Sozialgericht Braunschweig
Beschl. v. 04.03.2015, Az.: S 32 SO 24/15 ER

Berücksichtigung eines Mehrbedarfs wegen dezentraler Warmwassererzeugung bei der vorläufigen Gewährung von Sozialleistungen

Bibliographie

Gericht
SG Braunschweig
Datum
04.03.2015
Aktenzeichen
S 32 SO 24/15 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 14035
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGBRAUN:2015:0304.S32SO24.15ER.0A

Redaktioneller Leitsatz

1.

Ein Hilfebedürftiger ist gemäß § 7 Abs. 4 S. 1 SGB II leistungsberechtigt nach dem SGB II, wenn er derzeit keine Altersrente bezieht.

2.

Eine unterlassene Selbsthilfe kann nicht mit einem fiktiven Wert dem Lebensunterhalt gegengerechnet werden.

Tenor:

Der Beigeladene wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet, der Antragstellerin Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für die Zeit vom 12.02.2015 bis 28.02.2015 in Höhe einer Regelleistung von 54,71 EUR, eines Mehrbedarfs wegen dezentraler Warmwassererzeugung von 5,20 EUR und Kosten der Unterkunft und Heizung von 191,75 EUR, für die Zeit vom 01.03.2015 bis 31.07.2015 in Höhe einer Regelleistung von monatlich 96,54 EUR, eines Mehrbedarfs wegen dezentraler Warmwassererzeugung von monatlich 9,18 EUR und Kosten der Unterkunft und Heizung von monatlich 338,39 EUR zu gewähren. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt. Der Beigeladene hat der Antragstellerin ihre außergerichtlichen Kosten zu 94 % zu erstatten.

Gründe

I. Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Anordnungsverfahrens die vorläufige Gewährung von Sozialleistungen für die Zeit vom 01.02.2015 bis 31.07.2015. Die am 04.01.1952 geborene Antragstellerin stand bis zum 31.01.2015 im Bezug von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) bei dem beigeladenen Jobcenter. Am 20.10.2014 forderte dieses sie auf, eine vorzeitige Altersrente zu beantragen. Gegen diese Aufforderung legte sie am 28.10.2014 Widerspruch ein, der mit Widerspruchsbescheid vom 09.12.2014 als unbegründet zurückgewiesen wurde. Ihre hiergegen erhobene Klage ist unter dem Aktenzeichen S 17 AS 10/15 vor dem Sozialgericht Braunschweig anhängig. Nach Auskunft der Deutschen Rentenversicherung würde sich die vorgezogene Altersrente auf monatlich 370,43 EUR brutto belaufen. Dies entspräche einem Betrag von 332,46 EUR netto (vgl. Bl. 39 der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin). Am 19.12.2014 beantragte die Antragstellerin infolge dessen (vorsorglich) Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) bei der Antragsgegnerin. Über diesen Antrag hat die Antragsgegnerin bislang nicht entschieden. Gleichzeitig stellte die Antragstellerin bei dem Beigeladenen am 17.02.2015 einen Weiterbewilligungsantrag, der gleichfalls noch nicht beschieden worden ist. Die Antragstellerin lebt in einer 38,36 qm großen Mietwohnung, deren Nutzungsgebühr sich auf 201,39 EUR zuzüglich Betriebskosten von 68,70 EUR und Abfallkosten von 13,30 EUR beläuft. Die Warmwasserzubereitung erfolgt über einen Boiler (Bl. 50 der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin). Sie bezieht voraussichtlich bis zum 31.07.2016 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit (wegen Verschlossenheit des Arbeitsmarktes) in Höhe von monatlich netto 332,46 EUR (370,43 EUR brutto). Die Antragstellerin beantragte am 12.02.2015 den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenüber der Antragsgegnerin. Diese Leistungen seien notwendig, um auch während des laufenden Verfahrens gegen den Beigeladenen abgesichert zu sein. Sie lebe derzeit von Rücklagen, die jetzt aufgebraucht seien. Ab März 2015 könne sie die Miete nicht mehr bezahlen, ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten und Versicherungen nicht mehr bedienen. Neben der Erwerbsminderungsrente verfüge sie über keine weiteren Einnahmen. Sie hält sich für erwerbsfähig und begehrt eigentlich weiter Leistungen von dem Beigeladenen, der sie auf die Antragsgegnerin verweist, die für die Gesundheitsprüfung zuständig sei. Auch müsse Beachtung finden, dass zu befürchten sei, dass sie weiterhin auf öffentliche Leistungen angewiesen sei. Der Beigeladene habe unrechtmäßiger Weise den Berentungsantrag 3 Tage nach Widerspruchseinlegung gestellt. Die Antragsgegnerin könne sich das Geld vom Beigeladenen wiederholen, wenn sie zahlen wolle.

Im Rahmen des Erörterungstermines am 04.03.2015 änderte die Antragstellerin ihren Antrag aus der Antragschrift vom 12.02.2015 ab und beantragt nunmehr,

entweder die Antragsgegnerin oder alternativ die Beigeladene im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr Leistungen nach dem SGB XII bzw. SGB II für die Zeit vom 01.02.2015 bis 31.07.2015 zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Sie wendet ein, dass über den Antrag der Antragstellerin nicht entschieden werden könne, da diese auf die Mitwirkungsaufforderung vom 13.02.2015 nicht reagiert habe. Insbesondere fehle der Einstellungsbescheid des Jobcenters und der Nachweis über den Rentenantrag bzw. der Rentenbescheid. Es sei zweifelhaft, ob der Antragstellerin Ansprüche auf Sozialhilfeleistungen zustünden. Sofern der Antrag auf die vorgezogene Altersrente gestellt, jedoch nicht beschieden sei, sei weiterhin ein Anspruch nach dem SGB II gegeben. Es könne nicht beurteilt werden, ob die fehlende Mitwirkung im Rentenverfahren die Versagung von Leistungen nach dem SGB II rechtfertige, die jedoch nicht automatisch zu einem Anspruch nach dem SGB XII führe. Die Kammer hat mit Beschluss vom 23.02.2015 das Jobcenter Braunschweig notwendig gemäß § 75 Abs.2 SGG beigeladen.

Der Beigeladene beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Er wendet ein, dass die Antragstellerin ab dem 01.02.2015 einen Anspruch auf eine Altersrente in Höhe von 370,53 EUR habe. Keiner der von der Antragstellerin angeführten Gründe stelle eine Ausnahme vom Verweis auf das Altersruhegeld gemäß § 12a i.V.m. § 13 SGB II dar. Die Antragstellerin sei verpflichtet, das vorzeitige Altersruhegeld als vorrangige Leistung in Anspruch zu nehmen. Die Klage zum Aktenzeichen S 17 AS 10/15 entfalte keine aufschiebende Wirkung. Sofern die Antragstellerin ihrer Mitwirkung nachkomme, käme bis zur abschließenden Entscheidung des Rententrägers eine Gewährung von Leistungen nach dem SGB II in Betracht. Wegen des weiteren Vorbringens und der näheren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Verwaltungsakten der Antragsgegnerin und des Beigeladenen, auf die Gerichtsakte und auf das Sitzungsprotokoll vom 04.03.2015 verwiesen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

II. Der Antrag ist als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis gemäß § 86b Abs.2 S.2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig und im tenorierten Umfang begründet.

1. Die Antragstellerin hat im Rahmen des Erörterungstermines ihren Antrag teilweise zurückgenommen, indem sie ihren Anspruch auf den Zeitraum vom 01.02.2015 bis 31.07.2015 beschränkt hat, während ursprünglich auch Leistungen für die Zeit vom 17.12.2014 bis 31.01.2015 und bis zu einer Entscheidung im Verfahren S 17 AS 10/15 geltend gemacht worden waren.

2. Der Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung ist im tenorierten Umfang begründet. Der Antragstellerin sind von Seiten des Beigeladenen für die Zeit vom 12.02.2015 bis 31.07.2015 vorläufig Leistungen nach dem SGB II im tenorierten Umfang zu gewähren. Gemäß § 86b Abs.2 S.2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist stets, dass sowohl ein Anordnungsanspruch (d.h. die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs) als auch der Anordnungsgrund (d.h. die Eilbedürftigkeit zur Abwendung wesentlicher Nachteile) glaubhaft gemacht werden (vgl. § 86b Abs.2 S.4 SGG i.V.m. § 920 Abs.2 Zivilprozessordnung - ZPO). Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag - auch wenn ein Anordnungsgrund gegeben ist - abzulehnen, da ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG 9. Aufl., § 86b Rn. 29). Ist die Klage offensichtlich zulässig und begründet, vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund (LSG Nds.-Bremen, Beschluss vom 20.10.2003, AZ.: L 15 AL 23/03 ER). Bei offenem Ausgang ist eine Interessen- und Folgenabwägung zwischen den Belangen der Öffentlichkeit und der Antragstellerin vorzunehmen. Die Anforderungen an die Glaubhaftmachung haben sich dann am Rechtsschutzziel zu orientieren (BVerfG 12.05.2005, 1 BvR 569/05, NVwZ 2005, 927 f.).

Der Beigeladene konnte gemäß § 75 Abs.5 SGG i.V.m. § 75 Abs.2 SGG (analog) im Wege des einstweiligen Anordnungsverfahrens verpflichtet werden.

Nach Maßgabe vorstehender Grundsätze hat die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund hinsichtlich der tenorierten Leistungen nach dem SGB II hinreichend glaubhaft gemacht.

a) Die Antragstellerin ist gemäß § 7 Abs.4 S.1 SGB II leistungsberechtigt nach dem SGB II, da sie derzeit keine Altersrente bezieht. Der von dem Beigeladenen gegenüber der Rentenversicherung gestellte Antrag ist noch nicht beschieden worden.

Da die von ihr bezogene Rente eine Rente wegen Verschlossenheit des Arbeitsmarktes darstellt, ist sie erwerbsfähig im Sinne des § 8 SGB II (LPK, 5. Auflage, § 8 Rn. 6), da sie in der Lage ist, mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (unter gleichzeitiger Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes) (Vgl. Bl. 36 der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin).

b) Sie ist hilfebedürftig im Sinne des § 9 SGB II, da sie ihren Lebensunterhalt nicht ausreichend durch die "Arbeitsmarktrente" sicherstellen kann. Diese beläuft sich auf 332,46 EUR monatlich.

Soweit der Beigeladene auf die fehlende Mitwirkung der Antragstellerin im Rentenverfahren verweist, vermag dies nichts an ihrer Hilfebedürftigkeit zu ändern. Gemäß § 2 Abs.1 S.1 SGB II muss ein Leistungsberechtigter zwar alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung seiner Hilfebedürftigkeit ausschöpfen. Ein entsprechender Nachranggrundsatz findet sich auch im SGB XII. Eine unterlassene Selbsthilfe kann jedoch nicht mit einem fiktiven Wert dem Lebensunterhalt gegengerechnet werden (LPK, SGB II, 5. Aufl. § 9 Rn. 12). So stellt § 9 Abs.1 SGB XII auf die bereiten Mittel ab (LPK, SGB II, 5. Aufl. § 9 Rn. 12). Die vorgezogene Altersrente steht der Antragstellerin tatsächlich nicht zur Verfügung. Im Übrigen würde sich im Falle der Bescheidung keine Änderung ergeben, da die Höhe der Arbeitsmarktrente der Höhe der vorgezogenen Altersrente im vorliegenden Fall entspricht. Der vom Beigeladenen angegebene Wert von 370,53 EUR entspricht dem Bruttowert. Nach Abzug der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge ergäbe sich ein Zahlbetrag von 332,46 EUR (netto; Bl. 38, 39 der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin, Bl. 518, 520 der Verwaltungsakte des Beigeladenen). Zudem kann nicht außen vor bleiben, dass von Seiten des Beigeladenen nicht dargelegt werden konnte, inwiefern die Antragstellerin einer Mitwirkungsverpflichtung gegenüber der Deutschen Rentenversicherung nicht nachgekommen sein soll. Im Übrigen wäre ein solches Verhalten der Antragstellerin nur konsequent, die sich im Verfahren S 17 AS 10/15 gegen die Verpflichtung zur vorzeitigen Berentung wehrt und anderenfalls ihr Rechtsschutzbedürfnis in diesem Verfahren verlieren würde.

c) Der Bedarf der Antragstellerin berechnet sich wie folgt:

Ihr stehen eine monatliche Regelleistung von 399 EUR sowie Kosten der Unterkunft und Heizung von 338,39 EUR zu. Ferner war gemäß § 21 Abs.7 SGB II ein Mehrbedarf wegen dezentraler Warmwassererzeugung in Höhe von monatlich 9,18 EUR zu berücksichtigen, da diese über einen Boiler erfolgt (Bl. 50 der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin).

Einkommensmindernd ist die Arbeitsmarktrente von 332,46 EUR unter Abzug der Versicherungspauschale mit 302,46 EUR zu berücksichtigen, die von dem Regelleistungsbedarf in Abzug zu bringen ist.

Dies ergibt für die Monate März bis Juli 2015 einen Bedarf hinsichtlich der Regelleistung von 96,54 EUR, einen Mehrbedarf wegen der dezentralen Warmwasserzubereitung von 9,18 EUR und einen Anspruch auf Kosten der Unterkunft und Heizung von monatlich 338,39 EUR (Nutzungsgebühr 283,39 EUR einschl. Betriebskosten und Abfallgebühren zuzüglich Heizkosten von 55,00 EUR).

Für die Zeit vom 12.02.2015 bis 28.02.2015 waren diese Bedarfe anteilig für 17 Tage zu berücksichtigen.

d) In Anbetracht des geringen Einkommens der Antragstellerin, die ihren Bedarf hierdurch nicht zu decken vermag, besteht ein Anordnungsanspruch. Ausweislich der in den Verwaltungsakten befindlichen Kontoauszüge kann die Antragstellerin ihren Lebensunterhalt auch nicht anderweitig "überbrücken".

e) Der Antragstellerin stehen derzeit keine Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) zu, da die Deutsche Rentenversicherung den vom Beigeladenen gestellten Rentenantrag auf Bewilligung einer vorzeitigen Altersrente gegenüber der Antragstellerin noch nicht beschieden hat. Daher ist die Antragstellerin derzeit gemäß § 21 SGB XII vom dortigen Leistungsbezug ausgeschlossen.

f) Ein Anordnungsanspruch auf Verpflichtung der Antragsgegnerin oder des Beigeladenen, der Antragstellerin bereits ab dem 01.02.2015 Leistungen zu gewähren, besteht nicht. Einstweiliger Rechtsschutz ist in der Regel erst für die Zeit ab Eingang des Eilantrages bei Gericht zu gewähren. So dient die einstweilige Anordnung dazu, eine gegenwärtige Notlage zu beheben. Die Verpflichtung zur vorläufigen Gewährung von Leistungen kommt für die Vergangenheit in der Regel nicht in Betracht. Eine besondere, sich auch derzeit noch auswirkende Notlage ist von der Antragstellerin hinsichtlich der bereits vergangenen Zeiten vom 01.02.2015 bis 11.02.2015 nicht dargelegt und glaubhaft gemacht worden. 3. Die Kostenentscheidung beruht auf der analogen Anwendung des § 193 SGG und berücksichtigt den Ausgang des einstweiligen Anordnungsverfahrens. Kostenschuldner kann auch der Beigeladene sein (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage, § 193 Rn. 11). Eine Erstattungspflicht des Beigeladenen gegenüber der Antragsgegnerin besteht nicht, da es sich bei dieser um einen Träger der öffentlichen Verwaltung handelt (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage, § 193 Rn. 11).