2/10 -, juris). Gemäß § 4 Abs. 2 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer von der Zuerkennung subsidiären Schutzes ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass der Ausländer

1. ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen,

2. eine schwere Straftat begangen hat,

3. sich Handlungen zuschulden kommen lassen hat, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen (BGBl. 1973 II S. 430, 431) verankert sind, zuwiderlaufen oder

4. eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt.

Vorliegend hat der Kläger nach Zuerkennung des subsidiären Schutzes eine schwere Straftat im Sinne des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG begangen. Er ist daher von der Zuerkennung des subsidiären Schutzes ausgeschlossen.

Der genannte Ausschlussgrund geht zurück auf Art. 17 Abs. 1 b) der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status der Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337, S. 9). Eine Definition der "schweren Straftat" enthält die Richtlinie 2011/95/EU nicht.

Das Bundesverwaltungsgericht betont im Zusammenhang mit der in § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG enthaltenen Begrifflichkeit der "schweren nichtpolitischen Straftat", dass sich die Frage, ob einer Straftat das geforderte Gewicht zukomme, nach internationalen und nicht nach nationalen Maßstäben bestimme. Es müsse sich um ein Kapitalverbrechen oder eine sonstige Straftat handeln, die in den meisten Rechtsordnungen als besonders schwerwiegend qualifiziert sei und entsprechend strafrechtlich verfolgt werde (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Februar 2010 - 10 C 7.09 -, juris, Rn. 47). Eine solche schwere Straftat kann insbesondere etwa angenommen werden, wenn ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 AufenthG vorliegt (vgl. VG München, Urteil vom 1. Dezember 2016 - M 4 K 16.31646 -, juris, Rn. 29 f.), oder mindestens die gleiche Schwere der Straftat vorliegt, wie bei der "Straftat von erheblicher Bedeutung" nach § 25 Abs. 3 Nr. 3 AufenthG. Eine "Straftat von erheblicher Bedeutung" ist gegeben, wenn die Straftat zumindest dem Bereich der mittleren Kriminalität angehört, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen (vgl. VG Regensburg, Urteil vom 14. Mai 2014 - RN 7 K 13.30239 -, juris, Rn. 32 m.w.N.). Im jeweils konkreten Fall kann auf die Tatausführung, das verletzte Rechtsgut, die Schwere des eingetretenen Schadens sowie die von dem Straftatbestand vorgesehene Strafandrohung abgestellt werden (vgl. insgesamt zum Vorstehenden VG Berlin, Urteil vom 17. Januar 2019 - 23 K 181.18 A -, juris, Rn. 21).

Dabei ist zu beachten, dass es zur Annahme des Ausschlussgrundes des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG, der grundsätzlich restriktiv auszulegen ist, einer vollständigen Prüfung sämtlicher besonderen Umstände des Einzelfalls bedarf (vgl. EuGH, Urteil vom 13. September 2018 - C-369/17 -, juris, Rn. 48 ff.). Eine schwere Straftat kann jedenfalls nicht allein aufgrund des nationalen Strafmaßes angenommen werden. Vielmehr ist die Schwere der Straftat anhand einer Vielzahl von Kriterien zu beurteilen, wie z.B. der Art der Straftat, der verursachten Schäden, der Form des zur Verfolgung herangezogenen Verfahrens, der Art der Strafmaßnahme sowie des Umstandes, ob die fragliche Straftat in den anderen Rechtsordnungen ebenfalls überwiegend als schwere Straftat angesehen wird (vgl. EuGH, Urteil vom 13. September 2018 - C-369/17 -, juris, Rn. 56).

Im vorliegenden Fall wurde der Kläger mit Urteil des Landgerichts D-Stadt vom 2. März 2020 rechtskräftig zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten verurteilt, so dass zweifellos "schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen", dass der Kläger die im Urteil aufgeführten Straftaten begangen hat.

Weiter ist das Gericht davon überzeugt, dass diese Straftaten unter Würdigung der besonderen Umstände des konkreten Einzelfalls die für den Ausschlussgrund des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG erforderliche Schwere aufweisen.

Der Kläger ist mit dem genannten Urteil wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen (§§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB und §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5 StGB) sowie vorsätzlicher Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) verurteilt worden. Dabei wird die gefährliche Körperverletzung gemäß §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 StGB) mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft und ist folglich als besonders schwerwiegendes Vergehen zu qualifizieren. Die vom Kläger verübten Vergehen werden auch in anderen Rechtsordnungen als besonders schwerwiegend qualifiziert und sind dort mit einer beträchtlichen Strafandrohung belegt. Die Straftaten des Klägers begründen auch ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse, weil er entsprechend § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zu einer Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren verurteilt worden ist.

Zudem zeichnet sich insbesondere die Tatbegehung vom 25. April 2019 (Rewe-Markt) durch den Einsatz massiver Gewalt und Aggression aus. Nach den Feststellungen des Schwurgerichts erlitt der Geschädigte durch die Attacke des Klägers fünf Stichverletzungen im linksseitigen Rumpfbereich, wobei vier Verletzungen an der linken Flanke lagen; eine der Stichverletzungen eröffnete die linke Brusthöhle, woraus letztlich eine Blut-Luftbrust resultierte; zudem wurde eine den großen Rückenmuskel versorgende Schlagader verletzt; die durch die Eröffnung der Brusthöhle entstandene kombinierte Blut-Luftbrust hat die Einlage einer Brustkorbdrainage erforderlich gemacht; der Geschädigte befand sich überdies bei Aufnahme in das Krankenhaus wegen der erlittenen Schlagaderverletzung in einer blutungsbedingten Schocksituation; es mussten vier Liter Volumen in Form von Flüssigkeit über die Vene gegeben sowie zwei Blutkonserven transfundiert werden; aufgrund der Blut-Luftbrust sowie der Schocksituation bestand akute Lebensgefahr; ohne die Behandlung hätte die spritzende Blutung zu einem Blutverlust mit Todeseintritt geführt. Bei der Strafzumessung hat das Schwurgericht im Weiteren nachvollziehbar ausgeführt, dass sich der Vorfall am Rewe-Einkaufsmarkt als dritter Angriff auf die körperliche Integrität einer anderen Person darstelle und eine gefühllose Gesinnung des Klägers offenbare, der - leicht kränkbar - bereit sei, zur Erhaltung seines Egos sogleich zur Gewalt zu greifen. Der Kläger hat durch die konkrete Tatbegehung - insbesondere durch den Einsatz des Tatmessers - die körperliche Integrität des Geschädigten in hohem Maße missachtet, wobei die Begehung der Straftat aus denkbar nichtigem Anlass geschah. Durch die Tat hat er eine besonders erschreckende Verrohung und Missachtung der Rechtsordnung an den Tag gelegt und folgerichtig eine deutlich über dem Mindestmaß liegende Haftstrafe erhalten, deren Vollzug nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden konnte. Das Schwurgericht erkannte wegen des Vorfalls am Rewe-Einkaufsmarkt auf eine Einzelfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten. Zudem vermochte das Schwurgericht trotz der angenommenen Alkoholisierung des Klägers zum Tatzeitpunkt in Bezug auf die Tat vom 25. April 2019 eine erheblich verminderte Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit nicht anzunehmen, auch wenn der Kläger durch den vorangegangenen Alkoholkonsum in gewisser Weise enthemmt gewesen sei. Zudem ging das Schwurgericht davon aus, dass das Verhalten des Klägers, sich in eskalative Situationen zu begeben, nicht abhängig von einer Intoxikation sei; vielmehr lägen die Ursachen für die Taten in den Wesenszügen des Klägers; dieser reagiere - wenn er gereizt werde - auch unter Einsatz körperlicher Gewalt, maßgeblich auch bei vermeintlichen Verletzungen seiner Ehre, die er nicht abtue, sondern mit massiven Reaktionen beantworte; die Alkoholisierung sei dabei ein eher untergeordneter konstellativer Faktor. Schließlich beschäftigten den Geschädigten die eingetretenen Verletzungsfolgen zumindest noch bis zum Erlass des Strafurteils vom 2. März 2020 in Form von regelmäßigen Kontrolluntersuchungen, Problemen beim tiefen Atmen durch Schmerzen und Missempfindungen (wahrgenommene Fehlschläge des Herzens). Unter Berücksichtigung der konkreten Umstände der Tatbegehung und der eingetretenen Tatfolgen ist der Vorfall am Rewe-Markt auch zweifellos dazu geeignet, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Der vom Kläger insoweit angeführte Umstand, dass seit Tatbegehung bereits mehrere Jahre vergangen seien, und die Straftat daher nicht mehr im kollektiven Bewusstsein der Bevölkerung präsent sein dürfte, ändert hieran nichts.

Im Ergebnis hat der Kläger daher eine schwere Straftat im Sinne des § 4 Abs. 2 Satz1 Nr. 2 AsylG begangen und sich damit der Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG als unwürdig erwiesen.

Weitere Voraussetzungen sind nicht zu prüfen. Insbesondere ist der Beklagten bei Vorliegen der Rücknahmevoraussetzungen kein Ermessen eingeräumt (vgl. VG München, Urteil vom 6. Oktober 2016 - M 17 K 16.30970 -, juris, Rn. 23). Zudem setzt der Ausschlusstatbestand des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG - anders als § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AsylG - keine Wiederholungsgefahr voraus (VG München, Beschluss vom 2. September 2019 - M 22 S 19.32826 -, juris, Rn. 24; VG Berlin, Urteil vom 17. Januar 2019, a.a.O., Rn. 26). Die aus der Begehung einer schweren Straftat folgende "Unwürdigkeit", einen qualifizierten Aufenthaltstitel zu gewähren, besteht auch dann fort, wenn keine Wiederholungsgefahr (mehr) besteht und von dem Ausländer auch sonst keine aktuellen Gefahren für den Aufenthaltsstaat ausgehen (BVerwG, Urteil vom 25. März 2015 - 1 C 16.14 -, juris). Daher stehen im Ergebnis die vom Kläger angeführten Deutschkenntnisse sowie seine Teilnahme an Bildungsmaßnahmen ("Integrations- und Deutschkurs") und Anti-Gewalt-Programmen sowie sonstigen Maßnahmen zur Resozialisierung einer Rücknahme des subsidiären Schutzstatus nicht entgegen. Gleiches gilt für die Darlegung des Klägers, dass er zwischenzeitlich seinen früheren Alkohol- und Drogenkonsum beendet habe. Gleiches gilt zudem für die Umstände, dass sich der Kläger bereits seit Herbst 2013 im Bundesgebiet aufhält, sich gegenüber dem Geschädigten der Tat am Rewe-Einkaufsmarkt im Verlauf des Strafprozesses entschuldigt hat und zudem "Erstverbüßer" ist.

Nach alledem hat die Beklagte zutreffend festgestellt, dass der Kläger nach § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG von der Gewährung des subsidiären Schutzes hätte ausgeschlossen werden müssen, und den zuerkannten subsidiären Schutz zurückgenommen. Die Frage, ob der Kläger - wie die Beklagte im streitbefangenen Bescheid ausgeführt hat - auch nach § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AsylG als Gefahr für die Allgemeinheit ausgeschlossen ist, bedarf hiernach keiner weiteren Erörterung.

2. Die seitens der Beklagten in Ziffer 2. des angefochtenen Bescheides ausgesprochene Nichtzuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 AsylG erweist sich zwar als rechtswidrig, weil für sie kein Anlass und auch keine Ermächtigungsgrundlage bestanden hat. Denn mit der vom Bundesamt getroffenen Entscheidung über die Rücknahme des "subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG" in Ziffer 1. des Bescheids vom 22. April 2021 ist der Sache nach "der Schutzstatus" (als solcher) weggefallen. Gegebenenfalls wäre im Rahmen dieser Entscheidung inzident zu prüfen gewesen, ob aus anderen Gründen doch ein Anspruch auf den begehrten Status besteht. Denn dann hätte keine Rücknahme erfolgen dürfen (vgl. VG Freiburg, Urteil vom 26. Juni 2022 - A 7 K 2897/21 -, juris, Rn. 47). Dies scheidet hier aber schon deshalb von vornherein aus, weil die Ausschlussgründe des § 4 Abs. 2 AsylG nicht nach der "Art" des subsidiären Schutzes unterscheiden, sondern "die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Absatz 1" insgesamt betreffen. Daher besteht auch kein Grund für die förmliche Feststellung über das Nichtvorliegen des subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 AsylG, wie es hier unter Ziffer 2 des Bescheides erfolgt ist.

Dennoch ist die in Ziffer 2. getroffenen Entscheidung nicht aufzuheben. Denn der Kläger wird durch sie nicht in seinen Rechten verletzt. Eine Aufhebung von Ziffer 2. des angefochtenen Bescheides würde die Rechtsposition des Klägers nicht verbessern. Es bliebe auch im Falle einer solchen Aufhebung dabei, dass der ihm ursprünglich zuerkannte subsidiäre Schutzstatus zurückgenommen worden ist. Damit steht zugleich fest, dass der Kläger keinen Anspruch auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzes (aus anderen Gründen) hat (vgl. VG Freiburg, Urteil vom 26. Juni 2022, a.a.O., welches aus diesem Grund bereits das Rechtsschutzinteresse des Klägers diesbezüglich verneint hat).

Vor diesem Hintergrund hat der durch den Kläger hilfsweise gestellte Antrag, die Beklagte zu verpflichten, ihm unter entsprechender Aufhebung des angefochtenen Bescheides vom 22. April 2021 den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, ebenfalls keinen Erfolg. Denn - wie dargelegt - ist die Frage, ob der Kläger einen Anspruch auf die Gewährung des subsidiären Schutzstatus hat, allein inzident bei der Frage der Rechtmäßigkeit der Rücknahme zu prüfen. Der Kläger hat hingegen keinen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten, hierzu gesondert eine entsprechende Feststellung zu treffen. Abgesehen davon ist die Zuerkennung des subsidiären Schutzes aus den angeführten Gründen nach § 4 Abs. 2 AsylG insgesamt ausgeschlossen.

3. Schließlich hat der Kläger gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

a. Der Abschiebung des Klägers steht kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegen. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Hierfür ist vorliegend nichts ersichtlich.

Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass der Kläger aufgrund des in seinem Asylverfahren ursprünglich geltend gemachten Verfolgungsschicksals Gefahr liefe, bei einer Rückkehr nach Afghanistan Schaden zu nehmen. Die vom Kläger geschilderten Vorfälle liegen nunmehr 13 Jahre zurück. Selbst bei deren Wahrunterstellung ist nicht erkennbar, dass der Mann, der damals den Kläger aufgefordert haben soll, einen Selbstmordanschlag zu begehen, heute noch ein irgendwie geartetes Interesse an dem Kläger haben oder diesen auch nur wiedererkennen könnte.

b. Schließlich steht der Abschiebung des Klägers auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG entgegen.

aa. Nach dieser Vorschrift darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl 1952 II S. 658) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Die Reichweite der Schutznormen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt. Eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK, die allein auf der humanitären Lage und den allgemeinen Lebensbedingungen beruht, ist in Einzelfällen denkbar (vgl. BayVGH, Beschluss vom 30. September 2015 - 13a ZB 15.30063 -, juris, Rn. 5 m.w.N.). Humanitäre Verhältnisse im Zielstaat verletzen Art. 3 EMRK zum einen in ganz außergewöhnlichen Fällen, wenn die humanitären Gründe gegen die Abschiebung "zwingend" sind. Dieses Kriterium ist erfüllt, wenn die schlechten Bedingungen überwiegend auf Armut zurückzuführen sind oder auf fehlende staatliche Mittel, um mit Naturereignissen umzugehen. Zum anderen kann - wenn Aktionen von Konfliktparteien zum Zusammenbruch der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Infrastruktur führen - eine Verletzung darin zu sehen sein, dass es dem Betroffenen nicht mehr gelingt, seine elementaren Bedürfnisse (wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft) angemessen zu befriedigen. Weiter ist darauf abzustellen, ob es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Wenn eine solche Gefahr nachgewiesen ist bzw. mit hinreichend sicherer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, verletzt die Abschiebung des Ausländers Art. 3 EMRK. Die Annahme einer unmenschlichen Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen setzt ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraus. Nur dann ist ein außergewöhnlicher Fall anzunehmen, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung "zwingend" sind.

Zu der humanitären Lage in Afghanistan ist festzustellen:

Bereits vor der Machtübernahme der Taliban waren die allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan so schlecht, dass von vielen Menschen, insbesondere vulnerablen Personen (wie z. B. Familien mit Kindern) nicht zu erwarten war, dass sie sich in zumutbarer Weise ein Leben wenigstens am Rande des Existenzminimums erwirtschaften können. Aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 15. Juli 2021 (Stand Mai 2021) ergab sich für diese Zeit das folgende Bild:

Afghanistan war schon seinerzeit eines der ärmsten Länder der Welt und wurde von den wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie schwer getroffen. Laut Weltbank schrumpfte das afghanische BIP 2020 um 1,9 %, wobei ein Einbruch um 4,2 bzw. 4,8 % im Industrie- bzw. Dienstleistungssektor durch ein u.a. witterungsbedingtes Wachstum in der Landwirtschaft um 5,3 % abgefedert wurde. Die Armutsrate in den Städten war bis zum Zeitraum 2019/2020 bereits auf mehr als 45 % angewachsen und dürfte im Verlauf des letzten Jahres weiter angestiegen sein. Zudem stiegen die Lebensmittelpreise 2020 im Vergleich zum Vorjahr um durchschnittlich 10 %. Angesichts des rapiden Bevölkerungswachstums von rund 2,3 % im Jahr (d.h. Verdoppelung der Bevölkerung innerhalb einer Generation) wäre ein konstantes Wirtschaftswachstum nötig, um den jährlich etwa 500.000 Personen, die in den Arbeitsmarkt einsteigen, eine Perspektive zu bieten. Laut ILO lag die Arbeitslosenquote 2020 offiziell zwar "nur" bei 11,7 %. Laut der afghanischen Statistikbehörde verfügen jedoch 40 % der Bevölkerung über kein formales Beschäftigungsverhältnis oder sind unterbeschäftigt.

Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt auch für Rückkehrende. Die bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 u.a. durch die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie stetig weiter verschärft. UN-OCHA erwartet, dass 2021 mehr als 18 Millionen Afghanen (2020: 14 Millionen Menschen; 2019: 6,3 Millionen Menschen) auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden, also u.a. keinen gesicherten Zugang zu Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und/oder medizinischer Versorgung haben werden. In einer solchen Notlage werden sich auch schätzungsweise eine halbe Million Binnenvertriebene und fast 790.000 Rückkehrer und Flüchtlinge wiederfinden. Solche humanitären Bedarfe wurden für jede der 34 Provinzen festgestellt. Der UN-koordinierte humanitäre Unterstützungsplan (Afghanistan Humanitarian Response Plan) sieht zwar vor, fast 16 Millionen Menschen, d.h. etwas mehr als 85 % der identifizierten Bedürftigen mit Hilfen zu erreichen. Allerdings ist der dafür veranschlagte Finanzbedarf erst zu knapp 12 % gedeckt. Dies führte in der Vergangenheit dazu, dass viele eigentlich auf Hilfe angewiesene Menschen keine oder nur geringfügige Leistungen erhalten konnten (2020 betrug die Finanzierungslücke zum Jahresende noch 50 %).

Laut einer Studie unter Leitung der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UN waren in Afghanistan zwischen März und Mai 2021 elf Millionen Menschen von akuter Nahrungsmittelunsicherheit betroffen. Das bedeutet, dass die Betroffenen entweder bereits unterernährt sind oder diesem Zustand nur durch negative Bewältigungsstrategien (z.B. Kinderarbeit oder Kinderehen) abwenden können. Nach einer leichten Erholung während der Erntezeit ist ab dem Spätherbst aufgrund des deutlich unterdurchschnittlichen Niederschlags eine weitere Verschlechterung zu erwarten.

Etwa 3,5 Millionen Afghanen, insbesondere Rückkehrer und Binnenvertriebene, leben in Behausungen mit ungeklärten bzw. umstrittenen Eigentumsverhältnissen. Etwa 45 % der bereits seit längerem und 38 % der kürzlich zurückgekehrten Personen berichten, dass sie offiziell nicht berechtigt seien, in ihrer aktuellen Unterkunft zu leben. In Kabul gibt es etwa 54 "informelle Siedlungen", deren Bewohner, häufig Binnenvertriebene oder Rückkehrer, eine besonders vulnerable Gruppe bilden. Laut UN-Habitat lag das durchschnittliche Einkommen in einer solchen Siedlung in Jalalabad unter einem halben USD pro Person pro Tag. Vorhaben der Regierung, ein transparenteres Verfahren zur Landvergabe an Rückkehrer (und Binnenvertriebene) zu etablieren, sind zwar angelaufen, befinden sich aber weiterhin in der Pilotphase. Angehörige von im Dienst verstorbenen Sicherheitskräften, insbesondere Kinder und Ehepartner, erhalten darüber hinaus Einmalzahlungen, aber keine Witwen- oder Waisenrente oder eine andere staatlich organisierte Unterstützung. Es gibt NROs, die diese Familien unterstützen.

Nach der Verfassung ist die medizinische Grundversorgung für alle Staatsangehörigen kostenlos. Allerdings ist die Verfügbarkeit und Qualität der Behandlung durch Mangel an gut ausgebildetem medizinischen Personal und Medikamenten, Missmanagement und maroder Infrastruktur begrenzt und korruptionsanfällig. In der Praxis ist eine Unterbringung und Behandlung von Patientinnen und Patienten oft nur möglich, wenn sie durch Familienangehörige oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt werden. Patienten müssen vermehrt auch für Materialkosten der Behandlungen aufkommen. Im Zuge der Covid-19-Pandemie trat die Unterfinanzierung und Unterentwicklung des Gesundheitssystems deutlich zutage und wurde weiter verschärft. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, überhaupt eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Berichten der WHO zufolge haben 87% der Bevölkerung Zugang zu rudimentärer medizinischer Grundversorgung in einem Radius von zwei Stunden. Hinzu kommt das Misstrauen der Bevölkerung in die staatliche medizinische Versorgung. Die Qualität der Kliniken variiert stark, es gibt wenige Qualitätskontrollen. Viele Afghanen suchen daher, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Ohnehin sind nur etwa 10% der Gesundheitsversorgung in rein staatlicher Verantwortung. Nationale und internationale NROs stellen über das Weltbank-Projekt "Sehatmanti" 90 % der primären, sekundären und tertiären medizinischen Versorgung. Human Rights Watch sieht Anzeichen dafür, dass der Rückgang internationaler Mittel bereits jetzt einen negativen Effekt auf die Gesundheitsversorgung hat. Dass Patienten zunehmend selbst für Material und Medikamente aufkommen müssen, trifft vor allem Frauen ohne eigene finanzielle Ressourcen. Bei der Mütter- und Kindersterblichkeit kam es seit 2002 zu erheblichen Verbesserungen, sie ist in Afghanistan im globalen und auch regionalen Vergleich aber immer noch sehr hoch: Laut dem UN-Bevölkerungsfonds sterben pro 100.000 Geburten durchschnittlich 638 Frauen. Dies liegt u. a. auch an dem großen Mangel an ausgebildeten Hebammen. Die Behandlungs- und Therapiemöglichkeiten für drogenabhängige Personen wie auch die Behandlung von psychischen Erkrankungen - insbesondere Kriegstraumata - findet, abgesehen von einzelnen Projekten von NROs, nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt. Es gibt keine formelle Aus- oder Weiterbildung zur Behandlung psychischer Erkrankungen. Psychische Erkrankungen sind in Afghanistan zudem hoch stigmatisiert. Auch die Sicherheitslage hat erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Versorgung. Die WHO schätzt, dass 2020 bis zu drei Millionen Menschen konfliktbedingt zeitweise von einer Gesundheitsversorgung abgeschnitten waren. UNAMA zählte 2020 insgesamt 90 Angriffe, die zu Schließungen der Einrichtungen führten, ein Anstieg um 20% gegenüber 2019, wobei die Taliban für die Mehrheit der Angriffe (71) verantwortlich gemacht wurden. In weiteren 42 Fällen wurden Gesundheitseinrichtungen gezielt von den Taliban bedroht. So setzten UN-Berichten zufolge Taliban im Januar 2020 in Daikundi eine Klinik speziell für Frauen in Brand. Acht Mitarbeitende von Gesundheitseinrichtungen wurden 2020 getötet, elf verletzt und 36 entführt. Ende März 2021 wurden drei Mitarbeiterinnen einer Polioimpfmaßnahme in Jalalabad erschossen.

Rückkehrer aus Europa und anderen Regionen der Welt werden von der afghanischen Gesellschaft teilweise misstrauisch wahrgenommen. Gleichzeitig hängt ihnen insbesondere innerhalb ihrer Familien oftmals der Makel des Scheiterns an. Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder Afghanistan mit der gesamten Familie verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren. Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar, da der Zugang zum Arbeitsmarkt maßgeblich von lokalen Netzwerken abhängt. Inwiefern das Familiennetzwerk sozialen Halt bieten kann, hängt stark von deren finanziellen Lage ab.

Auf dieser Grundlage ging das Gericht schon vor der Machtübernahme der Taliban davon aus, dass die Existenzsicherung in Afghanistan auch einem jungen, gesunden, alleinstehenden und arbeitsfähigen Mann nicht mehr gelingen wird, sofern dieser in Afghanistan nicht über ein tragfähiges soziales/familiäres Netzwerk oder aus anderen Gründen über eine besondere Durchsetzungsfähigkeit verfügt. Eine solche Durchsetzungsfähigkeit kann z. B. angenommen werden aufgrund besonderer Vermögenswerte, besonderer Ressourcen, besonderer Fertigkeiten, eines besonderen organisatorischen, strategischen und menschlichen Geschicks oder einer besonderen Robustheit, wie sie das Verhalten des Rückkehrers im heimischen Kulturkreis oder im Gastland belegt.

Vor dem Hintergrund der im August 2021 erfolgten Machtübernahme durch die Taliban hat sich die dargestellte Situation der Menschen in Afghanistan - auch in Kabul - in mehrfacher Hinsicht weiter verschlechtert. Diese Einschätzung wird gestützt durch die derzeit aktuellsten Erkenntnismittel zu der humanitären Lage in Afghanistan.

Aus der "Länderinformation der Staatendokumentation" des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (Österreich) vom 28. September 2023 ergibt sich das folgende Bild (S. 140 ff.):

Obwohl die letzten 20 Jahre vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 einem afghanischen Wirtschaftsexperten zufolge "eine goldene Zeit" für das Wirtschaftswachstum in Afghanistan waren, konnten die Milliarden an US-Dollar, die Afghanistan aus dem Ausland erhielt, nicht nachhaltig eingesetzt werden. Gründe dafür waren vor allem Unsicherheit, Dürren und die weitverbreitete Korruption, die auch weitere Investitionen in Afghanistan verhinderten.

Nach der Machtübernahme verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage massiv, was vor allem auch mit der Einstellung vieler internationaler Hilfsgelder zusammenhängt. Die humanitäre Lage bleibt aufgrund der Wirtschaftskrise, der Folgen der COVID-19-Pandemie und der Dürren der vergangenen Jahre extrem angespannt. Die Weltbank rechnete für 2022 mit einem Einbruch des Bruttosozialprodukts um ein Drittel im Vergleich zum Vorjahr. Im Zuge der Wirtschaftskrise droht eine Verarmung der urbanen Mittelschicht. Viele Angestellte des öffentlichen Dienstes haben ihre Arbeit verloren. Tätigkeiten, die mit der internationalen Präsenz im Land verbunden waren, sind weggefallen. Während die Gesamtinflation von ihrem Höchststand im Juli 2022 bis Februar 2023 gesunken ist, bleibt das Preisniveau weiterhin hoch. Die extremen Winter führen zu einem Rückgang der Landwirtschaft, des Baugewerbes und der damit verbundenen Tätigkeiten. Infolgedessen ist die Beschäftigung von qualifizierten und ungelernten Arbeitskräften im Winter zurückgegangen, was darauf hinweist, dass afghanische Familien angesichts des Verlusts von Arbeitsplätzen und Geschäftsmöglichkeiten weiterhin unter erheblichem Druck stehen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Aus einer Studie des United Nations Development Programme (UNDP) geht hervor, dass mehr als drei Viertel der afghanischen Bevölkerung im Jahr 2022 Lebensmittel oder Geld für den Kauf von Lebensmitteln liehen und den Rest, wenn überhaupt, für die grundlegende Gesundheitsversorgung und tertiäre Grundbedürfnisse ausgaben. Während im Jahr 2020 41% der Haushalte keine Bewältigungsmechanismen anwenden mussten, um die sozioökonomischen Härten zu bewältigen, benötigten im Jahr 2022 nur 8% der afghanischen Haushalte keine Bewältigungsstrategien. Da nur begrenzte Bewältigungsmechanismen zur Verfügung stehen, sehen sich viele Afghanen gezwungen, ihren Konsum (einschließlich der Nahrungsmittel) einzuschränken, hohe Kredite aufzunehmen, zu betteln oder extreme Maßnahmen zu ergreifen, um zu überleben. Während einige ihre Häuser, ihr Land oder Vermögenswerte verkaufen, sehen sich andere gezwungen, ihre Kinder arbeiten zu schicken oder junge Töchter zu verheiraten. Laut einem Bericht von Save the Children aus dem Jahr 2022 sind bis zu einem Fünftel der Familien in Afghanistan dazu gezwungen, ihre Kinder zur Arbeit zu schicken, was bedeuten würde, dass, wenn jede dieser betroffenen Familien auch nur ein Kind zur Arbeit schickt, mehr als eine Million Kinder im Land von Kinderarbeit betroffen wären. Es wird vermutet, dass die Zahl der Kinderarbeiter mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen und humanitären Lage in Afghanistan noch steigen wird.

Auch im Jahr 2022 hielten die meisten Geberländer die Kürzungen der Einkommenshilfen und der Löhne für Beschäftigte aufrecht, die für die Gesundheitsversorgung, das Bildungswesen und andere wichtige Dienstleistungen zuständig sind. Die daraus resultierenden weitverbreiteten Lohneinbußen fielen mit steigenden Preisen für Lebensmittel, Treibstoff und andere wichtige Güter zusammen. Auch die landwirtschaftliche Produktion ging im Jahr 2022 aufgrund der anhaltenden Dürre und des fehlenden Zugangs zu Düngemitteln, Treibstoff und anderen landwirtschaftlichen Betriebsmitteln zurück.

Frauen und Mädchen sind unverhältnismäßig stark von der Krise betroffen und sehen sich größeren Hindernissen bei der Beschaffung von Nahrungsmitteln, medizinischer Versorgung und finanziellen Mitteln gegenüber. Die Politik der Taliban, Frauen von den meisten bezahlten Tätigkeiten auszuschließen, hat die Situation noch verschlimmert, vor allem für Haushalte, in denen Frauen die einzigen oder wichtigsten Lohnempfängerinnen waren. In den Fällen, in denen die Taliban Frauen die Arbeit erlaubten, wurde dies durch repressive Auflagen fast unmöglich gemacht, wie z. B., dass Frauen von einem männlichen Familienmitglied zur Arbeit begleitet werden und dort während des gesamten Arbeitstages beaufsichtigt werden müssen.

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im Dezember 2022 in Kabul durchgeführten Studie gaben 90% der Befragten an, Schwierigkeiten bei der Deckung der Grundbedürfnisse zu haben. Eine weitere Studie, die im Januar 2023 vom Assessment Capacities Project (ACAPS) in der Provinz Kabul durchgeführt wurde, ergab, dass die Haushalte sowohl in den ländlichen als auch in den städtischen Gebieten Kabuls Schwierigkeiten hatten, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Als dringendste Probleme nannten die Haushalte unsichere Lebensmittelversorgung und unzureichende Kleidung für die Wintersaison.

Afghanische Haushalte sind nach wie vor stark von Naturkatastrophen betroffen und anfällig für Klimaschocks. Afghanistan hat unter den Ländern mit niedrigem Einkommen in den letzten 40 Jahren die meisten Todesopfer durch Naturkatastrophen zu beklagen und steht weltweit auf Platz 5 der klimatisch am stärksten gefährdeten Länder.

Afghanistan erlebte im Jahr 2022 Naturkatastrophen von denen allein zwischen Januar 2022 und Jänner 2023 mehr als 241.052 Menschen in 33 von 34 Provinzen betroffen waren. Afghanistan ist anfällig für Erdbeben, Überschwemmungen, Dürre, Erdrutsche und Lawinen. Mehr als drei Jahrzehnte Konflikt, gepaart mit Umweltzerstörung und unzureichenden Investitionen in Strategien zur Verringerung des Katastrophenrisikos, haben dazu beigetragen, dass die afghanische Bevölkerung immer schwerer mit Naturkatastrophen fertig wird. Im Durchschnitt sind jedes Jahr 200.000 Menschen von solchen Katastrophen betroffen

Im Jahr 2022 gab es drei schwere Erdbeben, die Menschenleben forderten und Schäden an Häusern und Eigentum verursachten: in der Provinz Badghis im Januar, im Juni in den Provinzen Paktika und Khost und in der Provinz Kunar im September. Außerdem kam es zwischen Juli und September in vielen Provinzen zu Überschwemmungen, die die landwirtschaftlichen Existenzen erheblich beeinträchtigten. Insgesamt wird erwartet, dass schwere und unvorhersehbare Wetterereignisse, wie die Sommerüberschwemmungen von 2022, im Jahr 2023 und darüber hinaus aufgrund der Auswirkungen des Klimawandels zunehmen werden, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Infrastruktur und die Landwirtschaft hat und zu Vertreibungen beitragen wird.

Die durch die Dürren von 2018 und 2021/22 verursachten akuten Bedürfnisse haben sich verschärft und erreichen nun einen Krisenpunkt. Mit Dezember 2022 erlebte Afghanistan zum ersten Mal seit 1998-2001, eine Periode mit mehrjähriger Dürre. Eine mit dem Joint Intersectoral Analysis Framework (JIAF) durchgeführte Analyse zeigt, dass 25 von 34 Provinzen entweder schwere oder katastrophale Dürrebedingungen melden, von denen mehr als 50 % der Bevölkerung betroffen sind. Es handelt sich überwiegend um ein ländliches Phänomen: 73 % der ländlichen Haushalte gegenüber 24 % der städtischen Haushalte sind davon betroffen, insbesondere das zentrale Hochland war Berichten zufolge eine der am stärksten von der Dürre betroffenen Regionen, gefolgt vom Süden und Norden Afghanistans. Die anhaltende Dürre führt zum Austrocknen von Oberflächenwasserquellen und zu einem erheblichen Rückgang des Grundwasserspiegels in handgegrabenen und flachen Brunnen. Die Grundwasserressourcen Afghanistans sind stark erschöpft.

Im März 2023 kam es zu einem schweren Erdbeben im Norden Afghanistans. Bis zu 35 Menschen wurden bei Überflutungen in den Provinzen Kabul und Maidan Wardak im Juli 2023 getötet. Die durch heftige saisonale Regenfälle verursachten Sturzfluten haben Häuser sowie Hunderte von Quadratkilometern landwirtschaftlicher Nutzfläche teilweise oder vollständig zerstört.

Afghanistan gehört zu den Ländern mit der weltweit höchsten Prävalenz von unzureichender Ernährung. Der Hunger ist in erster Linie auf die Wirtschaftskrise zurückzuführen, die Afghanistan seit August 2021 erfasst hat. Hinzu kommen jahrzehntelange Konflikte, Klimaschocks und starke Einschränkungen der Rechte von Frauen und Mädchen auf Arbeit und Hochschulbildung.

In den letzten Jahren hat die akute Ernährungsunsicherheit immer mehr zugenommen. Die IPC (Integrated Food Security Phase Classification)-Analyse im Oktober 2022 ergab, dass sich 46 % der Bevölkerung in der IPC-Phase 3 oder darüber befanden, was in etwa dem Wert der gleichen Saison im Jahr 2021 entspricht. Allerdings ist eine allmähliche Verschiebung der Ursachen für den Bedarf an humanitärer Hilfe im Ernährungsbereich festzustellen: Im Jahr 2022 waren Dürren und wirtschaftliche Gründe die von den Haushalten am häufigsten gemeldeten Ursachen, während im Jahr 2021 Konflikte und COVID-19 die wichtigsten Ursachen waren

Dabei nutzt die IPC folgende Skala für die Einstufung des Schweregrads und des Ausmaßes von Ernährungsunsicherheit und akuter Unterernährung:

-Phase 1 (keine/minimale Mängel): Die Haushalte sind in der Lage, den Grundbedarf an Nahrungsmitteln und anderen Gütern zu decken, ohne atypische und nicht nachhaltige Strategien zur Beschaffung von Nahrungsmitteln und Einkommen anzuwenden.

-Phase 2 (Gestresst): Gestresste Haushalte haben einen minimal adäquaten Nahrungsmittelkonsum, können sich aber einige wesentliche Non-Food-Ausgaben nicht leisten, ohne Stressbewältigungsstrategien anzuwenden.

-Phase 3 (Krise): Krisenhaushalte entweder:- haben Lücken im Nahrungsmittelkonsum, die sich in einer hohen oder überdurchschnittlichen akuten Unterernährung widerspiegeln; oder- sind nur knapp in der Lage, den Mindestnahrungsmittelbedarf zu decken, aber nur unter Aufzehrung der wesentlichen Existenzgrundlagen oder durch Krisenbewältigungsstrategien.

-Phase 4 (Notfall): Nothaushalte entweder:- haben große Nahrungsmittellücken, die sich in einer sehr hohen akuten Unterernährung und einer hohen Sterblichkeitsrate niederschlagen; oder- sind in der Lage, große Nahrungsmittellücken auszugleichen, aber nur durch die Anwendung von Strategien zur Sicherung des Lebensunterhalts und die Auflösung von Vermögenswerten.

-Phase 5 (Katastrophe/Hungersnot): In den Haushalten herrscht ein extremer Mangel an Nahrungsmitteln und/oder anderen Grundbedürfnissen, selbst wenn die Bewältigungsstrategien voll ausgeschöpft werden. Hunger, Tod, Elend und ein extrem kritisches Maß an akuter Unterernährung sind offensichtlich. Für eine Einstufung als Hungersnot muss ein Gebiet ein extrem kritisches Niveau an akuter Unterernährung und Sterblichkeit aufweisen.

Dank der anhaltenden humanitären Hilfe konnte die Gesamtzahl der von Ernährungsunsicherheit betroffenen Menschen in Afghanistan von 20 Millionen während der Wintersaison inzwischen reduziert werden. Nach Angaben von IPC leiden mit April 2023 rund 17,2 Millionen Afghanen (ca. 40 % der Bevölkerung) unter einem hohen Maß an akuter Ernährungsunsicherheit, die als Krise oder Notfall (IPC-Phase 3 oder 4) eingestuft wird. Darunter befinden sich fast 3,4 Millionen Menschen (rund 8 %), die sich in einer Notsituation (IPC-Phase 4) befinden und von Ernährungsunsicherheit betroffen sind (IPC 15.5.2023). Zwischen Mai und Oktober 2023 wird eine leichte saisonale Verbesserung erwartet, wobei die Zahl der Menschen, die sich in IPC-Phase 3 (Krise) oder darüber befinden, wahrscheinlich auf etwa 15,3 Millionen zurückgehen wird, darunter knapp 2,8 Millionen Menschen, die sich in einer Notlage (IPC-Phase 4) befinden.

Nach dem dritten Dürrejahr in Folge in Afghanistan wird für 2023 ein Weizendefizit von 30-35 % erwartet. Die Prognosen deuten zwar darauf hin, dass sich die Weizenproduktion im Vergleich zu den Vorjahren insgesamt verbessern wird, aber die westlichen Provinzen werden wahrscheinlich weiterhin unterdurchschnittliche Ernten einfahren.

Die Lebensmittelpreise sind seit der Machtübernahme durch die Taliban gestiegen, was die prekäre Lebensmittelversorgung für einen Großteil der Bevölkerung verstärkt. Der afghanische Lebensmittelmarkt ist stark von einer kleinen Zahl von Akteuren besetzt, was ihn sehr anfällig für Preisschocks auf dem internationalen Markt macht. Steigen die Lebensmittelpreise, hat dies erhebliche Auswirkungen auf Haushalte, kleine Unternehmen und das gesamtwirtschaftliche Wachstum im Land. Die weltweiten Getreidepreise sind seit ihrem Höchststand im Mai 2022 weiter gesunken, blieben aber im Vergleich zu 2021 auf einem hohen Niveau, das weit unter den Mitte 2022 beobachteten Höchstpreisen liegt. Die Preise für die kasachischen Weizenexporte, die das wichtigste Grundnahrungsmittel für Afghanistan sind, haben sich seit ihrem Höchststand im Juni 2022 stabilisiert. Die nationalen Weizenmehlpreise sind zwar weiter gesunken, liegen aber immer noch 20% höher als im August 2021.

Laut dem vierteljährlichen Update der Weltbank zur Ernährungssicherheit in Afghanistan ist die Inflation bei Nahrungsmitteln weiter zurückgegangen, und zwar von 26 % im Juni 2022 auf 3,2 % im Januar 2023, und auch die Preise für grundlegende Haushaltsartikel sind im Jahresvergleich gesunken. Während die Kaufkraft der Haushalte aufgrund des insgesamt höheren Preisniveaus im Vergleich zum August 2021 geschwächt wurde, deutet der jüngste deflationäre Trend bei den Preisen für grundlegende Haushaltsartikel auf eine positive Entwicklung hin.

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 3,6 % der Befragten an, dass sie in der Lage seien, ihre Familien ausreichend mit Lebensmitteln zu versorgen. 53 % der Befragten in Herat, 26 % in Balkh und 12 % in Kabul gaben an, sie könnten es sich nicht leisten, ihre Familien ausreichend zu ernähren. Ebenso gaben 33 % der Befragten in Herat und Balkh und 57 % der Befragten in Kabul an, dass sie kaum in der Lage sind, ihre Familien ausreichend zu ernähren. In der ein Jahr später durchgeführten Studie von ATR Consulting in Kabul gaben ca. 53% der Befragten an, dass sie kaum in der Lage sind, die Familie mit ausreichend Lebensmitteln zu versorgen.

Wohnkosten sind eine der größten Pro-Kopf-Ausgaben in Afghanistan. Gemäß einer Umfrage von IOM Afghanistan bei 15 Unternehmen und fünf IOM-Mitarbeitern, gibt eine afghanische Familie, die in einem städtischen Gebiet lebt, im Durchschnitt 28% ihres monatlichen Einkommens für Wohnen aus. In den Häusern fehlt es oft an grundlegenden Einrichtungen wie einer Wasserleitung im Haus, einem Bad mit warmem Wasser sowie Kühl- und Heizsystemen. Eufach0000000004wohnungen sind im Allgemeinen besser ausgestattet und daher teurer.

Die afghanische Nachrichtenagentur Pajhwok Afghan News hat bei Immobilienhändlern in den Kabuler Stadtteilen Shahr-i-Naw, Khoshal Khan und Qasaba Informationen über Kauf- und Verkaufspreise sowie Mietkosten eingeholt. Demnach sind Mietpreise für Häuser und Grundstücke nach dem Regierungswechsel im vergangenen Jahr um 60 % gesunken. In letzter Zeit sind die Preise jedoch wieder um 50% gestiegen. So lag die Miete für eine Dreizimmerwohnung vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 je nach Stadtteil zwischen 8.000 AFN und 35.200 AFN. In den ersten Tagen des Talibanregimes sank der Preis auf zwischen 4.250 AFN und 25.400 AFN und mit September 2022 liegt der Preis zwischen 5.000 AFN und 19.800 AFN. Ein afghanischer Wirtschaftsexperte gab an, dass zwar die Preise für Wohnungen und Autos seit der Machtübernahme durch die Taliban stark gesunken wären, jedoch gleichzeitig auch die Kaufkraft der Menschen erheblich gesunken ist.

Nach Angaben von IOM nimmt die Höhe und Häufigkeit des Einkommens ab, und es gibt keine Anzeichen für eine Umkehrung dieser Entwicklung. Die Hauptgründe für die Schwäche des Arbeitsmarktes sind der Rückgang der Kaufkraft, die Sanktionen gegen Afghanistan, die Schließung der Bankensysteme und die Steuerpolitik der Taliban. Laut einer von IOM Afghanistan zwischen September und Oktober 2022 durchgeführten Arbeitsmarktbewertung gibt es neben diesen Faktoren noch weitere, weniger sichtbare Faktoren, deren Auswirkungen auf die lokale Wirtschaft jedoch als ebenso groß eingeschätzt werden. Diese sind beispielsweise der Wegfall des früheren Regierungspersonals aus den staatlichen Einrichtungen oder das Verbot für Mitarbeiterinnen, ihren Arbeitsplatz aufzusuchen. Ein afghanischer Wirtschaftsexperte schätzte im Sommer 2022, dass seit der Machtübernahme der Taliban etwa eine Million Menschen ihre Arbeit verloren haben, während nach Schätzungen der International Labour Organization (ILO) die Zahl der Beschäftigten im vierten Quartal 2022 um 450.000 niedriger liegen als im zweiten Quartal 2021, also vor der Machtübernahme der Taliban. Nach einer leichten Erholung unmittelbar nach dem ersten Schock stagnierte die Beschäftigung im vierten Quartal 2022 auf niedrigem Niveau (ILO 3.2023). Ab März 2023 gab es einen Anstieg der Beschäftigungsmöglichkeiten sowohl für qualifizierte als auch für ungelernte Arbeitskräfte, nachdem das Angebot in den Wintermonaten saisonbedingt zurückgegangen war. Die Verfügbarkeit von Arbeit für beide Kategorien war im Mai und Juni 2023 besser als in den gleichen Monaten des Jahres 2022. Die günstigen Wetterbedingungen im Jahr 2023 haben zu besseren Ernten und Einkommen geführt, was sich positiv auf die Nachfrage nach Arbeitskräften für beide Kategorien in der Landwirtschaft und im nicht-landwirtschaftlichen Sektor auswirkte. Infolgedessen hat sich die Verfügbarkeit von Arbeit, insbesondere für ungelernte Arbeitskräfte, verbessert.

Seit der Machtübernahme ist Berichten zufolge die Kinderarbeit und die Anzahl der Bettler deutlich gestiegen. Der Anstieg der Kinderarbeit könnte auch mit der Schließung von Schulen und Universitäten für Frauen sowie mit der vorherrschenden Konzentration auf religiöse Lehren in Schulen für Männer zusammenhängen. In Afghanistan ist Kinderarbeit vor allem in ländlichen Gebieten vorzufinden. Kinder werden beispielsweise bei der Herstellung von Ziegeln oder in Kohleminen als Arbeiter eingesetzt.

Die von den Taliban verhängten Arbeitsbeschränkungen haben zu einer verzweifelten Situation für viele Frauen geführt, welche die einzigen Lohnempfängerinnen ihrer Familien waren, was durch die humanitäre und wirtschaftliche Krise in Afghanistan noch verschärft wird. Die ILO schätzt, dass die Beschäftigungsrate von Frauen im vierten Quartal 2022 im Vergleich zum zweiten Quartal 2021 um schätzungsweise 25 % niedriger war, und Experten erwarten, dass die strengen Beschränkungen der Taliban für Frauen, die außerhalb ihres Hauses arbeiten, auch die verheerende wirtschaftliche und humanitäre Krise in Afghanistan verschärfen wird, was sich auch in einer niedrigen Beschäftigung von Jugendlichen niederschlägt. So schätzt die UNDP, dass die Einschränkungen der Erwerbstätigkeit von Frauen zu wirtschaftlichen Verlusten von einer Milliarde USD führen werden, das entspricht rund 5 % des afghanischen BIP.

Nach Angaben von IOM erhält ein Tagelöhner in Afghanistan mit Stand Oktober 2022 ca. 350 AFN für einen achtstündigen Arbeitstag. Im September 2020 und März 2021 war der Tageslohn eines ungelernten Arbeiters ca. 439 AFN. In Kabul, Mazar-e Sharif und Herat sind die Löhne für Tagelöhner ähnlich hoch, die Häufigkeit der Arbeit kann jedoch unterschiedlich sein. Ein Tagelöhner in Kabul kann etwa vier- bis fünfmal pro Woche Arbeit finden, während ein Tagelöhner in Herat und Mazar-e Sharif nur maximal dreimal pro Woche Arbeit findet. Die Befragten einer Umfrage von IOM gaben an, dass die meisten Tagelöhner auf Baustellen arbeiten. In Kabul, Herat und Mazar-e Sharif ist der Bau von neuen Häusern deutlich zurückgegangen. Da der Bau von Häusern erhebliche Auswirkungen auf andere Berufe hat, wie z. B. Zimmerleute, Installateure und Metallarbeiter, sind auch einige andere Sektoren von diesem Trend stark betroffen. Der monatliche Mindestlohn in Afghanistan beträgt 5.000 AFN für Staatsbedienstete. In der Privatwirtschaft gibt es keinen Mindestlohn, da das afghanische Arbeitsgesetz über Mindestlöhne derzeit nicht in Kraft ist.

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie mit 300 Befragten gaben 58,3 % der Befragten an, keine Arbeit zu haben oder bereits längere Zeit arbeitslos zu sein (Männer: 35,3 %, Frauen: 81,3 %). Was die Art der Beschäftigung betrifft, so gaben 62 % der Befragten an, entweder ständig oder gelegentlich eine Vollzeitstelle zu haben, während 25 % eine Teilzeitstelle hatten, 9 % als Tagelöhner arbeiteten und 2 % mehrere Teilzeit- oder Saisonstellen hatten. Die Mehrheit der Befragten (89,1 %) gaben an, ein Einkommensniveau von weniger als 10.000 AFN pro Monat zu haben. 8,7 % der Befragten gaben an, ein Einkommensniveau zwischen 10.000 und 20.000 AFN pro Monat zu haben, und 2,2 % stuften sich auf ein höheres Niveau zwischen 20.000 und 50.000 AFN pro Monat ein.

In einer Studie von ATR Consulting die im Dezember 2022 in Kabul durchgeführt wurde, zeige sich erhebliche Unterschiede hinsichtlich des Beschäftigungsstatus von Männern und Frauen in der formellen/informellen Wirtschaft. Zum Zeitpunkt der Erhebung gaben 46 % bzw. 153 Männer an, kontinuierlich beschäftigt zu sein, gegenüber 8 % bzw. 13 Frauen bei einer Gesamtstichprobe von 506 Befragten (334 Männer, 172 Frauen). In Bezug auf die Art der Beschäftigung gaben 58 % oder 109 Männer an, dass sie vollzeitbeschäftigt waren, während nur 44 % oder 7 von 13 kontinuierlich beschäftigten Frauen angaben, vollzeitbeschäftigt zu sein. Die überwiegende Mehrheit der männlichen (85 % oder 285 Männer) und weiblichen (79 % oder 135) Befragten gab an, dass ihre Kinder nicht zum Familieneinkommen beitragen.

Anm.: Ein Euro entspricht mit Stand August 2023 ca. 92 AFN

Nach Angaben von UNHCR sind zwischen Januar und August 2023 8.029 afghanische Flüchtlinge nach Afghanistan zurückgekehrt (95% aus Pakistan, 4% aus Iran und 1% aus anderen Ländern). Die Zahl der Rückkehrer in den ersten sieben Monaten des Jahres 2023 ist fünfmal so hoch wie die Zahl der Rückkehrer im gleichen Zeitraum des Jahres 2022 und die Gesamtzahl der Rückkehrer im Jahr 2022 (6.424). Als Hauptgründe für die Rückkehr aus Iran und Pakistan nannten die Rückkehrer die Lebenshaltungskosten und den Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten in den Aufnahmeländern, die verbesserte Sicherheitslage in Afghanistan und die Wiedervereinigung mit der Familie. Im Jahr 2023 kehrten 57 % der Flüchtlinge in fünf Provinzen zurück: Kabul (21 %), Kunduz (13 %), Kandahar (10 %), Nangarhar (7 %) und Jawzjan (6 %). Außerdem hielten sich 72 % der Rückkehrer seit mehr als zehn Jahren im Asylland auf und 25 % wurden im Asylland geboren.

Eine Studie von IOM, bei der Afghanen interviewt wurden, die zwischen Januar 2018 und Juli 2021 aus der Türkei oder der EU nach Afghanistan zurückkehrten, berichtet, dass die Rückkehrer weiterhin mit erheblichen wirtschaftlichen und ernährungsbedingten Herausforderungen konfrontiert sind. Der größte Anteil der Befragten (45 %) gab an, arbeitslos zu sein, während 40 % sagten, sie arbeiteten für einen Tageslohn und fast 90% der Befragten gaben an, dass sich ihre wirtschaftliche Situation im ersten Halbjahr 2022 verschlechtert habe.

Afghanistan war bereits vor der Machtübernahme der Taliban eines der ärmsten Länder der Welt. Die durch die Folgen der COVID-19-Pandemie und anhaltende Dürreperioden bereits angespannte Wirtschaft ist in Folge der Machtübernahme der Taliban kollabiert. Rückkehrende dürften nur in Einzelfällen über die notwendigen sozialen und familiären Netzwerke verfügen, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern.

IOM hat aufgrund der aktuellen Lage vor Ort die Option der Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration seit 16.8.2021 für Afghanistan bis auf Weiteres weltweit ausgesetzt. Es können somit derzeit keine freiwilligen Rückkehrer aus Österreich nach Afghanistan im Rahmen des Projektes RESTART III unterstützt werden. Das Reintegrations- und Entwicklungshilfeprojekt (RADA), welches 2017 ins Leben gerufen wurde, hat das Ziel, "eine geordnete, sichere, regelmäßige und verantwortungsvolle Migration und Mobilität von Menschen zu erleichtern, unter anderem durch die Umsetzung geplanter und gut verwalteter Maßnahmen". Es unterstützt Gemeinden mit einer hohen Anzahl an Rückkehrern durch Projekte wie den Bau von Bewässerungskanälen. Die Beratungstätigkeit des Ministeriums für Flüchtlinge und Repatriierung (MoRR) durch IOM wurde mit der Machtübernahme der Taliban eingestellt. Auch ist die Bereitstellung von sofortiger Aufnahmeunterstützung am Flughafen Kabul derzeit ausgesetzt.

Am 30. August 2021 gab Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid in einem Interview an, dass viele aus Angst aufgrund von Propaganda aus Afghanistan ausgereist wären und die Taliban nicht glücklich darüber seien, dass Menschen Afghanistan verlassen, obwohl jeder, der über Dokumente verfüge, zur Ausreise berechtigt sein sollte. Auf die Frage, ob afghanische Asylwerber in Deutschland oder Österreich mit abgelehnten Asylanträgen, die möglicherweise auch Straftaten begangen haben, wieder aufgenommen würden, antwortete Mujahid, dass sie aufgenommen würden, wenn sie abgeschoben und einem Gericht zur Entscheidung über das weitere Vorgehen vorgeführt würden. Es war nicht klar, ob sich Mujahid mit dieser Aussage auf Rückkehrer im Allgemeinen oder nur auf Rückkehrer bezog, die Straftaten begangen haben. Nach Einschätzung von UNAMA besteht die Möglichkeit, dass im Ausland straffällig gewordene Rückkehrende, wenn die Tat einen Bezug zu Afghanistan aufweist, in Afghanistan zum Opfer von Racheakten z. B. von Familienmitgliedern der Betroffenen werden können; auch eine erneute Verurteilung durch das von den Taliban kontrollierte Justizsystem ist nicht ausgeschlossen, wenn der Fall den Behörden bekannt würde.

Die Taliban haben am 16. März 2022 eine Kommission unter Leitung des Taliban-Ministers für Bergbau und Petroleum ins Leben gerufen, die Mitglieder der ehemaligen wirtschaftlichen und politischen Elite überzeugen soll, nach Afghanistan zurückzukehren. Im Rahmen dieser Bemühungen sollen inzwischen 200 mehr oder weniger prominente Persönlichkeiten nach Afghanistan zurückgekehrt sein, darunter auch ehemalige Minister und Parlamentarier. Die Taliban-Regierung trifft widersprüchliche Aussagen darüber, ob es den Rückkehrern gestattet sein wird, sich politisch zu engagieren.

Einem afghanischen Menschenrechtsexperten zufolge gab es unter Taliban-Sympathisanten und einigen Taliban-Segmenten ein negatives Bild von Afghanen, die Afghanistan verlassen hatten. Menschen, die Afghanistan verlassen hatten, würden als Personen angesehen, die keine islamischen Werte vertraten oder auf der Flucht vor Dingen seien, die sie getan haben. Auf der anderen Seite haben die Taliban den Pässen für afghanische Arbeiter, die im Ausland arbeiten, Vorrang eingeräumt, da dies ein Einkommen für das Land bedeuten würde. Auf einer Ebene mögen die Taliban also den wirtschaftlichen Aspekt verstehen, aber sie wissen auch, dass viele derjenigen Afghanen, die ins Ausland gehen, nicht mit ihnen einverstanden sind. Ein afghanischer Rechtsprofessor beschrieb zwei Darstellungen der Taliban über Personen, die Afghanistan verlassen, um in westlichen Ländern zu leben. Einerseits jene, die Afghanistan aufgrund von Armut, nicht aus Angst vor den Taliban, verlassen und auf eine bessere wirtschaftliche Lage in westlichen Ländern hoffen. Die andere Darstellung bezog sich auf die "Eliten" die das Land verließen. Sie würden nicht als "Afghanen", sondern als korrupte "Marionetten" der "Besatzung" angesehen, die sich gegen die Bevölkerung stellten. Dieses Narrativ könnte beispielsweise auch Aktivisten, Medienschaffende und Intellektuelle einschließen und nicht nur ehemalige Regierungsbeamte. Der Quelle zufolge sagten die Taliban oft, dass ein "guter Muslim" nicht gehen würde und dass viele, die in den Westen gingen, nicht "gut genug als Muslime" seien. Zwei Anthropologen an der Zayed-Universität [Anm.: öffentliche Universität mit Sitz in den Vereinigten Arabischen Emiraten], beschrieben ein ähnliches Narrativ, nämlich dass Menschen, die das Land verlassen wollen, nicht als "die richtige Art von Mensch" bzw. nicht als "gute Muslime" wahrgenommen werden. Sie unterschieden jedoch die seit Langem bestehende Tradition der paschtunischen Männer, ins Ausland zu gehen, um dort zu arbeiten, von anderen Afghanen, die weggehen und sich in nicht-muslimischen Ländern aufhalten - was nicht "der richtige Weg" sei. Sie erklärten ferner, dass in ländlichen paschtunischen Gebieten eine Person, die nach Europa oder in die USA gehen will, im Allgemeinen mit Misstrauen betrachtet wird, ebenso wie Personen mit westlichen Kontakten.

bb. Auch unter Berücksichtigung dieser zweifelsfrei schwierigen humanitären Situation in Afghanistan ist das Gericht unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Hinblick auf den Kläger davon überzeugt, dass dieser bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine hinreichende Lebensgrundlage vorfinden wird.

Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger noch über in Afghanistan lebende Verwandte verfügt, die ihn bei einer Rückkehr in sein Heimatland unterstützen werden. Er hatte hierzu bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt am 20. November 2013 erklärt, dass seine Großmutter sowie Tanten und Onkel väterlicherseits wie mütterlicherseits in Kabul leben würden.

Zwar hat der Kläger im vorliegenden Verfahren anfangs behauptet, er habe in Afghanistan keine Verwandten mehr, da sich die gesamte Familie in der Bundesrepublik Deutschland befinde (vgl. Schriftsatz vom 14. Juni 2021, Bl. 93 der GA). Diese Behauptung ist jedoch derart pauschal, dass sie nicht geeignet ist, die Annahme eines bestehenden Familienverbandes in Afghanistan substantiiert zu erschüttern. Insbesondere hat der Kläger nicht substantiiert vorgetragen, dass sich auch seine Großmutter sowie seine Tanten und Onkel nunmehr allesamt in Deutschland aufhalten würden. Hierfür ist auch im Übrigen nichts ersichtlich.

Später (im Schriftsatz vom 21. Juni 2021) hat der Kläger hierzu vorgetragen, seine Eltern und Geschwister befänden sich in Deutschland, während er zu seinen weiteren Verwandten in Afghanistan seit seiner Ausreise im Jahr 2013 keinen Kontakt mehr habe; er wisse auch nicht, ob diese Verwandten bereits verstorben seien (vgl. Bl. 102 der GA). Auch diese Darlegung ist nicht geeignet, die Annahme einer familiären Unterstützung in Afghanistan zu erschüttern. Denn es ist kein Grund dafür ersichtlich, warum auch die in Deutschland lebenden Eltern des Klägers keinen Kontakt mehr zu ihren Geschwistern in Afghanistan haben sollten bzw. warum eine Kontaktaufnahme mit diesen Geschwistern nicht möglich sein sollte. Diese Auffassung hatte das Gericht bereits in seinem Eilbeschluss vom 22. Juni 2021 (4 B 105/21) vertreten, ohne dass der Kläger hierzu in der Folgezeit substantiiert noch etwas vorgetragen hätte. Den angeblichen Kontaktabbruch zu den Verwandten in Afghanistan wertet das Gericht daher (weiterhin) als reine Schutzbehauptung des Klägers. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil der Kläger in seiner eidesstattlichen Versicherung vom 21. Juni 2021, die er als Anlage zu dem genannten Schriftsatz vom 21. Juni 2021 an das Gericht übersandt hat, dann wiederum - und offensichtlich falsch - behauptet hat, er habe keine Familienangehörigen mehr in Afghanistan; seine gesamte Familie befinde sich in der Bundesrepublik Deutschland.

In der mündlichen Verhandlung vom 16. November 2023 erklärte der Kläger zu seiner Familie, er habe in Afghanistan niemanden mehr, der ihn unterstützen könne; zu seinen Tanten und Onkeln, die er dort gehabt habe, habe er keinen Kontakt mehr; er wisse nichts über sie; vielleicht seien sie ja auch tot; seitdem er Afghanistan verlassen habe, habe er keinen Kontakt mehr zu ihnen. Diese Erklärung kollidiert wiederum mit der eidesstattlichen Versicherung des Klägers vom 24. August 2021, die dieser in den Verfahren 1 A 173/21 und 1 B 174/21 betreffend den Ausweisungsbescheid des Landkreises O. vom 15. Juli 2021 zu den Akten übersandt hat. Denn dort hatte der Kläger noch erklärt, er habe über Dritte gehört, dass "die Familien in die Nachbarländer ausgewandert sind und einige Familienangehörige jetzt in der Türkei leben" (vgl. Bl. 57 der genannten Gerichtsakten). Diese angebliche Ausreise seiner Verwandten in die Nachbarländer von Afghanistan bzw. in die Türkei ließ der Kläger während der mündlichen Verhandlung gänzlich unerwähnt.

Das Gericht hat daher insgesamt den Eindruck gewonnen, dass die schlichte Behauptung des Klägers, er habe in Afghanistan keine Familienangehörigen mehr, rein asyltaktisch motiviert ist und dazu dienen soll, seine Chancen auf einen Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland zu erhöhen. Es ist im Übrigen auch nicht die Aufgabe des Tatsachengerichts, dem Kläger nachzuweisen, dass er in Afghanistan seinen existentiellen Lebensunterhalt sichern kann. Der Kläger als Schutzsuchender trägt im Gegenteil die materielle Beweislast für die ihm günstige Behauptung, ihm drohe in Afghanistan die Verelendung. Dazu muss er insbesondere alle in seine Sphäre fallenden erheblichen Tatsachen zur Überzeugung des Gerichts vortragen (VGH Mannheim, Urteil vom 22. Februar 2023 - A 11 S 1329/20 -, juris, Rn. 210). Der Kläger müsste daher das von ihm behauptete Fehlen eines familiären Netzwerkes in Afghanistan bzw. dessen Leistungsunfähigkeit nachvollziehbar und substantiiert darlegen. Dies ist indes nicht geschehen. Denn allein die Behauptung, in Afghanistan keine unterstützungsbereiten Familienangehörigen mehr zu haben, reicht hierfür ersichtlich nicht aus.

Es liegen auch keine belastbaren Anhaltspunkte dafür vor, dass das in Afghanistan noch vorhandene soziale und familiäre Netzwerk des Klägers nicht tragfähig sein könnte. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Denn die Mutter des Klägers gab in ihrer Befragung zur Vorbereitung der Anhörung gemäß § 25 AsylVfG am 21. März 2011 gegenüber der Beklagten an, in Kabul 13 Jahre lang die Mädchenschule "Afschar" besucht zu haben (vgl. Bl. 182 der GA). Sie dürfte daher aus einer eher wohlhabenden Familie stammen. Hinzu kommt, dass der Vater des Klägers bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt am 19. September 2016 erklärte, er habe für die zweite Ausreise aus Afghanistan selbst nichts bezahlen müssen; vielmehr habe ein Freund von ihm zugesagt, ihn nach Deutschland zu bringen. Auch dies spricht dafür, dass es in Afghanistan weiterhin ein belastbares und unterstützungsbereites Netzwerk für die Familie des Klägers (und damit auch für den Kläger selbst) gibt.

Bei seiner Entscheidung berücksichtigt das Gericht schließlich auch, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan lediglich für eine Übergangszeit die Unterstützung seiner Familie oder eines anderen sozialen Netzwerkes benötigen wird. Bei Berücksichtigung seiner Biografie und seiner charakterlichen Robustheit und Durchsetzungsfähigkeit ist die Annahme gerechtfertigt, dass er sich schon nach einer vergleichsweise kurzen Eingewöhnungszeit aller Voraussicht nach eigenständig ein Existenzminimum wird erwirtschaften können. Der Kläger hat seine wesentliche Sozialisation noch in Afghanistan erhalten. Er hat Afghanistan erst im Alter von rund 15 Jahren verlassen. Daher ist er nicht nur mit der in Afghanistan gesprochenen Sprache dari, sondern auch mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Heimatlandes bestens vertraut. Als Tadschike gehört er überdies keiner Minderheit in Afghanistan an. Zwar beschränkt sich die berufliche Erfahrung des Klägers in Afghanistan darauf, dass er nach der Schule Zigaretten verkauft hat. Allerdings schätzt das Gericht den Kläger aufgrund seines bisherigen Lebenslaufs als besonders robust und damit durchsetzungsfähig ein. So hat der Kläger - laut seinen eigenen Angaben im Asylverfahren - vor seiner Einreise nach Deutschland etwa drei Jahre lang in Griechenland gelebt. Hierbei war er die letzten eineinhalb Jahre auf sich allein gestellt, nachdem sein Vater in Griechenland verhaftet worden war. Da der Kläger in Griechenland keinen Asylantrag gestellt hatte, hatte er während seines Aufenthalts in Griechenland keinen Anspruch auf die staatliche Gewährung von Unterkunft und Verpflegung als Asylantragsteller. Dementsprechend war er nach seinen Schilderungen darauf angewiesen, sich eigenständig um eine Unterkunft zu kümmern und Geld für seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Dies ist ihm - wenn auch unter schwierigen Bedingungen - gelungen, obwohl er zu dieser Zeit zum Teil noch minderjährig und überdies weder mit der Sprache noch mit dem Kulturkreis vertraut gewesen war. Ferner gelang es dem Kläger in dieser schwierigen Situation, sich im Wege der Familienzusammenführung um eine Einreise nach Deutschland zu kümmern. Dies zeigt, dass der Kläger auch unter schwierigsten Bedingungen in der Lage ist, sich um seine Belange erfolgreich zu kümmern und gegen Widerstände durchzusetzen. Zu dieser Robustheit tritt hinzu, dass der Kläger in Afghanistan acht Jahre lang die Schule besucht hat. Damit ist er im Vergleich zu vielen seiner Landsleute, die häufig Analphabeten sind, klar im Vorteil. Auch diese Schulbildung wird dem Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan daher von Nutzen sein.

Im Rahmen einer Gesamtschau ist daher nicht zu befürchten, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in eine ausweglose Lage geraten würde, die ihm nicht zugemutet werden kann. Ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG liegt daher zu Gunsten des Klägers nicht vor.

4. Der Kläger trägt gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, 711 ZPO.