Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 11.12.2014, Az.: L 8 SO 106/14 B

Beschwerdewert; Laktasetabletten; Laktoseintoleranz; ernährungsbedingter Mehrbedarf

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
11.12.2014
Aktenzeichen
L 8 SO 106/14 B
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2014, 42444
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG - 26.02.2014 - AZ: 24 SO 73/12

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Bei einem Antrag auf Gewährung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändigerer Ernährung handelt es sich um einen Antrag auf (höhere) Leistungen, über den die Verwaltung nicht isoliert, also unabhängig von der Prüfung, ob laufende lebensunterhaltssichernde Sozialhilfeleistungen zu bewilligen sind, entscheiden kann. Zu prüfen sind alle Anspruchsvoraussetzungen über Grund und Höhe der Leistungen (sog. Höhenstreit, Anschluss an BSG Urteil vom 9. Juni 2011 - B 8 SO 11/10 R - juris Rn. 13).

2. In die Prüfung des gesamten Anspruchs ist bei der Gewährung eines Mehrbedarfs nach § 30 SGB XII (auch) eine Festlegung des individuellen - höheren - Bedarfs nach § 27a Abs. 4 Satz 1 SGB XII einzubeziehen.

Tenor:

Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Bremen vom 26. Februar 2014 aufgehoben.

Dem Kläger wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Hoppe, Bremen, ohne Ratenzahlung bewilligt.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe

Die form- und fristgerecht (§ 173 SGG) am 18. März 2014 eingelegte Beschwerde des Antragstellers, Klägers und Beschwerdeführers (im Folgenden Kläger) gegen den Prozesskostenhilfe (PKH) versagenden Beschluss des Sozialgerichts (SG) Bremen vom 26. Februar 2014 ist statthaft und begründet.

Die Beschwerde ist insbesondere nicht nach § 172 Abs. 3 Nr. 2 b) SGG in der ab dem 25. Oktober 2013 geltenden Fassung (BGBl. I S. 3836, 3847) ausgeschlossen, weil in der Hauptsache die Berufung nicht der Zulassung bedarf. Der streitige Anspruch auf einen Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung gemäß § 30 Abs. 5 SGB XII bzw. eine individuelle Erhöhung des Regelbedarfs nach § 27a Abs. 4 Satz 1 SGB XII wird vom Kläger mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abse. 1 und 4 SGG) in zeitlicher Hinsicht bis zur letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz verfolgt. Dies hat er im Beschwerdeverfahren ausdrücklich klargestellt und sich insoweit auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Gegenstand der Klage bei einer zukunftsoffenen Ablehnung von Leistungen gestützt (vgl. etwa BSG, Urteil vom 11. Dezember 2007 - B 8/9b SO 12/06 R - Rn. 8 m.w.N.). Dass diese Rechtsprechung bei dem hier vorliegenden Höhenstreit nicht einschlägig ist und sich der Gegenstand der Klage allein auf den Zeitraum von Juli 2011 bis März 2012 erstreckt (s. hierzu gleich), ändert in diesem Einzelfall nichts daran, dass für die Bemessung des Beschwerdewerts grundsätzlich der Klageantrag maßgeblich ist und der Rechtsstreit damit wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft, ohne dass die Berufung der Zulassung bedürfte (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG). Ein Fall rechtsmissbräuchlicher Antragstellung zur Erreichung des Werts des Beschwerdegegenstands nach § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG von über 750,00 € (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 25. September 2008 - L 8 SO 155/06 - juris Rn. 19; vgl. auch Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage 2014, § 144 Rn. 14a m.w.N.) liegt nicht vor. Nach dem bisherigen Verlauf des Klageverfahrens gehen auch die Beklagte und das SG davon aus, dass der Streitgegenstand eine zukunftsoffene Ablehnung des Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung betrifft.

Die Beschwerde ist begründet. Das SG hat den Antrag auf Gewährung von PKH zu Unrecht abgelehnt.

Nach § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Nach diesen Maßgaben weist die beabsichtigte Rechtsverfolgung des Klägers nach Auffassung des Senats hinreichende Erfolgsaussichten auf, weil zur Beantwortung der Frage, ob dem Kläger ein Anspruch auf einen Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung nach § 30 Abs. 5 SGB XII zusteht, eine weitere Sachverhaltsaufklärung durch das Gericht erforderlich ist.

Gegenstand des Rechtstreits (§ 95 SGG) ist der Leistungsbescheid der Beklagten vom 23. August 2011, der Ablehnungsbescheid vom 28. Oktober 2011, die ohne schriftlichen Bescheid ergangenen Leistungsentscheidungen für die Zeit von Oktober bis Dezember 2011 und Februar bis März 2012 sowie der Leistungsbescheid vom 17. Januar 2012 für den Monat Januar 2012, jeweils in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. März 2012.

Nach allgemeinen Grundsätzen (§§ 133, 157 BGB analog) ist der Antrag des Klägers vom 23. September 2011 auf Gewährung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwendiger Ernährung als (fristgerechter) Widerspruch gegen den Leistungsbescheid der Beklagten nach dem Vierten Kapitel des SGB XII vom 23. August 2011 (Bl. 219 Bd. II d. VA) für die Zeit von Juli bis September 2011 auszulegen, weil über einen solchen Anspruch auf höhere Leistungen die Verwaltung nicht isoliert, also unabhängig von der Prüfung, ob laufende lebensunterhaltssichernde Sozialhilfeleistungen zu bewilligen sind, abschlägig entscheiden kann. Nach der Rechtsprechung des für Streitigkeiten nach dem SGB XII zuständigen 8. Senats des Bundessozialgerichts ist zwar der Streit um höhere Leistungen aufgrund eines Mehrbedarfs i.S. des § 30 SGB XII ein abtrennbarer Gegenstand einer Klage (BSG, Urteil vom 10. November 2011   - B 8 SO 12/10 R - juris Rn. 11; vgl. auch BSG, Urteil vom 9. Juni 2011 - B 8 SO 11/10 R - juris Rn. 11; anders im Leistungsrecht nach dem SGB II vgl. BSG, Urteil vom 24. Februar 2011 - B 14 AS 49/10 R - juris Rn. 13 und Urteil vom 10. Mai 2011  - B 4 AS 100/10 R - Rn. 15). Bei der Entscheidung, ob dem Betroffenen höhere Leistungen (z.B. aufgrund eines Mehrbedarfs nach § 30 SGB XII) zustehen, sind aber grundsätzlich alle Anspruchsvoraussetzungen über Grund und Höhe der Leistungen gemäß § 19 Abs. 2 SGB XII i.V.m. § 41 Abs. 1 SGB XII zu prüfen (sog. Höhenstreit, vgl. statt vieler BSG vom 9. Juni 2011 - B 8 SO 11/10 R - juris Rn. 13). Eine behördliche Ablehnung (nur) eines Teils der vom Anspruch möglicherweise umfassten Leistungen, z.B. eines Mehrbedarfs (vgl. § 42 Nr. 2 SGB XII i.V.m. § 30 SGB XII), ist ohne Aussage über die Höhe des Gesamtanspruchs rechtlich nicht möglich. Zudem ist in die Prüfung des gesamten Anspruchs gerade bei der Gewährung eines Mehrbedarfs nach § 30 SGB XII (auch) eine Festlegung des individuellen - höheren - Bedarfs nach § 27a Abs. 4 Satz 1 SGB XII miteinzubeziehen. Ohne eindeutige Erklärung der Behörde ist auch nicht von ihrem Willen auszugehen, sie habe abschließend für die Zukunft über den geltend gemachten Mehrbedarf entscheiden wollen (ähnlich zur Rechtslage im SGB II BSG, Urteil vom 26. Mai 2011 - B 14 AS 146/10 R - juris Rn. 15; vgl. auch BSG, Urteil vom 14. Februar 2013 - B 14 AS 48/12 R - juris Rn. 9).

Gleichwohl sind die - soweit nach Aktenlage ersichtlich - ohne schriftliche Bescheide ergangenen Leistungsbewilligungen für den Zeitraum Oktober bis Dezember 2011 nach der Rechtsprechung des BSG (BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 - B 8 AY 11/07 R - juris Rn. 10), nach der bei einer Leistungsbewilligung für einzelne Monate ausdrückliche bzw. konkludente Bewilligungsbescheide, die Folgezeiträume betreffen, in analoger Anwendung des § 86 SGG in das Vorverfahren einzubeziehen sind, ebenfalls Gegenstand des Widerspruchsverfahrens geworden. Dies gilt auch für den Bescheid der Beklagten vom 17. Januar 2012 (Bl. 4 Bd. III der VA) über die Leistungsbewilligung für den Monat Januar 2012, in dem die Beklagte zutreffend darauf hingewiesen hat, dass der Bescheid Gegenstand des laufenden Widerspruchsverfahrens sei, und gegen den der Kläger am 27. Januar 2012 wegen des nicht berücksichtigten Mehrbedarfs gleichwohl Widerspruch erhoben hat. Schließlich waren auch die ebenfalls ohne schriftliche Bescheide ergangenen Leistungsentscheidungen für die Monate Februar und März 2012 in das Widerspruchsverfahren einzubeziehen, weil insoweit (in zeitlicher Hinsicht) auf den Erlass des Widerspruchsbescheids abzustellen ist (vgl. BSG, a.a.O.).

In der Sache stützt der Kläger den Anspruch auf höhere Leistungen für die hier streitige Zeit (die regelmäßige Einnahme von Laktase-Tabletten, die eine individuelle Erhöhung des Regelsatzes nach § 27a Abs. 4 Satz 1 SGB XII bedingen soll, ist angeblich ab Mai 2013 erfolgt) auf § 30 Abs. 5 SGB XII, nach dem für Kranke, Genesende, behinderte Menschen oder von einer Krankheit oder von einer Behinderung bedrohte Menschen, die einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen, ein Mehrbedarf in angemessener Höhe anerkannt wird. Nach der Rechtsprechung des BSG ist Voraussetzung für den Rechtsanspruch auf einen Mehrbedarf (1.) eine bestehende oder eine drohende Erkrankung oder Behinderung, die (2.) eine besondere Ernährung ("Krankenkost") bedingt, mit der (3.) gegenüber der in der Bevölkerung üblichen, im Regelbedarf zum Ausdruck kommenden Ernährung höhere Kosten einhergehen (vgl. etwa BSG, Urteil vom 14. Februar 2013 - B 14 AS 48/12 R - juris Rn. 12 ff.). In einem ersten Schritt sind also nach Aktenlage und ggf. durch Hinzuziehung weiterer Befundunterlagen die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers (in ihrer Gesamtheit) festzustellen, ohne dass sich die gerichtliche Überprüfung auf die geltend gemachte Laktoseintoleranz beschränkt. Hierzu besteht bereits aufgrund der amtsärztlichen Stellungnahmen vom 13. Oktober und 6. Dezember 2011 Anlass, nach denen die mehreren schweren Erkrankungen des Klägers Einfluss auf die von ihm beklagten Beschwerden (u.a. Durchfall nach Nahrungsaufnahme) haben können. Erst wenn die gesundheitlichen Beeinträchtigungen festgestellt sind, lässt sich im Einzelfall beantworten, ob wegen dieser ein besonderes, medizinisch begründetes Ernährungsbedürfnis einhergeht (vgl. BSG, a.a.O., Rn. 14, 15). Hierzu bedarf es aller Voraussicht nach - je nach festgestellten Beeinträchtigungen - der Einholung eines Sachverständigengutachtens. Das BSG hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass bei der Prüfung eines besonderen, medizinisch begründeten Ernährungsbedürfnisses die fehlende Auflistung der entsprechenden Erkrankung in den Empfehlungen des Deutschen Vereins vom 1. Oktober 2008 (NDV 2008, 503 ff.) nicht schon den Schluss zulasse, dass es sich nicht um eine Erkrankung handelt, die einen Mehrbedarf auslösen kann. Außerdem lässt sich bei einer bestimmten Erkrankung, die - wie die Laktoseintoleranz - Einfluss auf die Ernährung hat, ein besonderer Kostenaufwand abschließend als generelle Tatsache (Rechtstatsache) mit Gültigkeit für jeden Einzelfall in aller Regel nicht verneinen (BSG, a.a.O., Rn. 16, 17; vgl. auch Senatsbeschluss vom 9. Februar 2012 - L 8 SO 371/10 B -; zu einem Einzelfall mit streitigem Mehrbedarf u.a. wegen Laktoseintoleranz vgl. aber auch Senatsbeschluss vom 24. Juli 2013 - L 8 SO 372/12 B -). Die Rechtsverfolgung des Klägers ist nach diesen Maßgaben auch nicht mutwillig.

Dem Kläger ist die Aufbringung der Kosten der Prozessführung nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht möglich, auch nicht zum Teil oder nur in Raten. Er steht im langjährigen Bezug lebensunterhaltssichernder Sozialhilfeleistungen.

Die Beiordnung des Rechtsanwalts beruht auf § 73 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 121 Abs. 2 ZPO.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten, § 73 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).