Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 11.05.2012, Az.: 1 B 127/12

Asylfolgeverfahren; einstweilige Anordung; posttraumatische Belastungsstörung

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
11.05.2012
Aktenzeichen
1 B 127/12
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2012, 44407
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Die Ersteinschätzung eines beauftragten Gutachters über das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung begründet den Erlass einer einstweiligen Anordnung zum vorläufigen Absehen der Abschiebung.

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt im einstweiligen Rechtsschutz die Mitteilung des F. (im Folgenden: F.) an die Ausländerbehörde des Beigeladenen, dass von der erteilten Mitteilung gemäß § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG kein Gebrauch gemacht und insbesondere der Antragsteller nicht abgeschoben werden darf.

Gleichzeitig hat der Antragsteller Klage auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens gegen die Antragsgegnerin erhoben (1 A 123/12), über die noch nicht entschieden ist.

Der am ... geborene Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Nach seinen Angaben reiste er am ... auf dem Landweg in die C. ein und beantragte am ... seine Anerkennung als Asylberechtigter. Zur Begründung gab er an: Er habe in G. von 1989 bis 1994 die Grundschule besucht und von 2001 bis 2003 als einfacher Soldat in H. seinen Wehrdienst abgeleistet. Von Beruf sei er Baggerführer gewesen und habe für eine Straßen- und Tiefbaufirma aus I. gearbeitet. Im Jahr 2009 sei er in der Provinz J. zwischen den Kreisstädten K. und L. tätig gewesen. Er sei der einzige gewesen, der aus G. gestammt habe. PKK-Angehörige, die das gewusst hätten, seien gekommen und hätten verlangt, dass er sie mit Verpflegung unterstütze. Im Jahr 2009 habe er mit den PKK-Angehörigen viermal Kontakt gehabt und habe ihnen Unterstützung geleistet. In der neuen Saison, im Jahr 2010, habe er die Arbeit auf der Baustelle wieder aufgenommen und den PKK-Angehörigen erneut geholfen. Davon hätte die Polizei erfahren und ihn deshalb im April 2010 für einen Tag mitgenommen und geschlagen. Er habe alles abgestritten und sei deshalb nach einem Tag wieder freigelassen worden. Er habe noch zwei Tage auf der Baustelle gearbeitet und sei dann zurückgekehrt nach I.. Dort habe er unter Beobachtung gestanden. Zwei Angehörige der PKK seien zu ihm nach Hause gekommen und hätten verlangt, dass er weiter auf der Baustelle arbeite. Da sich die Baustelle im Kampfgebiet befunden hätte, hätten die PKK-Angehörigen ausnutzen wollen, dass er, der Kläger, sich dort frei habe bewegen können. Er habe das nicht gewollt und sich von beiden Seiten unter Druck gesetzt gefühlt. Deshalb habe er seine Heimatstadt I. am 11.05.2010 verlassen und sich zunächst nach S.begeben. Den Nüfus, der ihm am 20.04.2010 in seiner Heimatprovinz ausgestellt worden sei, habe er gegen seinen alten Nüfus getauscht, weil das Foto darauf etwas veraltet gewesen sei. Ob er in der Türkei gesucht werde, wisse er nicht genau. Er glaube aber, dass er auch im Westen der Türkei in Gefahr gewesen sei und unter Druck gestanden hätte, wenn man in Erfahrung gebracht hätte, dass er schon einmal festgenommen worden sei. Mit Bescheid vom 10.08.2010 lehnte das F. den Asylantrag des Antragstellers ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen der §§ 60 Abs. 1 sowie Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Gleichzeitig forderte es den Antragsteller auf, die C. innerhalb eines Monats nach Zustellung der Entscheidung zu verlassen und drohte ihm für den Fall der Nichtbefolgung der Ausreiseaufforderung die Abschiebung in die Türkei an. Die dagegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgerichts M. mit Urteil vom 28.11.2011 (5 A 155/10) rechtskräftig abgewiesen.

Am 04.04.2012 stellte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin den Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens mit dem Ziel der Zuerkennung des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Zur Begründung gab er unter Zitierung aus verschiedenen Quellen an, es lägen neue Beweismittel vor, die geeignet seien, eine für ihn günstigere Entscheidung herbeizuführen. Aus den zitierten Erkenntnismitteln ergebe sich, dass die im Asylverfahren vorgetragenen Angaben glaubhaft seien. Darüber hinaus berief er sich unter Vorlage einer ärztlichen Stellungnahme des N. Fachklinikums O. auf eine posttraumatische Belastungsstörung. Im Falle seiner Rückführung in die Türkei sei mit einer erheblichen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes im Sinne einer Retraumatisierung zu rechnen.

Mit Bescheid vom 16.04.2012 lehnte das F. sowohl die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens, als auch die Abänderung des Ursprungsbescheides bezüglich der Feststellung des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG ab. Zur Begründung führte es an, die vom Antragsteller vorgelegten neuen Beweismittel seien nicht substantiiert genug, um die Wiederaufnahme eines Asylverfahrens zu rechtfertigen. Eine erneute Entscheidung über die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung erfolgte im Hinblick auf § 71 Abs. 5 Satz 1 AsylVfG nicht.

Mit Schreiben vom 16.04.2012 teilte das F. der Ausländerbehörde des Beigeladenen mit, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vorlägen und ein weiteres Asylverfahren nicht durchgeführt werde.

Am 20.04.2012 hat der Antragsteller Klage gegen den Bescheid vom 16.04.2012 erhoben und am 25.04.2012 zusätzlich um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. Zur Begründung trägt er vor, die Ausländerbehörde des Beigeladenen habe mitgeteilt, dass angesichts des Umstandes, dass seine Klage keine aufschiebende Wirkung entfalte, Abschiebungsmaßnahmen eingeleitet würden, soweit nicht im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzes eine entgegenstehende Entscheidung ergehen würde. Außerdem sei eine psychologische Begutachtung des Antragstellers durch einen Diplompsychologen des Uniklinikums P., Klinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, in Auftrag gegeben worden. Es sei bereits ein erster Begutachtungstermin erfolgt. Aus der vorgelegten psychologischen Kurzeinschätzung vom 25.04.2012 ergebe sich, dass der Antragsteller an einer chronisch manifestierten posttraumatischen Belastungsstörung leide. Der Leidensdruck, die psychische Belastung sowie die erheblichen Beeinträchtigungen im Alltag seien aufgrund der massiven Traumatisierung im Herkunftsland als sehr hoch einzustufen. Der Antragsteller sei dringend behandlungsbedürftig. Im Falle der Rückkehr in sein Heimatland sei die Retraumatisierungsgefahr maximal gegeben.

Der Antragsteller beantragt,

der Beklagten im Wege einer einstweiligen Anordnung aufzugeben, gegenüber der Ausländerbehörde des Landkreises Q. zu erklären, dass im Hinblick auf die Entscheidung vom 16.04.2012 zunächst keine Abschiebungsmaßnahmen ergehen dürfen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Zur Begründung verweist sie auf die angefochtene Entscheidung sowie darauf, dass die vorgelegte Kurseinschätzung nicht den Mindestanforderungen an vorzulegende ärztliche Atteste zur Begründung einer posttraumatischen Belastungsstörung genügen würde.

Der Beigeladene hat sich nicht geäußert.

Wegen der weiteren Einzelheiten und des Vorbringens im Übrigen wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des F. Bezug genommen.

II.

Der Antrag ist zulässig.

Das F. hat den Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens sowie auf Abänderung des Bescheids vom 10.08.2010 bezüglich der Feststellungen zu § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG mit Bescheid vom 16.04.2012 abgelehnt, ohne eine weitere Abschiebungsandrohung zu erlassen (§ 71 Abs. 5 Satz 1 AsylVfG). Daher verbleibt es bei der vollziehbaren Ausreisepflicht des Klägers nach Maßgabe des unanfechtbaren Bescheids vom 10.08.2010, zumal das F. mit seiner Mitteilung nach § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG vom 16.04.2012 dies der Ausländerbehörde mitgeteilt hat.

Zutreffender vorläufiger Rechtsschutz ist in Fällen dieser Konstellation ein Antrag nach § 123 VwGO gegen das F., mit dem diesem aufgegeben werden soll, der für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass vorläufig nicht auf Grund der nach Ablehnung des Folgeantrags an sie ergangenen Mitteilung gemäß § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG abgeschoben werden darf.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch begründet.

Er setzt neben dem Anordnungsgrund voraus, dass der Antragsteller die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung durch das Gericht glaubhaft macht (§ 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO).

Der Antragsteller hat unwidersprochen vorgetragen, dass die Sachbearbeiterin der Ausländerbehörde des Beigeladenen mitgeteilt hat, dass aufgrund der Mitteilung des F. Abschiebungsmaßnahmen eingeleitet werden würden, wenn nicht eine entgegenstehende Entscheidung getroffen würde. Der Antragsteller ist damit von der jederzeitigen Abschiebung unmittelbar bedroht und hat einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsanspruch auf das Absehen von Abschiebungsmaßnahmen bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens glaubhaft dargelegt.

Nach der Regelung des § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG, ist die Ausländerbehörde lediglich gehalten, mit dem Vollzug der Abschiebung abzuwarten, bis die Mitteilung des F., dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vorliegen, eingegangen ist, es sei denn, der Folgeantrag ist offensichtlich unschlüssig oder der Ausländer soll in einen sicheren Drittstaat abgeschoben werden. Rechtsstaatliche Gründe nach Art. 19 Abs. 4 GG (Grundgesetz) erfordern es allerdings, dem Ausländer Gelegenheit zu bieten, die ablehnende Entscheidung und die damit verbundene Mitteilung nach § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG zumindest im Verfahren nach § 123 VwGO summarisch mit in den Blick zu nehmen (vgl. VG Augsburg, Beschluss vom 17.03.2011 - Au 6 E 11.30089 -, juris Rn. 36).

Nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG besteht ein Anspruch auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Dabei kann offen bleiben, ob die Voraussetzungen tatsächlich vorliegen, wenn die Entscheidung, ob über das Vorliegen der Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 1 und 2 bis 7 AufenthG erneut befunden werden sollte, gemäß § 51 Abs. 5 i. V. m. § 49 Abs. 1 VwVfG im Ermessen des F. stehen würde und das Ermessen fehlerfrei nur durch Eintreten in eine neue Sachbehandlung ausgeübt werden könnte (sog. "Ermessensreduzierung auf Null"). Ein solcher Fall kommt in Betracht, wenn die Aufrechterhaltung eines bestandskräftigen Bescheids schlechthin unerträglich wäre oder Umstände ersichtlich sind, die das Beharren der Beklagten auf der Unanfechtbarkeit ausnahmsweise als Verstoß gegen Treu und Glauben oder gegen die guten Sitten erscheinen lassen (BVerwG, Urteil vom 30.01.1974 - VIII C 20.72 -, BVerwGE 44, 333). Das Festhalten an der Bestandskraft kann dann zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis führen, wenn etwa ein Ausländer bei einer Abschiebung einer extremen individuellen Gefahrensituation - der Schwere nach vergleichbar einer extremen allgemeinen Gefahrensituation im Sinne der Rechtsprechung zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) - ausgesetzt würde und das Absehen von einer Abschiebung daher verfassungsrechtlich zwingend geboten ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.10.2004 - 1 C 15/03 -, BVerwGE 122, 103). Dies setzt eine unmittelbar drohende Gefährdung und damit eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit des alsbaldigen Schadenseintritts voraus (BVerwG, Urteil vom 12.07.2001 - 1 C 5/01 -, BVerwGE 115, 1).

Angesichts der großen Bedeutung der durch eine Abschiebung gefährdeten Rechtsgüter von Leib und Leben genügt es, im Rahmen der summarischen Prüfung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren die genannten Voraussetzungen glaubhaft darzulegen.

Dies hat der Antragsteller getan. Er hat ein psychologisches Gutachten eines anerkannten Diplompsychologen auf eigene Veranlassung und Kosten in Auftrag gegeben und bereits einen Begutachtungstermin wahrgenommen. Der Gutachter hat in einer Kurzeinschätzung bei dem Antragsteller eine posttraumatische Belastungsstörung und im Fall einer Abschiebung eine Retraumatisierung diagnostiziert. Außerdem bestehe in diesem Fall eine erhöhte Suizidgefahr. Diese Einschätzung stützt die Diagnose und ärztliche Stellungnahme des N. Fachklinikums O. vom..., dass der Antragsteller im Verwaltungsverfahren vorgelegt hatte. Dort war der Antragsteller aufgrund eines Suizidversuches eingeliefert und bei ihm eine posttraumatische Belastungsstörung als erfüllt angesehen worden. Angesichts dieser vom Gericht nicht in Zweifel zu ziehenden Einschätzungen könnte der Antragsteller bei einer Abschiebung in eine extreme individuelle Gefährdungssituation geraten, so dass ein Festhalten an der Entscheidung vom 10.08.2010 zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis führen würde und damit ein weiteren Asylverfahren durchgeführt werden müsste. Ergibt das Gutachten tatsächlich das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung aufgrund der geschilderten Misshandlungen durch die Polizei, hätte der Antragsteller ohne Zweifel zumindest einen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 AufenthG. Diese Prüfung muss aber dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.

Nach alledem besteht für den Antragsteller sowohl ein Anordnungsgrund als auch ein Anordnungsanspruch, so dass seine Rückführung nach § 123 VwGO auszusetzen ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO, 83 b AsylVfG. Da der Beigeladene keinen Antrag gestellt und sich damit nicht am Kostenrisiko beteiligt hat, sind seine außergerichtlichen Kosten nach § 162 Abs. 3 VwGO für nicht erstattungsfähig zu erklären.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).