Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 17.12.2014, Az.: L 3 U 159/13

Nachholbarkeit der Unterschrift bei einem Gerichtsbescheid

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
17.12.2014
Aktenzeichen
L 3 U 159/13
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2014, 29943
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2014:1217.L3U159.13.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Braunschweig - 27.08.2013 - AZ: S 14 U 145/11

Fundstelle

  • NZS 2015, 279-280

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Braunschweig vom 27. August 2013 aufgehoben und der Rechtsstreit an das Sozialgericht Braunschweig zurückverwiesen. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Entfernung beratungsärztlicher Stellungnahmen aus den vom Beklagten geführten Verwaltungsakten.

In einem bei dem Sozialgericht (SG) Braunschweig anhängigen Klageverfahren macht die Klägerin Ansprüche auf Rücknahme eines bestandskräftig gewordenen Bescheides und Gewährung weiterer Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung aufgrund der Folgen eines am 6. Januar 1997 erlittenen Verkehrsunfalls geltend (Aktenzeichen des SG: S 14 U 144/11). Der Beklagte hatte hierzu in dem ursprünglichen Verwaltungsverfahren eine beratungsärztliche Stellungnahme des Herrn I. veranlasst, die vom 26. Mai 2000 datiert. Im Überprüfungsverfahren hat der Beklagte eine beratungsärztliche Stellungnahme des Herrn J. vom 3. März 2010 eingeholt.

Den Antrag der Klägerin, die beratungsärztlichen Stellungnahmen des Herrn I. und des Herrn J. aus den Verwaltungsakten zu entfernen, lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom 29. April 2011; Widerspruchsbescheid vom 15. September 2011). Hiergegen hat die Klägerin am 15. Oktober 2011 Klage bei dem SG Braunschweig erhoben. Sie ist der Auffassung, bei den beiden beratungsärztlichen Stellungnahmen handele es sich um Gutachten, vor deren Einholung sie nicht auf das Recht hingewiesen worden sei, der Übermittlung von Sozialdaten an die Gutachter zu widersprechen. Demzufolge unterlägen die beratungsärztlichen Stellungnahmen einem Beweisverwertungsverbot, das einen Anspruch auf Entfernung der Stellungnahmen aus den Verwaltungsakten begründe.

Nach Anhörung der Beteiligten hat der Kammervorsitzende am 27. August 2013 einen Gerichtsbescheid mit klagabweisendem Tenor gefertigt. Am selben Tag hat er die Ausfertigung und Zustellung des Gerichtsbescheides verfügt, die Urschrift des Gerichtsbescheides hat er jedoch nicht unterschrieben. Die Ausfertigung des Gerichtsbescheides wurde den Beteiligten am 30. August 2013 zugestellt.

Hiergegen hat die Klägerin am 30. September 2013 Berufung eingelegt, mit der sie ihr Begehren weiter verfolgt.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Braunschweig vom 27. August 2013 und den Bescheid des Beklagten vom 29. April 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. September 2011 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die beratungsärztlichen Stellungnahmen des Herrn I. vom 26. Mai 2000 und des Herrn J. vom 3. März 2010 aus den Verwaltungsakten zu entfernen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er ist weiterhin der Auffassung, bei den beratungsärztlichen Stellungnahmen handele es sich nicht um Gutachten. Daher bestehe auch kein Beweisverwertungsverbot.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakte und der Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Klägerin ist zulässig und im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Gerichtsbescheides und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das SG begründet.

Über das Begehren der Klägerin kann in der Sache nicht entschieden werden, weil der Gerichtsbescheid des SG nicht wirksam geworden ist, sondern einen Scheingerichtsbescheid darstellt, mit dem selbst noch keine Sachentscheidung getroffen worden ist. Aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit ist der Scheingerichtsbescheid aufzuheben, damit der von ihm ausgehende Schein eines Gerichtsbescheides beseitigt wird; die Sache ist infolgedessen an das SG zurückzuverweisen. Da mit der Entscheidung nur der Rechtsschein eines Gerichtsbescheides beseitigt werden soll, kann die dahingehende klarstellende Entscheidung nicht vom Vorliegen der üblichen Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Berufungsverfahrens abhängen.

Der vom SG beabsichtigte Gerichtsbescheid ist durch die Zustellung der Ausfertigungen an die Beteiligten nicht wirksam geworden, weil die Urschrift des Gerichtsbescheides nicht vom Vorsitzenden unterschrieben worden ist und damit ein wesentlicher Formmangel vorliegt. Nach §§ 134 Abs 1, 105 Abs 1 S 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist der Gerichtsbescheid vom Vorsitzenden zu unterschreiben. Während Urteile, die aufgrund mündlicher Verhandlung ergehen, mit ihrer Verkündung wirksam werden, wird die Verkündung bei Urteilen im schriftlichen Verfahren durch die Zustellung ersetzt (§ 133 S 1 SGG). Diese Urteile werden grundsätzlich erst wirksam, wenn ihre Urschrift vom Vorsitzenden unterschrieben und das Urteil in vollständig abgefasster Form zugestellt ist; die Unterschrift des Vorsitzenden ist hierbei unerlässliches Wirksamkeitserfordernis (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 134 Rn 2, 2c, § 133 Rn 4; Humpert in: Jansen, SGG, 4. Aufl 2012, § 134 Rn 4; Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 3. Dezember 1992 - 5 C 9/89, Rn 4 nach = BVerwGE 91, 242 zu § 117 Abs. 1 S 2 und 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO); aA: Pawlak in: Hennig, SGG, Stand 29. EL 10/2014, § 134 Rn 19; Bolay in: Lüdtke, SGG, 4. Aufl 2012, § 134 Rn 4). Nichts anderes gilt für Gerichtsbescheide, für welche die Vorschriften über Urteile entsprechend gelten (§ 105 Abs 1 S 3 SGG). Ebenso wie Urteile im schriftlichen Verfahren ergehen Gerichtsbescheide ohne mündliche Verhandlung; auch sie werden nicht verkündet, sondern lediglich zugestellt. Ein Gerichtsbescheid, der den Beteiligten zugestellt wird, ohne dass seine Urschrift vom Vorsitzenden unterschrieben worden ist, wird demzufolge nicht wirksam, sondern stellt lediglich einen unverbindlichen Entwurf eines Gerichtsbescheides dar (für nicht verkündete Urteile und Beschlüsse vgl Bundesgerichtshof (BGH), Urteil vom 23. Oktober 1997 - IX ZR 249/96, Rn 10, 12 nach = BGHZ 137, 49; Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 17. Januar 1985 - 2 BvR 498/84, Rn 2 f nach = NJW 1985, 788; Kilian in Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl 2010, § 117 Rn 57 mwN; Humpert aaO; Keller aaO, § 125 Rn 5a).

Jedoch kann die fehlende Unterschrift auf der Urschrift des Gerichtsbescheides jederzeit nachgeholt werden, auch wenn die (Schein-)Entscheidung bereits zugestellt und ein Rechtsmittel hiergegen eingelegt worden ist. Das ist für Urteile im Wesentlichen unbestritten (Keller aaO, § 134 Rn 2c; Humpert aaO, § 134 Rn 3 jeweils mwN) und gilt nach zutreffender Auffassung auch für Urteile im schriftlichen Verfahren (Humpert aaO, § 134 Rn 4; Kilian aaO, § 117 Rn 58; Oberverwaltungsgericht (OVG) Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 1. April 2014 - 8 A 655/12, Rn 57 ff nach ; aA: Bayerisches Landessozialgericht (LSG), Urteil vom 21. März 2012 - L 19 R 97/12). Ein anderes Ergebnis folgt nicht aus dem Urteil des BVerwG vom 3. Dezember 1992 (5 C 9/89), das sich zu dieser Frage überhaupt nicht verhält, und nichts anderes kann im Falle der vom Vorsitzenden nicht unterschriebenen Urschrift eines Gerichtsbescheides gelten. Gegen die Nachholbarkeit der Unterschrift spricht insbesondere nicht der Umstand, dass Gerichtsbescheide wie Urteile im schriftlichen Verfahren ohne die Unterschrift nicht wirksam werden können. Die genannte Rechtsfolge schließt eine Nachholung der Unterschrift in keiner Weise aus, sie spricht vielmehr für deren Nachholbarkeit. Denn es lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen und wäre auch mit dem Gebot des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes kaum vereinbar, wenn die Zustellung einer Scheinentscheidung dazu führen würde, dass das Gericht die noch nicht ergangene Entscheidung in der Sache nicht (mehr) treffen kann, ohne dass ein Gericht eines höheren Rechtszuges die fehlende Existenz der Entscheidung klarstellt und die Sache an das erste Gericht zurückverweist. Auch sonst sind keine rechtlichen Gründe ersichtlich, die eine Nachholung der Unterschrift ausschließen könnten.

Wird nach Einlegung eines Rechtsmittels gegen den Scheingerichtsbescheid die Unterschrift nachgeholt und den Beteiligten eine Ausfertigung des Gerichtsbescheides nochmals zugestellt, so bedarf es überdies keiner erneuten Rechtsmitteleinlegung. Denn die Berufung gegen den Scheingerichtsbescheid erfasst dann auch den nachträglich existent gewordenen Gerichtsbescheid und ermöglicht dessen sachliche Überprüfung (BGH, Urteil vom 17. April 1996 - VIII ZR 108/95, Rn 16 nach = NJW 1996, 1969 [BGH 17.04.1996 - VIII ZR 108/95]; Humpert aaO; Kilian aaO jeweils für Urteile im schriftlichen Verfahren). Dies beruht auf dem allgemeinen Rechtsgedanken, dass Fehler eines Gerichts nicht zu einer Benachteiligung der Beteiligten führen sollen. Wenn dem missglückten Versuch, das Urteil oder den Gerichtsbescheid existent werden zu lassen, die gesetzmäßige Zustellung folgt, erscheint es im Übrigen als das Nächstliegende, in dem bereits anhängigen Verfahren auch die dann mögliche sachliche Nachprüfung durchzuführen, ohne dass eine zweite Rechtsmitteleinlegung erfolgen müsste (BGH aaO).

Wird aber wie hier der Mangel der Unterzeichnung nicht behoben, liegt weiterhin nur der Entwurf eines Gerichtsbescheides vor. Auf die Bitte des Senats, die fehlende Unterschrift nachzuholen und den Gerichtsbescheid sodann nochmals den Beteiligten zuzustellen, hat das SG seine Auffassung dahin geäußert, dass eine Nachholung der Unterschrift nicht (mehr) möglich sei. Dem Senat steht prozessual keine Möglichkeit zur Seite, die Nachholung der fehlenden Unterschrift herbeizuführen. Aus diesen Gründen bedarf es im Ergebnis keiner Entscheidung, ob eine Nachholung nur innerhalb von fünf Monaten nach Zustellung des Scheingerichtsbescheides zulässig gewesen wäre, wie es im Falle eines nicht unterschriebenen Urteils der Fall wäre (dazu Keller aaO, § 133 Rn 2e; BSG, Urteil vom 3. März 1994 - 1 RK 6/93, Rn 13 nach = SozR 3-1750 § 551 Nr. 7; BGH, Urteil vom 27. Januar 2006 - V ZR 243/04, Rn 14 nach = NJW 2006, 1881; aA für Urteile ohne mündliche Verhandlung BVerwG, Urteil vom 14. Februar 2003 - 4 B 11/03, Rn 10 nach = NVwZ-RR 2003, 460 mit beachtlichen Gründen außerdem OVG Nordrhein-Westfalen aaO, Rn 61 ff nach ). Unter diesen Gegebenheiten ist die (noch) fehlende Existenz einer erstinstanzlichen Entscheidung durch die Aufhebung der den Beteiligten zugestellten Entscheidung im Interesse der Rechtssicherheit klarzustellen und die Sache an das erstinstanzliche Gericht zwecks Beendigung des noch nicht abgeschlossenen Verfahrens zurückzuverweisen (BGH, Beschluss vom 3. November 1994 - LwZB 5/94, Rn 5 nach = NJW 1995, 404; BVerwG, Urteil vom 3. Dezember 1992 - 5 C 9/89, Rn 3 nach = BVerwGE 91, 242; Kilian aaO).

Das SG wird auch über die Kosten des Berufungsverfahrens zu entscheiden haben.

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.-