Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 20.11.2023, Az.: 1 B 157/23

Aufenthaltserlaubnis für drittstaatsangehörigen Lebensgefährten einer ukrainischen Staatsangehörigen

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
20.11.2023
Aktenzeichen
1 B 157/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 42748
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGGOETT:2023:1120.1B157.23.00

Fundstelle

  • AUAS 2024, 2-4

Gründe

Der Antragsteller hat mit den Anträgen,

die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sowie die Abschiebungsandrohung vom 17.04.2023 (Az.: E.), zugestellt am 19.04.2023, anzuordnen,

hilfsweise den Antragsgegner im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vom 05.09.2022 von Abschiebemaßnahmen abzusehen,

keinen Erfolg.

Der Hauptantrag ist zulässig, aber unbegründet (hierzu 1.); der Hilfsantrag hat ebenfalls keinen Erfolg (hierzu 2.).

1.

a. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Alt. VwGO ist statthaft, weil der Aufenthalt des Antragstellers, eines türkischen Staatsangehörigen, in der Bundesrepublik Deutschland zum Zeitpunkt der Antragstellung auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis am 05.09.2022 rechtmäßig war und der Antrag damit die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ausgelöst hat.

Der Antragsteller ist als türkischer Staatsangehöriger grundsätzlich visumspflichtig, reiste aber am 20.08.2022 ohne Visum in die Bundesrepublik Deutschland ein. Dass sein Aufenthalt rechtmäßig war, obwohl er ohne Visum in das Bundesgebiet eingereist ist, ergibt sich aus der Verordnung zur vorübergehenden Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels von anlässlich des Krieges in der Ukraine eingereisten Personen (UkraineAufenthÜV) vom 07.03.2022 (BAnz v. 08.03.2022, S. 1), die zuletzt durch Artikel 1 der Verordnung vom 24.05.2023 (BGBl. 2023 I Nr. 138) geändert und bis zum 02.06.2024 verlängert worden ist. Nach § 2 Abs. 1 UkraineAufenthÜV sind Ausländer, die sich am 24.02.2022 in der Ukraine aufgehalten haben und die bis zum 04.03.2024 in das Bundesgebiet eingereist sind, ohne den für einen langfristigen Aufenthalt im Bundesgebiet erforderlichen Aufenthaltstitel zu besitzen, für einen Zeitraum von 90 Tagen ab dem Zeitpunkt der erstmaligen Einreise in das Bundesgebiet vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit.

Darauf, dass der Antragsteller nicht ukrainischer, sondern türkischer Staatsangehöriger ist, kommt es für die Befreiung von der Visumspflicht nach dem Wortlaut von § 2 Abs. 1 UkraineAufenthÜV, der ganz allgemein auf die ausländische Staatsangehörigkeit abstellt, nicht an. Der Antragsteller hat trotz insgesamt widersprüchlichen Vortrags glaubhaft gemacht, dass er sich am 24.02.2022 in der Ukraine aufhielt. Er legte nämlich dem Antragsgegner seinen vom 01.10.2020 bis 21.12.2021 gültigen türkischen Nationalpass vor, der diverse Ein- und Ausreisestempel aufweist. Danach reiste der Antragsteller am 14.10.2020 aus der Türkei aus und in die Ukraine ein, am 23.11.2020 aus der Ukraine wieder aus. Weiter gibt es einen Ausreisestempel der Türkei vom 25.09.2021 und einen Einreisestempel der Ukraine vom 26.09.2021 sowie einen polnischen Einreisestempel vom 15.03.2022 (BA 001, Bl. 54 f.). Diese Stempel sind zwar nicht vollständig, sprechen aber für die Richtigkeit des Vortrags des Antragstellers, sich am 24.02.2022 in der Ukraine aufgehalten zu haben.

b. In der Sache hat sein Antrag keinen Erfolg. Das öffentliche Interesse am Vollzug der im Bescheid vom 17.04.2023 enthaltenen Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (Ziff. 1) und Abschiebungsandrohung (Ziff. 2) überwiegt das private Aussetzungsinteresse des Antragstellers, weil die angefochtenen Regelungen bei summarischer Prüfung aller Voraussicht nach rechtmäßig sind.

Soweit der Antragsteller geltend macht, er habe als Familienangehöriger eines ukrainischen Staatsangehörigen einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 Buchst. c) des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 des Rates vom 04.03.2022 zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinne des Art. 5 der RL 2001/55 und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes (ABl EU L 71, S. 1 vom 04.03.2022, im Folgenden Durchführungsbeschluss), besteht ein solcher Anspruch nach Aktenlage nicht.

Als Familienangehöriger eines ukrainischen Staatsangehörigen gilt nach Art. 2 Abs. 4 Buchst. a Alt. 2 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 auch der nicht verheiratete Partner, der mit dieser Person in einer dauerhaften Beziehung lebt, sofern nicht verheiratete Paare nach den nationalen ausländerrechtlichen Rechtsvorschriften oder den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaats verheirateten Paaren gleichgestellt sind. Dazu muss nach Art. 2 Abs. 4 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 kommen, dass die Familie, deren Teil der Drittstaatsangehörige ist, bereits vor dem 24.02.2022 in der Ukraine anwesend und aufhältig war. Aus dem Wortlaut der Regelung folgt, dass die maßgebliche Familie bereits vor dem Stichtag und in der Ukraine bestanden haben muss.

Nach dem deutschen Aufenthaltsrecht sind nicht verheiratete Paare verheirateten nur im Fall einer lebenspartnerschaftlichen Gemeinschaft gleichgestellt (§§ 27 Abs. 2, 30 Abs. 1 AufenthG). Eine lebenspartnerschaftliche Gemeinschaft ist jedoch die Gemeinschaft von zwei gleichgeschlechtlichen Lebenspartnern i.S.d. LPartG (vgl. § 1 LPartG) (vgl. VG München, Beschl. v. 01.09.2023 - 4 S 23.2442 -, juris Rn. 34 unter Verweis auf Dietz, Kriegsvertriebene aus der Ukraine, NVwZ 2022, 505). Eine solche Lebenspartnerschaft liegt hier auch nach dem Vortrag des Antragstellers nicht vor.

Die Beziehung des Antragstellers ist auch, seinen Vortrag zugrunde gelegt, nicht nach den deutschen Gepflogenheiten so ausgestaltet, dass sie der eines verheirateten Paaren gleichgestellt ist. Dabei lässt die Kammer offen, ob nach deutschen Gepflogenheiten, also nach einem außerrechtlichen Maßstab der öffentlichen Wahrnehmung, eine Beziehung überhaupt einer Ehe oder Lebenspartnerschaft gleichgestellt ist (verneinend VG München, Beschl. v. 01.09.2023 - 4 S 23.2442 -, juris Rn. 34).

Selbst wenn das der Fall ist, wäre jedenfalls eine eheähnliche Gemeinschaft im Sinn einer auf Dauer angelegten wechselseitigen Beistandsgemeinschaft zu verlangen. In diesem Sinn ist auch die im streitgegenständlichen Bescheid in Bezug genommene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Begriff der eheähnlichen Gemeinschaft i.S.d. § 137 Abs. 2a Arbeitsförderungsgesetz zu verstehen. Danach ist die eheähnliche Gemeinschaft eine Lebensgemeinschaft zwischen einem Mann und einer Frau, die auf Dauer angelegt ist, daneben keine weitere Lebensgemeinschaft gleicher Art zulässt und sich durch innere Bindungen auszeichnet, die ein gegenseitiges Einstehen der Partner füreinander begründen, also über die Beziehungen in einer reinen Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft hinausgehen (BVerfG, Urt. v. 17.11.1992 - 1 BvL 8/87 -, BVerfGE 87, 234-269, juris Rn. 92). An diese Begriffsbestimmung - wenn auch noch weiter - knüpft der Hinweis des Bundesministeriums des Innern und für Heimat vom 14.04.2022 zur Umsetzung des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 an; danach sind dauerhafte Beziehungen nicht verheirateter Partner (auch gleichgeschlechtlicher) einer Ehe gleichzustellen, wenn sie den weiteren Voraussetzungen aus den Anwendungshinweisen zu § 1 Abs. 2 Nr. 4 Buchst. c des Freizügigkeitsgesetzes/EU genügen, insbesondere also exklusiv sind, d. h. keine weitere Lebensgemeinschaft gleicher Art zulassen.

Nach diesem Maßstab hat der Antragsteller keine nach deutschen Gepflogenheiten einer Ehe entsprechende Beziehung mit der ukrainischen Staatsangehörigen F., die im Januar 2023 aus der Ukraine nach Deutschland zog und seitdem mit dem Antragsteller zusammenlebt. Entgegen der ursprünglichen Angabe der Frau F., sie habe nicht in G. bei dem Antragsteller, sondern mit ihrer Tochter in H. gelebt (BA 001, Bl. 68), wo die Tochter zur Schule gegangen sei, geben beide in eidesstattlichen Versicherungen vom 30.06.2023, vorgelegt mit Schriftsatz vom selben Tag, an, sie hätten im Februar 2022 zu Kriegsbeginn zusammen in G. gelebt und die Tochter habe Online-Unterricht gehabt. Die Kammer hat Zweifel daran, dass die Angaben für den Stichtag 24.02.2022 zutreffen. In der Nacht zu dem 24.02.2022 griff Russland die Ukraine an. Dass am 24.02.2022 oder davor bereits Online-Unterricht für ukrainische Schüler stattfand, ist unwahrscheinlich. Aber selbst wenn der Antragsteller und Frau F. am 24.02.2022 zusammenlebten, ist nicht glaubhaft gemacht, dass sie eine eheähnliche Beziehung führten. Sie waren nach eigenen Angaben erst seit November 2021 zusammen. Dazu spricht der Antragsteller kaum ukrainisch, so dass sie sich nur rudimentär verständigen konnten. Für eine Beistandsgemeinschaft, etwa zur Sorge um die Tochter der Frau F., spricht nichts. Etwas anderes belegen auch nicht die vorgelegten Fotos, die den Antragsteller mit der Frau F. zeigen und die türkische Datumsanzeigen enthalten (1 bis 27 Januar - türkisch Ocak - 2022). Sie sind in einem dunklen Raum bei bunter Beleuchtung aufgenommen, was eher für eine Gaststätte oder Diskothek als eine Wohnung spricht, oder im Freien.

Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob auch nach heutigen Gepflogenheiten eine eheähnliche Gemeinschaft nur dann vorliegt, wenn sie exklusiv ist. Auf die Frage, ob die Frau F. bereits in der Ukraine von ihrem Ehemann getrennt gelebt hat und wie dies zu bewerten ist, kommt es nicht an.

2.

Auch mit dem Hilfsantrag hat der Antragsteller keinen Erfolg. Dieser ist nicht statthaft, weil der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO hier vorrangig ist, § 123 Abs. 5 VwGO.

Aber selbst wenn man den Antrag zu 1. für unstatthaft halten sollte, weil der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mangels Anwendbarkeit von § 2 Abs. 1 UkraineAufenthÜV hier nicht die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 AufenthG ausgelöst haben sollte, hätte der dann statthafte Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO keinen Erfolg.

Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis u.a. dann treffen, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden. Dazu ist gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO glaubhaft zu machen, dass der Antragsteller zur Abwendung dieser Nachteile auf sofortige gerichtliche Hilfe angewiesen ist (sog. Anordnungsgrund) und dass ein materieller Anspruch auf diese Regelung besteht (sog. Anordnungsanspruch). Im Unterschied zum Beweis verlangt die bloße Glaubhaftmachung keine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Die tatsächlichen Grundlagen des geltend gemachten Anspruchs müssen jedoch mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gegeben sein und bei der dann vorzunehmenden vollen Rechtsprüfung zu dem Anspruch führen.

Es besteht zwar ein Anordnungsgrund, da der Antragsteller aufgrund der Ablehnung seines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vollziehbar ausreisepflichtig ist, ihm die Abschiebung nach § 59 Abs. 1 AufenthG angedroht worden ist und der Antragsgegner beabsichtigt, ihn abzuschieben.

Jedoch hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch auf Erteilung einer Duldung wegen des Vorliegens von Vollstreckungshindernissen gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht glaubhaft gemacht. Eine Abschiebung ist gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG auszusetzen, solange sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Dass die Abschiebung in das Herkunftsland des Antragstellers, die Türkei, unmöglich sein sollte, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Jedenfalls genügt der Vortrag nicht, der Antragsteller habe sich von seinen Verwandten für die Gründung eines Unternehmens Geld geborgt und wolle ihnen deshalb nicht unter die Augen treten. Auch aus der Beziehung des Antragstellers mit der Frau F. ergibt sich nichts, weil diese nicht verheiratet sind und sich ein Abschiebungshindernis aus Rechtsgründen nicht aus Art. 6 GG ergibt.

3.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf den §§ 45 Abs. 1 Satz 2 und 3, 53 Abs. 2 Nrn. 1 und 2, 52 Abs. 1, 2 GKG sowie Nrn. 8.1 und 1.5 Satz 1 Halbsatz 1 (Hauptantrag) sowie Nrn. 8.3 Alt. 1 und 1.5 Satz 2 (Hilfsantrag) des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (NordÖR 2014, 11). Die in dem streitgegenständlichen Bescheid weiter ausgesprochene Abschiebungsandrohung wirkt nicht streitwerterhöhend.

4.

Der gestellte Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung aus den vorstehenden Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Dies gilt auch unter Berücksichtigung der im Prozesskostenhilfeverfahren anzulegenden Maßstäbe (vgl. BVerfG, Beschl. v. 08.07.2016 - 2 BvR 2231/13 -, juris Rn. 10 ff. m.w.N.).