Landgericht Lüneburg
Urt. v. 23.12.1998, Az.: 8 O 371/98
Verwandtenklausel im Krankenvollversicherungsvertrag; Beschränkung der Leistungspflicht durch Verwandtenklausel; Konkordanz zwischen Interesse auf freie Arztwahl und Versichertengemeinschaft; Rechtsbindungswille bei Rechtsgeschäften zwischen Ehegatten
Bibliographie
- Gericht
- LG Lüneburg
- Datum
- 23.12.1998
- Aktenzeichen
- 8 O 371/98
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1998, 30835
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LGLUENE:1998:1223.8O371.98.0A
Rechtsgrundlagen
- § 242 BGB
- § 1353 BGB
- §1360 BGB
- § 3 AGBG
- § 8 AGBG
- § 9 Abs. 1 AGBG
- § 9 Abs. 2 AGBG
- § 178a VVG
- § 178b VVG
- § 5 I g MB/KK 76
Fundstellen
- KVuSR 2000, 15-19
- VersR 2001, 182-184 (Volltext mit red. LS)
Die 8. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg hat
auf die mündliche Verhandlung vom 27.11.1998
durch
den Richter am Landgericht ... als Einzelrichter
für Recht erkannt:
Tenor:
- 1.
Die Klage wird abgewiesen.
- 2.
Die Kosten des Rechtsstreites trägt der Kläger.
- 3.
Das Urteil ist für die Beklagte gegen Sicherheitsleistung von DM 4.000,00 vorläufig vollstreckbar.
- 4.
Der Streitwert beträgt bis DM 30.000,00.
Tatbestand
Die Parteien vereinbarten 1986 eine Krankenvollversicherung unter Geltung der MB/KK 76. Im Verlaufe der Vertragsbeziehung heiratete der Kläger eine Ärztin, die nunmehr als selbständige Ärztin für Allgemeinmedizin praktiziert. Der Kläger ließ sich seit 1996 mehrfach von seiner Frau behandeln. Die ausgestellten Rechnungen wurden von der Beklagten unter Verweis auf die "Verwandtenklausel" des § 5 I g MB/KK 76 nicht beglichen.
Der Kläger ist der Ansicht, dass die Verwandtenklausel gem. § 9 I AGBG unwirksam sei. Er beruft sich auf die Entscheidung der Berufungskammer des Landgerichts Lüneburg (vgl. in VersR 1997, 689 f.). Er behauptet, die Behandlungen seien als rechtswirksame Behandlungsverträge anzusehen, die mit Rechtsbindungswillen abgeschlossen worden seien. Hierfür spräche die allgemeine wirtschaftliche Lage der Ärzte, die entgeltliche Vermietung der Praxisräume durch den Kläger an seine Frau und die auch entgeltlich durchgeführten Rechtsberatungen des Klägers. Mit der Klage wird ein Teil der Rechnungen geltend gemacht.
Ursprünglich begehrte der Kläger mit der Zahlungsklage DM 3.722,82 in der Hauptsache. Mit Schriftsatz vom 16.09.1998 hat er die Klage jedoch in Höhe von DM 507,60 zurückgenommen, da in dieser Höhe durch die Beklagte eine Erstattung der Sachkosten erfolgte.
Der Kläger beantragt,
- 1.
die Beklagte zu verurteilen, an ihn DM 3.215,22 nebst 7,5 % Zinsen seitdem 10.01.1998 zu zahlen.
- 2.
festzustellen, dass die Beklagte entgegen § 5 I g MB/KK 76 auch künftig verpflichtet ist, die Behandlungskosten des Klägers, die seine Ehefrau ihm als behandelnde Ärztin in Rechnung stellt, dem Versicherungsvertrag entsprechend zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte ist der Ansicht, die Verwandtenklausel sei rechtswirksam. Sie entspräche der Versicherungspraxis, sei vom Bundesaufsichtsamt genehmigt und von der herrschenden Rechtsprechung anerkannt. Sie behauptet es sei ihr nicht zumutbar, jeden Einzelfall vor dem Hintergrund der Missbrauchsmöglichkeiten der Behandlung unter nahen Verwandten dahin zu überprüfen, ob das objektive Maß gewahrt sei. Die Versichertengemeinschaft sei vor den Gefahren des Missbrauchs zu schützen. Im Übrigen bestünde die freie Arztwahl auch unbeschränkt fort.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der Kläger hat aus dem Krankenversicherungsvertrag von 1986 keinen Anspruch gegen die Beklagte auf vollständige Erstattung der Rechnungen seiner Ehefrau für von ihr durchgeführte ärztliche Behandlungen. Ärztliche Behandlungen von Ehegatten sind bis auf die nachgewiesenen Sachkosten gem. § 5 I g AK/BB 76 (sog. "Verwandtenklausel") vom Umfang der Leistungspflicht des Krankenversicherers ausgenommen. Diese Beschränkung der Leistungspflicht ist rechtswirksam (so auch OLG-München, Urt. v. 8.3.84 - 19 U 2944/83, LG-Stuttgart, Urt. v. 17.10.86 - 6 S 114/86; a.A. LG-Lüneburg, VersR 1997, 689 f.).
(1.)
Eine Unwirksamkeit der Verwandtenklausel ergibt sich nicht aus § 9 II, I AGBG. Dabei darf dahinstehen, ob in dieser risikobegrenzenden Klausel eine unangemessen Benachteiligung des Klägers gesehen werden kann. Schon die sachliche Anwendbarkeit des § 9 AGBG ist nicht gegeben. Nach § 8 AGBG erfolgt eine Inhaltskontrolle nach § 9 AGBG nur, wenn von bestehenden Rechtsvorschriften abgewichen wird oder diese ergänzt werden. Als einschlägige Rechtsvorschriften kommen die §§ 178 a ff. VVG in Betracht. Diese erst 1994 eingeführten Vorschriften sind hier einschlägig, da sie auch Altverträge erfassen (vgl. Prölss/Martin VVG, 26. Aufl., 1998, Vorb. zu §§ 178 a-o). Die Norm des § 178 b I VVG stellt zur Bestimmung des Leistungsumfanges des Krankenversicherers auf den "vereinbarten Umfang" ab. Damit sieht das VVG vor, dass der Leistungsumfang von dem Versicherer und dem Versicherten zu vereinbaren ist. Der Leistungsumfang der Krankenversicherung wird demnach durch die einbezogenen MB/KK festgelegt, sog. Bedingungsrecht. Wenn aber erst in den MB/KK 76 der Leistungsumfang vereinbart wird, kann keine Abweichung oder Ergänzung gesetzlicher Rechtsvorschriften vorliegen. Nach dem AGBG sind die MB/KK 76 als bloße Leistungsbeschreibung anzusehen. Leistungsbeschreibungen unterfallen jedoch grundsätzlich nicht § 8 AGBG, so dass sie einer Inhaltskontrolle entzogen sind (vgl. Palandt/Heinrichs BGB § 8 Rn. 2 AGBG; Jauernig/Teichmann BGB, § 8 Anm. 2. b. AGBG). Für AVB, und damit für die MB/KK 76 und 94, kann von diesem Grundsatz keine Ausnahme gemacht werden (LG Bremen VersR 1989, 1076[LG Bremen 03.08.1989 - 2 O 1041/89]; Prölss/Martin a.a.O. § 4 MBKK 94 Rn. 1; a.A. OLG Celle VersR 1985, 682; Palandt/Heinrichs BGB § 8 Rn. 3 AGBG; Dreher VersR 1995, 245, 249). Vor Einführung der §§ 178 a ff. VVG mag eine Ausnahme seine Berechtigung gehabt haben. Soweit heute jedoch der Gesetzgeber in Kenntnis des § 8 AGBG nach wie vor den Umfang der Leistung des Krankenversicherers der Autonomie der Vertragsparteien überantwortet, kann eine Ausnahme nicht mehr befürwortet werden. Dem steht auch nicht entgegen, dass mit Einführung der §§ 178 a ff. VVG auch die Genehmigungspflicht des Bundesaufsichtsamtes entfallen ist. Die Verbraucher werden auf diese Weise nicht schutzlos gestellt. Die AGB-Kontrolle nach § 3 AGBG oder § 242 BGB bleibt als ausreichende Schutzmöglichkeit gewährleistet. Auf den Bestand der Klausel nach dem Verbot der geltungserhaltenden Reduktion (vgl. hierzu Palandt/Heinrichs BGB Vorb. zu § 8 Rn. 9 AGBG; diff. Prölss/Martin a.a.O. Vorb. I Rn. 103 m.w.N.) kommt es demnach nicht an.
(2.)
Eine Unwirksamkeit der Verwandtenklausel ergibt sich auch nicht aus § 3 AGBG. Die sachliche und persönliche Anwendbarkeit dieser Norm ist zwar gegeben. Der Ausschluss von Behandlungen durch Ehegatten ist aber nicht ungewöhnlich. Eine ähnliche Beschränkung findet sich auch in § 5 IV Nr. 6 BhV. Außerdem sind Restriktionen im Leistungsumfang in Bezug auf Familienangehörige auch aus anderen Versicherungsbereichen bekannt, so z.B. gem. § 4 II Nr. 2 AHG im Haftpflichtbereich. Ferner war die Verwandtenklausel für den Kläger auch nicht überraschend. Der Kläger hat eingewendet, dass er dieser Klausel keine Bedeutung beigemessen habe, weil er zum Abschlusszeitpunkt noch nicht verheiratet war. Er war sich der Verwandtenklausel bei Abschluss der Krankenversicherung also durchaus bewusst. Die Kenntnis einer Klausel führt dazu, dass sie nicht gem. § 3 AGBG überraschend ist (vgl. Palandt/Heinrichs BGB § 3 Rn. 3 AGBG m.w.N.).
(3.)
Letztlich kann sich auch aus § 242 BGB keine Unwirksamkeit der Verwandtenklausel ergeben. Eine gerechte Abwägung der beteiligten Interessen führt nach dem Gebot von Treu und Glauben zu einem Unterliegen der Interessen des Klägers. Als privat Versicherter kann der Kläger als schützenswertes Interesse die freie Arztwahl anführen, die als Wesensmerkmal die private Krankenversicherung prägt, vgl. § 4 II MB/KK. Dieses Wahlrecht genügt dem Interesse des Klägers, den Arzt seines Vertrauens aufzusuchen. Der Kläger kann sich dagegen nicht auf die wirtschaftlichen Interessen seiner selbständig praktizierenden Ehefrau berufen. Das wirtschaftliche Interesse des behandelnden Verwandten kann zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Verwandtenklausel nicht berücksichtigt werden (a.A. LG Lüneburg VersR 1997, 689 f.[LG Lüneburg 24.10.1996 - 1 S 169/96]). Hierin liegt kein zu berücksichtigendes Interesse. Die behandelnde Ehefrau ist nicht Vertragspartner des Krankenversicherungsvertrages, so dass ihre Interessen in der Güterabwägung nicht zu berücksichtigen sind.
Das Interesse der freien Arztwahl unterliegt den Interessen der Beklagten, die insoweit auch die Interessen der Versichertengemeinschaft zu repräsentieren hat. Hier ist zunächst das Interesse, eine kostenintensive Abwicklung der Kostenerstattung zu verhindern, anzuführen. Bei Rechtsgeschäften zwischen Eheleuten ist stets problematisch, ob wirklich ein Rechtsgeschäft mit Rechtsbindungswille angenommen werden kann, da im Zweifel jeder Ehegatte nur seine Unterhaltspflichten gem. §§ 1353, 1360 BGB erfüllen will (vgl. z.B. BGH WM 1990, 1585; OLG Celle FamRZ 1991, 948[OLG Celle 14.03.1991 - 12 U 9/90]). Die Erstattung der Behandlungskosten würde demnach den Versicherer dazu zwingen, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob nach §§ 133, 157 BGB auf einen Rechtsbindungswillen bzw. Erklärungswillen geschlossen werden kann. Zu berücksichtigen ist auch das Interesse der Versichertengemeinschaft. Es besteht darin, objektive Missbrauchsmöglichkeiten des Versicherungsschutzes zu minimieren und so die Kosten der Krankenversicherung gering zu halten, damit die Prämien zukünftig kontrollierbar bleiben. Die Verwandtenklausel genügt diesem Interesse. Es ist keinesfalls abwegig, dass Geschäfte zwischen Ehegatten und nahen Verwandten die abstrakte Gefahr eines Missbrauchs eröffnen. Im Fall der Krankenversicherung könnte die Unwirksamkeit der Verwandtenklausel dazu führen, dass bei jeder Äußerung des Unwohlseins in privater Umgebung ein kostenpflichtige Behandlung in Rechnung gestellt würde, da ein Angebot auf den Abschluss eines Behandlungsvertrages angenommen werden dürfte. Vor diesen Gefahren ist die Versichertengemeinschaft zu schützen. Auf diese Weise wird auch sichergestellt, dass der objektiv erforderliche Bedarf an Krankenbehandlungen gem. § 1 II MB/KK 76 nicht überschritten wird. Diese abstrakten Gefahren zeichnen sich auch im vorliegenden Fall in überdurchschnittlich häufig abgerechneten Sonn- und Feiertagszuschlägen ab.
Schließlich ist die Verwandtenklausel auch im Interesse des Versicherten, des Klägers. Er wird vor aufgedrängten Behandlungen geschützt. Die freie Arztwahl, die zwar durch die Verwandtenklausel zunächst beschränkt wird, wird durch sie auch abgesichert, da die Arztwahl nicht durch familiäre Kontrahierungszwänge beeinträchtigt werden kann. Die Wahl eines objektiv kompetenten Arztes wird so sichergestellt. Wesentlich ist auch, dass der behandelte Ehegatte vor der Haftungsbeschränkung des § 1359 BGB geschützt wird, wenn und soweit kein rechtsverbindlicher Behandlungsvertrag zustande gekommen ist, was aber nach den obigen Ausführungen durchaus die Regel sein dürfte.
Die Verwandtenklausel muss auch nicht nach § 242 BGB einschränkend ausgelegt werden. Die Fassung der Verwandtenklausel, nach der die nachgewiesenen Sachkosten erstattet werden, wird durch den Zweck der Risikobegrenzung gedeckt. Sowohl nach dem Empfängerhorizont eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers (vgl. BGH VersR 1996, 622) als auch nach einer Auslegung nach den Methoden der Gesetzesanwendung (Prölss NVersZ 1998, 17 ff.) ist der Zweck der Risikobegrenzung durch den Ausschluss von "Behandlungen durch Ehegatten, Eltern oder Kinder" einsichtig. Auch die Formulierung der Verwandtenklausel ist unbedenklich. Sie weist keine Unklarheiten auf, die zu Lasten der Beklagten gehen könnten. Schließlich bestehen auch keine Anhaltspunkte für eine Überdehnung des vorliegenden Leistungsausschlusses. Die allgemeinmedizinische Behandlung der selbständigen Ehefrau des Klägers erfüllt ohne Zweifel die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 5 I g MB/KK 76. Das wird dagegen in den Fällen nicht mehr gegeben sein, in denen der Behandelnde nicht auch Vertragspartner des Versicherungsnehmers wird oder sonst wesentlichen Einfluss auf die Behandlung nehmen kann (vgl. Prölss/Martin a.a.O. § 5 MB/KK 94 Rn. 14).
(4.)
Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 91 I, 709 S. 1 ZPO.
Streitwertbeschluss:
Der Streitwert beträgt bis DM 30.000,00.