Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 10.05.2012, Az.: 2 A 8/10
Armenien:Wehrdienst; Rekrut:Misshandlung
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 10.05.2012
- Aktenzeichen
- 2 A 8/10
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2012, 44459
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 60 Abs 2 AufenthG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Es ist nicht im Sinne eines real risk beachtlich wahrscheinlich, dass ein zurückkehrender wehrpflichtiger Armenier Opfer einer erniedrigenden Behandlung wird, wenn er als Rekrut zum Wehrdienst herangezogen wird.
Tatbestand:
Der ... geborenen Kläger ist mit hoher Wahrscheinlichkeit armenischer Staatsangehöriger kurdischer Volks- und behaupteter yezidischer Religionszugehörigkeit. Er verließ sein Heimatland Armenien gemeinsam mit seinen Eltern, den Klägern im Verfahren 2 A 7/10, im Jahr 1991 und lebte bis Juni 1999 in Kiew/Ukraine. Im Juli 1999 reiste die Familie in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte hier Asylanträge.
Den Antrag des Klägers lehnte das vormalige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge mit Bescheid vom 13. August 1999 als offensichtlich unbegründet ab. Gleichzeitig stellte es fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG offensichtlich nicht und Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Zudem forderte es den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, wobei es für den Fall der Nichtbefolgung die Abschiebung in die Ukraine androhte. Der Kläger könne auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet sei. Zur Begründung führte das Bundesamt an, dem Kläger drohe allenfalls Gefahr durch private Dritte, was eine politische Verfolgung nicht begründe. Zudem sei sein Vortrag unsubstantiiert und deshalb unglaubhaft. Das Bundesamt ging dabei davon aus, dass der Kläger die ukrainische Staatsangehörigkeit besitzt. Die dagegen gerichtete Klage blieb erfolglos. Mit Urteil vom 10. Oktober 2000 wies das Verwaltungsgericht Oldenburg die Klage als offensichtlich unbegründet ab (1 A 3177/99). Dabei ging das Gericht, Bezug nehmend auf seinen vorangegangenen Beschluss im Eilverfahren vom 22. Oktober 1999, davon aus, der Kläger sei eindeutig kein armenischer Staatsangehöriger.
Da der Kläger über keine Personaldokumente verfügte, erhielt er in der Folgezeit vom Landkreis K. Duldungen. Nach Vorlage von Geburtsurkunden, die nach Angabe des Auswärtigen Amtes von Armenien vom 4. Juni 2007 echt sind, bestätigte sich die Identität des Klägers. Am 6. Februar 2008 wurden der Kläger gemeinsam mit seinen Eltern im Rahmen des zwischen der Republik Armenien und der Bundesrepublik Deutschland geschlossenen Rückübernahmeabkommens einer armenischen Expertenkommission vorgestellt, die prüfte, ob es sich bei dem Kläger und seinen Eltern um armenische Staatsangehörige handele und ob für sie Rückkehrdokumente nach Armenien ausgestellt werden könnten. Mit Schreiben vom 29. April 2008 an die für dieses Verfahren zuständige Zentrale Ausländerbehörde L. teilte die Botschaft der Republik Armenien mit, für den Kläger könne ein Passersatzpapier ausgestellt werden und er würde in Armenien aufgenommen werden. Auf Bitte des Landkreises K. leitete daraufhin das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge von Amts wegen unter dem 30. Juni 2008 ein Verfahren auf Prüfung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG in Bezug auf Armenien ein. Das Bundesamt wies darin darauf hin, dass sich seine Prüfung auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG beschränken werde. Es bat den Kläger, mit ausführlicher Begründung seiner politischen Probleme zum Ausdruck zu bringen, wenn er im Zuge dieses Verfahrens den Prüfbereich auf einen Asylfolgeantrag im Sinne des § 71 Abs. 1 AsylVfG erweitern wolle. Im Rahmen seiner Anhörung trug der Kläger Sorgen um seinen Staatsangehörigkeitsstatus in Armenien vor. Zudem befürchtete er als Yezide Schwierigkeiten in Armenien. Schließlich drohe ihm bei Ableistung seines Wehrdienstes eine ernsthafte Gesundheitsgefahr.
Mit Bescheiden vom 8. Oktober 2008 stellte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge fest, dass bei dem Kläger Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. In der Begründung dieses Bescheides heißt es zum Prüfungsumfang, der Kläger habe, obwohl über diese Möglichkeit aufgeklärt, keinen Asylfolgeantrag gestellt, so dass nur Abschiebungsverbote zu prüfen seien. Solche lägen nicht vor. Insbesondere ergäben sie sich nicht aus dem Umstand, dass der Kläger Yezide sei. Yeziden würden zwar vielfach diskriminiert und schikaniert; dies erreiche jedoch nicht die für ein Abschiebungsverbot erforderliche Intensität; bei Straftaten gegen Yeziden sei der Staat schutzbereit. Feststellbare Misshandlungen während des Wehrdienstes bildeten einen allgemeinen, nicht speziell gegen Yeziden gerichteten Missstand in der armenischen Armee.
Gegen diese Bescheide hat der Kläger am 22. Oktober 2008 Klage erhoben.
Zu deren Begründung trägt er vor, er sei staatenlos. Nur ein gültiger Pass begründe die Staatsangehörigkeit; einen solchen besitze er nicht und ein solcher solle auch nicht ausgestellt werden; die Bereitschaft Armeniens, ihm Passersatzpapiere ausstellen zu wollen, bestreite er mit Nichtwissen. Weiter trägt er vor, keine Bezüge mehr zu Armenien zu haben. Ferner befürchte er Probleme als Yezide; Ihm drohe Einziehung zum Wehrdienst und dort unmenschliche Folter.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 8. Oktober 2008 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie tritt dem klägerischen Vorbringen in der Sache entgegen und weist darauf hin, dass dem Kläger im Falle der Einziehung zum Wehrdienst keine Gefahren für seine körperliche Integrität drohen. Sein Risiko, entsprechende Behandlungen zu erfahren, sei nicht größer als bei anderen Rekruten. Kämen solche Handlungen vor, was lediglich vereinzelt der Fall sei, würden gegen die Täter in der Regel dienst- und strafrechtliche Konsequenzen ergriffen.
Der vormals zuständige Einzelrichter hat auf die mündliche Verhandlung vom 18. Mai 2010 Beweis erhoben zu verschiedenen Fragen im Zusammenhang mit der sog. armenischen Expertenkommission, der auch der Kläger am 6. Februar 2008 vorgestellt worden war. Wegen der Beweisfragen im Einzelnen wird auf den Beweisbeschluss vom 18. Mai 2010 Bezug genommen. Auf diesen Beschluss haben sich im Auftrag des Auswärtigen Amtes durch die Zentrale Ausländerbehörde L. und Frau Dr. M. N. geäußert. Wegen der Einzelheiten wird auf die Stellungnahme der Ausländerbehörde vom 17. Juni 2010 und von Frau Dr. N. vom 19. November 2010 Bezug genommen. Der ebenfalls um Stellungnahme gebetene UNHCR teilte unter dem 14. Juni 2011 mit, keine verwertbaren Informationen zu besitzen. Gleiches teilte amnesty international unter dem 24. Juni 2010 mit.
Mit Beschluss vom 26. Juli 2011 ist der Rechtsstreit in die Zuständigkeit der Kammer zurück übertragen worden. Auf die mündliche Verhandlung vom 8. September 2011 hat die Kammer weiteren Beweis erhoben zu Fragen des Wehrdienstes in Armenien. Wegen der Beweisfragen im Einzelnen wird auf den Beweisbeschluss vom 8. September 2011 Bezug genommen. Zu diesem Beweisbeschluss haben sich das Auswärtige Amt und Frau Dr. M. N. geäußert. Wegen der Einzelheiten wird auf die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 11. November 2011 und die Stellungnahme von Frau Dr. N. vom 10. November 2011 Bezug genommen. Amnesty international hat unter dem 14. November 2011 mitgeteilt, zu den Themen nicht Stellung nehmen zu können. Das Trans Kaukasus Institut hat sich trotz mehrfacher Erinnerungen nicht geäußert. Mit Beschluss vom 23. Februar 2012 hat die Kammer daher ihren Beweisbeschluss vom 8. September 2011 insoweit geändert, als dieses Institut nicht mehr mit der Erstellung einer sachverständigen Stellungnahme beauftragt wird.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge der Beklagten und die Ausländerakten des Landkreises K. Bezug genommen. Diese Unterlagen sind ebenso Gegenstand der mündlichen Verhandlungen gewesen wie die aus den den Beteiligten jeweils mit der Ladung übersandten Listen ersichtlichen Erkenntnismittel.
Entscheidungsgründe
Das Gericht legt den Klagantrag gemäß § 86 Abs. 1 VwGO sachgerecht dahin aus, dass der Kläger beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. Oktober 2008 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass bei dem Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG vorliegt,
hilfsweise,
festzustellen, dass bei dem Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.
Die so verstandene Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 8. Oktober 2008 ist rechtmäßig und der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG durch die Beklagte nicht.
Zur Begründung nimmt das Gericht zunächst Bezug auf seine dem Kläger bekannten Ausführungen im Verfahren 2 A 7/10 seiner Eltern, in dem die Kammer mit Urteil von heute ebenfalls eine Entscheidung getroffen hat. Dies betrifft insbesondere den gerichtlichen Prüfungsumfang in diesem Verfahren sowie die (verneinte) Frage von Abschiebungsverboten wegen des Refoulementverbots, der yezidischen Religionszugehörigkeit des Klägers und der wirtschaftlichen Situation in Armenien.
Ergänzend führt die Kammer aus:
Eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht dem Kläger auch nicht, wenn und soweit er im Falle seiner Rückkehr nach Armenien seinen Wehrdienst ableisten müsste. Ihm droht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit das reale Risiko, Opfer von Übergriffen während der Ableistung seines Wehrdienstes zu werden; dies steht zur Überzeugung des Gerichts nach der aufgrund des Beschlusses vom 8. September 2011 durchgeführten Beweisaufnahme fest (a.A. VG Ansbach, Urteil vom 29.04.2009 -AN 15 K 09.30121-).
Männer armenischer Staatsangehörigkeit unterliegen vom 18. bis zum 27. Lebensjahr einer allgemeinen Wehrpflicht; die Dauer des Wehrdienstes beträgt 24 Monate (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 8. November 2010); die Armee Armeniens hat eine Mannstärke von ca. 45.000 (46.684 lt. The military balance, London 2010, zitiert nach wikipedia, 44.660 lt. www.globaldefence.net Stand 20.4.2010). Die Kammer geht nach der Stellungnahme von Frau Dr. N. vom 10. November 2011 davon aus, dass die Wehrpflicht auch den Kläger trifft, wenngleich seine Staatsangehörigkeit noch nicht abschließend bestätigt sein mag. Zudem hat der Kläger im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung das 27. Lebensjahr noch nicht vollendet. Wehrpflichtige, die sich zunächst, wie der Kläger, ihrer Wehrpflicht entzogen haben, müssen trotz vorhandener Strafvorschriften grundsätzlich nicht mit Bestrafung rechnen (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18.Januar 2012, Stand: Januar 2012). Die Höchststrafe beträgt ca. 3.048 Euro (vgl. N., Stellungnahme an das erkennende Gericht vom 10.11.2011). Da der Kläger nicht wie seine Mutter behauptet, ein Zeuge Jehovas zu sein, kommt es auf die Sondersituation dieser Personengruppe nicht an. Aus diesen Erwägungen ergibt sich eine Verfolgungsgefahr also nicht.
Zwar gibt es auf dem Papier zwei Arten eines Ersatzdienstes für Kriegsdienstverweigerer; dieser dauert 36 Monate innerhalb der Streitkräfte bzw. 42 Monate außerhalb der Streitkräfte. Tatsächlich ist er jedoch lediglich als Dienst ohne Waffen in der Truppe ausgestaltet. Dem Kläger dürfte die Möglichkeit, einen solchen Dienst zu leisten nach der zitierten Äußerung von Frau Dr. N. jedoch verschlossen bleiben, da dieser in der Praxis den Zeugen Jehovas vorbehalten ist. Für die weitere Beurteilung geht das Gericht deshalb davon aus, dass der Kläger normalen Wehrdienst leisten muss. Die Situation von Wehrpflichtigen stellt sich nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen wie folgt dar:
Das Auswärtige Amt hat mit der in diesem Verfahren eingeholten Auskunft vom 11. November 2011 mitgeteilt, ihm läge zu der Frage, ob der Kläger mit Misshandlungen zu rechnen habe, kein belastbares Zahlenmaterial vor. Presse und Nichtregierungsorganisationen berichteten vereinzelt über solche Fälle, wobei gegen die Täter in der Regel dienst- und strafrechtliche Maßnahmen ergriffen würden; Erkenntnisse über etwaige Dunkelziffern habe man nicht (ebenso Auswärtiges Amt, Lagebericht Armenien vom 18. Januar 2012 (Stand: Januar 2012).
Demgegenüber führt das TransKaukasus-Institut in einer älteren Stellungnahme vom 31. Januar 2009 an das VG Ansbach aus, die Gesellschaft der Militärdienstleistenden in der Republik Armenien sei gekennzeichnet durch menschenunwürdige Initiationsriten und Initiationsphasen, wobei ältere Kohorten die absoluten (Gewalt-) Herrscher über die neu Eintretenden seien. Dieses Herrschafts- und Foltersystem sei schon der UdSSR etabliert und sei bekannt als die Dedovsina, die „Großväterherrschaft“. Dieses System werde weiterhin von der militärischen Führung akzeptiert, nur seien Todesfolgen und schwerste dauerhafte Verletzungen unerwünscht, selbst solche würden aber billigend in Kauf genommen. Misshandlungen und Folter seien bei der Ableistung des Wehrdienstes zu erwarten. Bei etwa 1% einer Kohorte drohten Misshandlungen und Folter bis zum Tode oder bis zu dauerhaften schwersten Gesundheitsschäden. Dem könnten sich Wehrpflichtige nur durch Bestechung entziehen. Eine aktuelle Einschätzung der Lage, um die das Gericht das Institut mit dem Beweisbeschluss vom 8. September 2011 gebeten hatte, war trotz mehrfacher und intensiver Nachfrage nicht zu erlangen.
Frau Dr. N. führt in ihrer in diesem Verfahren eingeholten Stellungnahme aus, die Gefahr von Misshandlungen im Militärdienst scheine grundsätzlich höher zu sein als die im Ersatzdienst. Genau könne sie diese Frage jedoch aufgrund methodischer Schwierigkeiten, die mit einer hohen Dunkelziffer zusammenhingen, nicht beantworten. Auf keinen Fall könnten Misshandlungen mit Gewissheit ausgeschlossen werden. Sie gehe auch davon aus, dass der Kläger aufgrund seiner yezidischen Religionszugehörigkeit einem höheren Misshandlungsrisiko ausgesetzt sei als „normale“ Wehrpflichtige; es gebe jedoch auch andere Einschätzungen durch Nichtregierungsvertreter. 2010 habe es zehn Todesfälle durch Misshandlungen gegeben, über die Gesamtzahl der Misshandlungen gebe es Zahlenmaterial nicht. Falls die Schuld bewiesen werden könne, komme es zu straf- und disziplinarrechtlichen Verfolgungen. Eine analytische Schilderung von Fallbeispielen gibt Frau Dr. N. in ihrer Stellungnahme vom 1. Juli 2011 an das VG Schwerin. Dieser Schilderung stellt sie die Aussage voran, dass die Einführung eines von der Regierung ernannten Menschenrechtsbeauftragten (Ombudsmann), eine intensive Berichterstattung in den Medien sowie die Tätigkeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen bisher an der Praxis der Rekrutenschinderei nichts geändert hätten. Bei den Tätern handele es sich oft um ältere Wehrdienstleistende, die ihrerseits misshandelt worden seien, um freiwillige Soldaten oder um Vorgesetzte, die grundlos agierten oder eigenmächtig geringfügiges Fehlverhalten der Rekruten durch Erniedrigung und/oder körperliche Misshandlungen bestraften. Bei den Misshandlungen handele es sich um Delikte zwischen verbalen Beleidigungen über Gelderpressungen, körperliche Misshandlungen bis hin zu vorsätzlicher Tötung (Mord), gelegentlich auch um sexuelle und andere Folter. Die größte Gefährdung bestehe für die Rekruten bei der Musterung; exakte statistische Daten gebe es nicht; berichtet würden für die ersten elf Monate des Jahres 2008 69 Todesfälle in der Armee, wovon etwa 10 Fälle in Verbindung mit Gewalt und Rekrutenschinderei zusammenhingen. Ähnliche Zahlen seien für die ersten elf Monate des Jahres 2009 bekannt. Es folgen in dieser Stellungnahme Berichte über Strafverfahren gegen die Täter, wobei selten die Führungskräfte der Einheiten belangt worden seien. Für das Jahr 2010 werden jedoch auch Fälle dokumentiert, in denen Kommandeure, die sich an Misshandlungen beteiligt oder diese geduldet hatten, straf- und disziplinarrechtlich verfolgt wurden. Allerdings dränge sich der Eindruck auf, dass die Ermittlungsbehörden und die Gerichtsbarkeit die Täter begünstigten. Gewaltprävention erfolge demgegenüber nicht oder sei wirkungslos. Frau Dr. N. schließt sich der Einschätzung des Menschenrechtsberichts für 2010 des US Departements of State an, wonach innerhalb der Streitkräfte die Straflosigkeit und mangelnde Rechenschaftspflicht der Befehlshaber, grassierende Korruption und schlechte Lebensbedingungen zu Misshandlungen und Verletzungen außerhalb von Gefechten beitrügen. Im internationalen Vergleich sei Rekrutenschinderei weiterhin ein großes Problem in allen postsowjetischen Republiken Mittelasiens und des Südkaukasus, also auch Armenien.
Der Menschenrechtskommissar des Europäischen Rates, O. P., fasst seinen Besuch Armeniens in der Zeit vom 18. Bis 21. Januar 2011 in seinem Bericht vom 9. Mai 2011 zusammen (Council of Europe, Commissioner for human rights, Report by O. P.). Er zeigt sich besorgt über häufige Berichte von Misshandlungen in der armenischen Armee. Er hält es für ermutigend, dass diese Fälle mittlerweile Gegenstand öffentlicher Debatten seien und die Regierung ihre Bereitschaft geäußert hat, gegen solche Misshandlungen vorzugehen (Bericht Seite 3). Im Einzelnen beanstandet der Kommissar, dass extralegale Isolationshaft und Bestrafungen in der armenischen Armee relativ weit verbreitet seien, dass aber das Verteidigungsministerium neue Disziplinarregeln auf den Weg gebracht habe, um diesen Problemen zu begegnen (Bericht Seite 22, Rn. 126 ff.). Er nahm auch zur Kenntnis, dass die Zahl der Misshandlungen in den vergangenen Jahren abgenommen hat, bedauerte aber gleichzeitig, dass genaue Zahlen nicht zu erlangen seien (Bericht Seite 23 Rn. 129). Insofern hält er es für wünschenswert, dass eine unabhängige Institution geschaffen wird, die die Misshandlungsfälle beobachtet. Die armenische Regierung hat in ihrer Stellungnahme zu diesem Bericht ausgeführt, dass das Thema Misshandlungen in der Armee für sie oberste Priorität habe und sie ohne jeden Zweifel den politischen Willen habe, sie zu beenden. Neben dem neuen Disziplinarrecht zielten ihre Maßnahmen auch auf Fortbildungen zum Thema Menschenrechte ab. Auch erfolge konsequent straf- und disziplinarrechtliche Verfolgung; von 2010 bis Mai 2011 seien nur drei Verfahren gegen Beschuldigte eingestellt worden, weil sich ein Tatverdacht nicht bestätigen ließ.
Die Misshandlungen sind der Republik Armenien zurechenbar. Die Täter sind Soldaten der Armee Armeniens. Verfolgungen Dritter sind dem Staat dann zuzurechnen, wenn er nicht mit den ihm an sich zur Verfügung stehenden Kräften Schutz gewährt; hierbei ist freilich zu bedenken, dass es keiner staatlichen Ordnungsmacht möglich ist, einen lückenlosen Schutz vor Unrecht und Gewalt zu garantieren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 - BVerfGE 80, 315 (334, 336); Beschluss vom 23.01.1991 - 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 - BVerfGE 83, 216 (235)). Bei vereinzelten Exzesstaten von Amtswaltern kann in Betracht kommen, dass diese dem Staat nicht zugerechnet werden können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989, a.a.O. (352), a.A. HK-AuslR, a.a.O. Rn 25). Der bloße Umstand, dass bestimmte Maßnahmen der Rechtsordnung des Herkunftsstaats widersprechen, berechtigt aber noch nicht dazu, sie als Amtswalterexzesse einzustufen. Vielmehr bedarf es entsprechender verlässlicher tatsächlicher Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 20.05.1992 - 2 BvR 205/92 - NVwZ 1992, 1081 (1083) und vom 08.06.2000 - 2 BvR 81/00 - InfAuslR 2000, 457 (458)). Andernfalls bleibt das Handeln der Sicherheitsorgane dem Staat zurechenbar (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 14.05.2003 - 2 BvR 134/01 - DVBl 2003, 1260 m.w.N.). Ausgehend davon bleiben die hier in Rede stehenden Handlungen der Militärs der armenischen Armee dem Staat Armenien zurechenbar. Die ausgewerteten Erkenntnisse lassen nicht den Schluss zu, dass es sich bei den Misshandlungen um bloße Einzelexzesse handelt. Vielmehr sprechen sie für ein nicht völlig vereinzeltes Vorkommen, begründet in alten Traditionen der russischen Armee. Dass die Handlungen immer häufiger straf- und disziplinarrechtlich geahndet werden – nach Angaben der armenischen Regierung sogar in aller Regel -, rechtfertigt nicht, sie als Amtswalterexzesse anzusehen.
Allerdings begründen die geschilderten Übergriffe gegen Rekruten in der armenischen Armee für den Kläger nicht ein reales Risiko, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit selbst Opfer einer solchen erniedrigenden Behandlung zu werden. Der hier anzulegende Maßstab ist strenger als derjenige bei der soeben erörterten Frage eines Amtswalterexesses. Es ist zu bedenken, dass die berichteten Misshandlungsfälle gemessen an der Gesamtgröße der armenischen Armee zahlenmäßig äußerst geringes Gewicht haben. Zu Todesfällen ist es in weniger als 0,033 % der Fälle gekommen (ca. 15 Todesfälle 2009 und 2010 bei einer Gesamttruppenstärke von ca. 45.000). Selbst wenn man annehmen wollte, dass die Zahl der Körperverletzungen und/oder Folterungen deutlich höher liegt als die Zahl der Todesfälle und dass es eine nicht unerhebliche Dunkelziffer geben mag, kann man nicht von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit sprechen, dass auch der Kläger Opfer derartiger Maßnahmen wird. In Ermangelung empirischen Datenmaterials geht das Gericht dabei zugunsten des Klägers davon aus, dass Übergriffe gegen Rekruten in 300 bis 400 Fällen im Jahr stattfinden. Selbst eine solch erhebliche Zahl würde ein persönliches Risiko von unter 1% für den Kläger bedeuten. In Anbetracht der umfassenden Beobachtung der Menschenrechtssituation in der armenischen Armee durch Nichtregierungsorganisationen einerseits und durch den Europäischen Kommissar für Menschenrechte andererseits kann ausgeschlossen werden, dass die Zahl der Fälle größer ist als die von der Kammer zugrunde gelegte Zahl. Risikomindernd kommt im Fall des Klägers hinzu, dass er, sollte er jetzt seinen Wehrdienst antreten müssen, bereits fast 27 Jahre alt ist. Er besitzt damit schon aufgrund seines Alters und seinen in der Bundesrepublik Deutschland gemachten Lebenserfahrungen ein anderes Durchsetzungsvermögen als ein achtzehn Jahre alter Rekrut. Auf den Umstand, dass man sich vom Wehrdienst offenbar auch freikaufen kann, und die Frage, ob der Kläger hierzu finanziell in der Lage ist, kommt es rechtserheblich in dieser Situation nicht mehr an.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit und die Abwendungsbefugnis ergibt sich aus §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.