Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 30.08.2005, Az.: 4 A 309/03

Ausgedinge; Geldrentenanspruch; Überleitung

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
30.08.2005
Aktenzeichen
4 A 309/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2005, 50772
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

1

Die Klägerin wendet sich gegen eine Überleitungsanzeige.

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Seit dem 31. Januar 2003 leistet der Beklagte dem am 19. Mai 1925 geborenen I. J. Sozialhilfe für ungedeckte Heimpflegekosten in Höhe von seinerzeit 475,48 EUR monatlich.

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Das Grundeigentum der Klägerin, das im Grundbuch von H., Band 5, Blatt 142, verzeichnet ist, ist in Abteilung II Nr. 1 mit einem „lebenslänglichen Ausgedinge“ für I. J. belastet gemäß Bewilligung vom 16. Oktober 1958.

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Dabei handelt es sich um den Überlassungs- und Altenteilsvertrag vom 16. Oktober 1958 eines Hofes zwischen den Eltern von I. J., dem Bauern K. J. und seiner Ehefrau L. J. einerseits sowie deren Tochter M. und deren späterem Ehemann, dem Landwirt N. B., andererseits.

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In § 4 dieses Vertrages war folgendes vereinbart:

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"Die Übernehmer räumen diesem Sohn I. J. ein lebenslängliches Wohnrecht in den beiden Räumen im Obergeschoss des Hauses ein. Diese Wohnung ist von den Übernehmern auch mit einer angemessenen Einrichtung auszustatten. Des Weiteren haben die Übernehmer für die Wohnung die erforderliche Heizung und elektrischen Strom frei zu liefern. Die Übernehmer verpflichten sich, die Prämienzahlung für die für I. J. bestehende Lebens- und Rentenversicherung zu bezahlen. Sie verpflichten sich weiter, für I. J. eine Krankenversicherung abzuschließen.

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I. J. soll freien Umgang im Hause und auf dem Hofe haben. Ihm ist vom Hofe ein standesgemäßes Begräbnis zu gewähren.

8

Es wird erwartet, dass I. J. weiterhin auf dem Hofe arbeiten kann. Dafür wird er vom Hofe auch verpflegt und in Kleidung unterhalten. Sollte er nicht mehr arbeitsfähig sein, muss er trotzdem vom Hofe in bescheidenem Umfange unterhalten werden.“

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1985 wurde zunächst der Sohn der Eheleute M. und N. B., O. B., Eigentümer des Hofes. Ende 1995 wurde der zugrundeliegende Hofübergabevertrag aber wieder aufgehoben und rückabgewickelt. 1988 und 1991 waren allerdings rd. 200 m² bzw. 400 m² zu dem Hof gehörende Grundflächen an den Flecken P. veräußert worden für Straßenausbaumaßnahmen. Im Oktober 1997 wurde der Hofvermerk im Grundbuch gelöscht, im August 2004 aber wieder eingetragen.

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Die Klägerin wurde schließlich im Wege vorweggenommener Erbfolge aufgrund notariellen Vertrages vom 30. Oktober 1998 Eigentümerin des (ehemaligen) Hofes. Es wurde vereinbart, dass der übertragene Grundbesitz lastenfrei und frei von Ansprüchen Dritter übertragen werde, soweit nicht Lasten oder Verpflichtungen in dem Vertrag übernommen würden. Weiter heißt es:

11

„Die Rechte in Abteilung II Nr. 5 und die Rechte in Abteilung III Nr. 1 bis 12 werden von der Erschienenen zu 2. (Anm.: die Klägerin) übernommen. Die Erschienene zu 2. stellt hiermit im Innenverhältnis die Erschienene zu 1. (Anm.: M. B.) und Herrn N. B. von den den dinglichen Belastungen zugrundeliegenden schuldrechtlichen Forderungen frei.“

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Mit an die Klägerin gerichtetem Bescheid vom 30. Mai 2003 leitete der Beklagte gemäß § 90 Abs. 1 BSHG die Ansprüche des I. J. aus dem Vertrag vom 16. Oktober 1958 auf sich über, und zwar in Form eines Geldrentenanspruchs gemäß §§ 15 und 16 Nds. AGBGB.

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In einem Schreiben vom 4. Juni 2003 forderte der Beklagte die Klägerin dann zur Zahlung von monatlich 400 EUR auf.

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Gegen den Bescheid vom 30. Mai 2003 erhob die Klägerin Widerspruch. Sie machte geltend, dass die Überleitung eine erhebliche Härte im Sinne von § 91 Abs. 3 BSHG darstelle. Sie sei jahrelang von I. J. während seiner sporadischen Wutanfälle geschlagen und vergewaltigt worden. Bis 1995 sei I. J. mit den Naturalerträgen des Hofes verpflegt worden. Seither dürfe kein Vieh mehr gehalten werden und ihnen sei die Lebensgrundlage dadurch entzogen worden. Der Wohnwert der zwei Räume für I. J. sei nicht anzurechnen, da die Räume aufgrund ihres Zustandes nicht weitervermietet werden könnten und notwendige Sanierungsmaßnahmen von ihr aus finanziellen Gründen nicht vorgenommen werden könnten. Bekleidung für I. J. sei ausreichend in Form von Spenden vorhanden gewesen. Weiter berief die Klägerin sich darauf, dass die an den Flecken P. veräußerten Grundflächen, die zu dem Hof gehört hätten, ebenfalls mit dem lebenslänglichen Ausgedinge für I. J. belastet seien.

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Mit Widerspruchsbescheid vom 16. September 2003 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Er führte aus, dass die Rechtmäßigkeit einer Überleitungsanzeige gemäß § 90 BSHG nicht davon abhänge, ob der übergeleitete Anspruch nach Grund und Höhe tatsächlich bestehe. Ein etwaiger Streit über das Bestehen und die Höhe des übergeleiteten Anspruchs sei zwischen dem Träger der Sozialhilfe als neuem Gläubiger des übergeleiteten Anspruchs und dem Schuldner vor dem Zivilgericht auszutragen. Nur wenn ein bürgerlich-rechtlicher Anspruch nach objektivem Recht offensichtlich ausgeschlossen sei, sei eine gleichwohl erlassene, erkennbar sinnlose Überleitungsanzeige aufzuheben. Die Überleitung eines vertraglichen Anspruchs auf den Träger der Sozialhilfe sei aber nicht erkennbar sinnlos.

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Am 29. September 2003 hat die Klägerin Klage erhoben.

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Zur Begründung trägt sie vor: Die Überleitung sei rechtswidrig, weil I. J. aus dem Vertrag vom 16. Oktober 1958 keinerlei Ansprüche zustünden. Der Wohnraum sei nicht vermietbar, da er nicht abgeschlossen sei. Die Prämienzahlungen für die Lebens- und Rentenversicherung seien längst erledigt. Dies gelte auch für die Krankenversicherung. Für Verpflegung und Bekleidung sei sie bereit, in Eigenleistung aufzukommen. Im Übrigen sei sie auch bereit gewesen, I. J. wieder auf dem Grundbesitz in H. aufzunehmen. Das habe jedoch das Vormundschaftsgericht - I. J. stehe unter Betreuung - abgelehnt. Sie habe im Jahr 2003 einen Pflegekurs absolviert, um sich in die Lage zu versetzen, die Pflege für I. J. selbst zu übernehmen und dafür zu sorgen, dass dieser ordnungsgemäß untergebracht sei. Es sei daher nicht notwendig, dass dieser in dem teuren Alten- und Pflegeheim in Q. wohne. Unterhaltsansprüche gegen sie seien offensichtlich ausgeschlossen, insbesondere auch unter Berücksichtigung ihrer eigenen persönlichen Vermögens- und Einkommensverhältnisse.

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Die Klägerin beantragt,

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den Bescheid des Beklagten vom 30. Mai 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. September 2003 aufzuheben.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Er tritt dem Begehren aus den Gründen der angefochtenen Bescheide entgegen und hebt besonders hervor, dass den Ausführungen der Klägerin nicht zu entnehmen sei, aus welchen Gründen der übergeleitete Anspruch offensichtlich ausgeschlossen sei.

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Zur weiteren Sachdarstellung wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist unbegründet.

25

Der Beklagte hat mit dem angegriffenen Bescheid vom 30. Mai 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. September 2003 zu Recht die Überleitung eines Anspruchs des I. J. aus dem „lebenslänglichen Ausgedinge“ verfügt, der in Form eines Geldrentenanspruchs nach den §§ 15 und 16 Nds. AGBGB bestehen könnte.

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Hat ein Hilfeempfänger für die Zeit, für die Hilfe gewährt wird, einen Anspruch gegen einen anderen, der kein Leistungsträger im Sinne des § 12 des 1. Buches SGB ist, kann der Träger der Sozialhilfe durch schriftliche Anzeige an den anderen bewirken, dass dieser Anspruch bis zur Höhe seiner Aufwendungen auf ihn übergeht (§ 90 Abs. 1 Satz 1 BSHG). Die Überleitung ist nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Anspruch nicht übertragen, verpfändet oder gepfändet werden kann (§ 90 Abs. 1 Satz 4 BSHG).

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Die Rechtmäßigkeit der Überleitung ist grundsätzlich nicht von dem Bestehen und dem Umfang des übergeleiteten Anspruchs abhängig. Aber es ist eine sog. Negativevidenzkontrolle vorzunehmen. Das heißt, eine verwaltungsgerichtliche Überprüfung ist dahingehend vorzunehmen, dass der übergeleitete Anspruch nach materiellem Recht nicht offensichtlich ausgeschlossen sein darf (vgl. LPK-BSHG, 6. Aufl. 2003, § 90 Rdnr. 16 m.w.N.).

28

Der hier in Rede stehende Anspruch ist nicht offensichtlich ausgeschlossen.

29

Der Begriff des Ausgedinges ist im BGB nicht definiert. Es handelt sich um ein Leibgedinge im Sinne von Art. 96 EGBGB und damit um eine Versorgung im Sinne eines Altenteilsvertrages nach §§ 5 ff AGBGB. Nach der Rechtsprechung des BGH (Urt. v. 26.9.1962, NJW 1962, 2249 [BGH 26.09.1962 - V ZR 91/61]) ist ein Leibgedinge (Leibzucht, Altenteil oder Auszug) ein Inbegriff von Rechten verschiedener Art, die durch ihre Zweckbestimmung, dem Berechtigten ganz oder teilweise, für eine bestimmte Zeit oder dauernd Versorgung zu gewähren, zu einer Einheit verbunden sind. Leibgedingsverträge enthalten in der Regel die Einräumung eines Wohnungsrechts und die Gewährung von wiederkehrenden Leistungen oder Nutzungen, die aus Anlass der Übertragung eines landwirtschaftlichen Betriebes zugunsten des Übergebers oder seiner Ehefrau oder auch von nahen Familienangehörigen, insbesondere von kranken oder unversorgten Kindern, ausbedungen werden.

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Die schuldrechtliche Verpflichtung, das Leibgedinge zu erbringen, wird regelmäßig grundbuchlich abgesichert und kann unter Bezugnahme auf den zugrundeliegenden Vertrag im Grundbuch eingetragen werden (§ 49 GBO).

31

Hier steht außer Zweifel, dass das Grundstück der Klägerin mit dem Leibgedinge/Ausgedinge für I. J. belastet ist. Ob die Klägerin auch eine dementsprechende schuldrechtliche Verpflichtung hat, ist nicht ohne weiteres klar, braucht hier aber nicht entschieden zu werden, weil zum einen die dingliche Last besteht und zum anderen die schuldrechtliche Verpflichtung nicht offensichtlich ausgeschlossen ist.

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Nach dem Grundstücksübergabevertrag vom 30. Oktober 1998 übernimmt die Klägerin zwar nicht die Rechte in Abteilung II Nr. 1 (Ausgedinge) und hat auch einen (schuldrechtlichen) Anspruch erworben, den Grundbesitz insoweit lastenfrei zu erhalten. Aber andererseits hat sie die Verpflichtung, ihre Eltern M. und N. B. von den den dinglichen Belastungen zugrundeliegenden schuldrechtlichen Forderungen freizustellen, wobei in Betracht zu ziehen ist, dass sich diese Verpflichtung nur auf die übernommenen Rechte in Abteilung II und Abteilung III des Grundbuchs bezieht. Allerdings ist eine lastenfreie Übertragung des Grundeigentums in Bezug auf das Ausgedinge nicht möglich, zudem geht die Klägerin grundsätzlich von ihrer schuldrechtlichen Verpflichtung insoweit aus.

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Ist nach alledem ein Leibgedinge/Ausgedinge nicht offensichtlich ausgeschlossen, kann auch der von dem Beklagten nach §§ 15 und 16 Nds. AGBGB auf sich übergeleitete Anspruch bestehen, der grundsätzlich im Falle des Verlassens des Grundstücks durch den Anspruchsberechtigten gegeben ist. Ob der Beklagte tatsächlich 400 EUR Geldrente monatlich von der Klägerin aus dem Ausgedinge für I. J. verlangen kann, ist ggf. von dem zuständigen Zivilgericht zu entscheiden.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 188 Satz 2 VwGO a. F. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.