Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 21.11.2003, Az.: L 5 VI 1/03
Erhöhung der Pflegezulage für den Fall der Verhinderungspflege; Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses; Entscheidung durch so genannte vorbeugende Feststellungsklage; Konkretisierung von Begriffen als Streitgegenstand; Zulässigkeit einer Elementenfeststellungsklage
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 21.11.2003
- Aktenzeichen
- L 5 VI 1/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 21123
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:1121.L5VI1.03.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Lüneburg - AZ: S 11 VI 1/02
Rechtsgrundlagen
- § 35 Abs. 2 S. 4 BVG
- § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG
Redaktioneller Leitsatz
Eine vorbeugende Feststellungsklage ist ausnahmsweise zulässig, wenn der Betroffene in zumutbarer Weise nicht auf nachträglichen Rechtsschutz verwiesen werden kann, wenn Rechtsnachteile drohen, die durch spätere Anfechtungs- oder Unterlassungsklage nicht ausgeräumt werden können, oder wenn sonst nicht wieder gut zu machender Schaden droht.
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob der Klägerin eine Erhöhung der Pflegezulage nach § 35 Abs. 2 Satz 4 Bundesversorgungsgesetz (BVG) für den Fall der Verhinderungspflege zusteht. Fraglich war die Zulässigkeit der Klage.
Bei der am D.1996 geborenen Klägerin stellte das Versorgungsamt (VA) mit Bescheid vom 12. März 1999 als Impfschadensfolge nach dem Bundesseuchengesetz (BSeuchG)
Krampfanfallsleiden und Entwicklungsstörung
mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 v.H. fest (Bescheid vom 12. März 1999). Gleichzeitig bewilligte es der Klägerin Grundrente; auf den Antrag vom 6. September 1999 sprach es mit Bescheid vom 23. Februar 2001 Pflegezulage nach Stufe I ab 1. September 1999 zu.
Die Klägerin besucht halbtags den heilpädagogischen Kindergarten der E. in F ...
Am 30. Januar 2002 beantragte die Mutter der Klägerin Leistungen der Verhinderungspflege nach § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG. Sie wies darauf hin, eine stundenweise Betreuung der Klägerin durch eine Pflegekraft nach Absprache sei erforderlich, damit die Mutter Arzttermine wahrnehmen oder insbesondere durch die Betreuung ihrer beiden älteren Kinder etwa veranlasste private Verpflichtungen erfüllen könne. Auf Hinweis des VA vom 11. Februar 2002 zur grundsätzlichen Anwendung des § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG wies die Klägerin auf die Regelungen der Verhinderungspflege nach § 39 Sozialgesetzbuch Elftes Buch - gesetzliche Pflegeversicherung - (SGB XI) hin und vertrat die Auffassung, Empfänger der Leistungen nach § 35 Abs. 1 BVG dürften nicht schlechter gestellt werden als der durch § 39 SGB XI erfasste Personenkreis. Mit Bescheid vom 27. März 2002 lehnte das VA den Antrag ab: § 35 Abs. 2 BVG enthalte eine von § 39 SGB XI abweichende Regelung, die jeweils erfassten Ansprüche seien nicht identisch. Grundsätzlich seien die Kosten für den stundenweisen Einsatz des familienentlastenden Dienstes ohne konkreten Verhinderungsgrund im Rahmen des § 35 Abs. 2 BVG nicht zu berücksichtigen. Zu berücksichtigen sei eine Verhinderung der Pflegeperson etwa wegen Urlaubs, einer Kur oder Erkrankung. Notwendige Kosten ohne Berücksichtigung eines jährlichen Höchstbetrages für die Dauer der nachgewiesenen Verhinderung gegebenenfalls auch mehrmals jährlich bis zur Dauer von jeweils sechs Wochen würden ohne Kürzung der Pflegezulagepauschale erstattet. Die Mutter könne Arzttermine und private Verpflichtungen grundsätzlich vormittags wahrnehmen, während die Klägerin den heilpädagogischen Kindergarten besuche. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 29. Mai 2002).
Mit der am 24. Juni 2002 erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Vorbringen vertieft. Das Sozialgericht (SG) Lüneburg hat durch Urteil vom 15. April 2003 die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen, auf deren Einzelheiten Bezug genommen wird, hat es ausgeführt, § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG erfasse nicht die Fälle einer mehr oder minder regelmäßig auftretenden kurzfristigen Verhinderung der Pflegeperson, wie sie die Mutter der Klägerin geltend gemacht habe. Der Wortlaut schließe dies zwar nicht ausdrücklich aus, die genannten Verhinderungsgründe erforderten indes eine andere Art der Verhinderung als die hier in Frage stehende. Nach § 35 Abs. 2 BVG müsse eine Pflegeperson in der Regel längerfristig ausfallen; die dadurch anfallende Bezahlung einer zusätzlichen Pflegekraft müsse eine erhebliche finanzielle Belastung darstellen, die unter Berücksichtigung des sonstigen Pflegebedarfs aus der Pflegezulage an sich nicht mehr zu bewältigen sei. § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG stelle für diese Fälle sicher, dass es nicht zu finanziellen Engpässen bei dem Anspruchsberechtigten komme. Die Kosten der einer stundenweisen Verhinderung der Pflegekraft könnten ohne weiteres aus der eigentlichen Pflegezulage gezahlt werden. Dies rechtfertige sich auch deshalb, weil die eigentliche Pflegeperson dann Leistungen für die Pflege nicht geltend machen könne und die soweit erzielten Einsparungen der zusätzlichen Pflegekraft zur Verfügung gestellt werden könnten.
Gegen das am 7. Mai 2003 zugestellte Urteil wendet sich die Klägerin mit der am 21. Mai 2003 eingegangenen Berufung. Sie weist darauf hin, eine Pflegeperson könne auf der Basis der Entscheidungen des Beklagten und des SG etwa dem Erziehungsauftrag für andere Kinder nicht nachkommen. Mangels höchstrichterlicher Rechtsprechung sei die Revision zuzulassen. Bisher habe die Mutter der Klägerin wegen der erheblichen Kosten Leistungen durch fremde Pflegekräfte nicht in Anspruch genommen.
Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,
- 1.
das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 15. April 2003 und den Bescheid vom 27. März 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Mai 2002 aufzuheben,
- 2.
die Verpflichtung der Beklagten festzustellen, der Klägerin erhöhte Pflegezulage nach § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG zu zahlen, wenn ein entsprechender Einsatz einer fremden Pflegekraft nachgewiesen wird.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Neben den Gerichtsakten beider Rechtszüge haben die die Klägerin betreffenden Schwerbehinderten-Akten des VA Hannover, (Az: 289892) sowie die Beschädigten-Akten (GrundlNr. 401128) des VA Hannover vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe
Der Senat hat mit Zustimmung der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Urteil entschieden.
Die nach § 143 SGG zulässige Berufung ist nicht begründet.
Streitgegenstand ist die von der Klägerin zweitinstanzlich ausdrücklich formulierte Feststellung, dass die im - gegebenenfalls zukünftig eintretenden - Fall einer kurzfristigen Verhinderung der Mutter als Pflegeperson durch Arztbesuche oder Betreuungsaufwand für die beiden Geschwister der Klägerin entstehenden Kosten durch Erhöhung der Pflegezulage bis zur Dauer von sechs Wochen gemäß § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG ausgeglichen werden. Der erstinstanzlich protokollierte Antrag umschreibt das zweitinstanzlich ausdrücklich gestellte Feststellungsbegehren, ohne inhaltlich etwas anderes zu bezeichnen.
Die Feststellungsklage ist unzulässig und die zulässige Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil mithin unbegründet. Mit der Klage kann begehrt werden die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses, wenn die Klägerin ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat, § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Das zwischen den Beteiligten bestehende Rechtsverhältnis hinsichtlich der Pflegezulage nach § 35 BVG ist geklärt. Der Beklagte hat die Hilflosigkeit der Klägerin mit der daraus folgenden Pflegezulage nach Stufe I durch die Bescheide vom 12. März 1999 und 23. Februar 2001 festgestellt. Umstritten ist - lediglich - die Konkretisierung des in § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG enthaltenen Begriffs der "vorübergehend" entstehenden "Kosten für fremde Hilfe, insbesondere infolge Krankheit der Pflegeperson." Die von der Klägerin angesprochene Problematik hierzu umschreibt jedoch kein konkretes Rechtsverhältnis, dessen Bestehen oder Nichtbestehen festgestellt werden könnte. Über sie kann nicht im Wege der Feststellungsklage, auch nicht der so genannten vorbeugenden Feststellungsklage (vgl. Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 7. Auflage, Rdnr. 8 a f.) entschieden werden. Grundsätzlich muss ein Verwaltungsakt abgewartet werden. In Ausnahmefällen wird eine vorbeugende Feststellungsklage als zulässig angesehen, wenn der Betroffene in zumutbarer Weise nicht auf nachträglichen Rechtsschutz verwiesen werden kann, wenn Rechtsnachteile drohen, die durch spätere Anfechtungs- oder Unterlassungsklage nicht ausgeräumt werden können, oder wenn sonst nicht wieder gut zu machender Schaden droht. Diese Voraussetzungen liegen allesamt nicht vor. Vielmehr stützt sich die Klägerin auf einen abstrakten Sachverhalt, der eine Vielzahl möglicher tatsächlicher Umstände und Sachverhaltsvarianten umfassen könnte, vor deren Hintergrund eine Erhöhung der Pflegezulage für die Dauer von höchstens sechs Wochen geklärt werden soll. Denn tatsächlicher - auch nur stundenweiser - Ausfall der Pflegeperson mit damit verbundenen finanziellen Aufwendungen ist bisher nicht eingetreten. Es handelt sich auch nicht etwa um einen Fall einer ausnahmsweise zulässigen Elementenfeststellungsklage (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O. Rdnr. 9 a), deren Entscheidung einen Streit der Beteiligten im Ganzen bereinigen würde. Es wäre nicht erkennbar, inwieweit ein solches Urteil in materielle Rechtskraft erwachsen sollte.
Angesichts der Unzulässigkeit der Klage kommt eine Auseinandersetzung mit zu der aufgeworfenen Rechtsfrage zur Auslegung des § 35 Abs. 2 Satz 4 BVG nicht in Betracht.
Die Kostentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, besteht nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).