Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 20.11.2003, Az.: 1 B 47/03

Administrative Haft; Anhörung; Asylfolgeantrag; Aussetzung; ernstliche Zweifel; neuer Sachvortrag; Prognose; Richtigkeitsgewißheit; sofortige Vollziehung; Verfolgungsprognose; vorläufiger Rechtsschutz; zweistufiges Wiederaufgreifen

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
20.11.2003
Aktenzeichen
1 B 47/03
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 48289
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Bei neuem Sachvortrag im Folgeverfahren hat in der Regel eine Anhörung stattzufinden (im Anschluss an VG Darmstadt, Urt. v. 28.5.03, Asylmagazin 2003, 31).
2. Das Wiederaufgreifen im Asylfolgeverfahren erfolgt zweistufig, wobei in der 1. Stufe nur die Möglichkeit einer Asylanerkennung verlangt werden kann; weitere Prüfungen gehören zur 2. Stufe.
3. Bei weniger prominenten Kritikern der vietnamesischen Verhältnisse ist die Wahrscheinlichkeit einer Abstrafung höher als bei prominenten Kritikern (im Anschluss an VG München, Urt. v. 13.8.03, Asylmagazin 2003, 30).
4. Im Rahmen der Verfolgungsprognose ist die Möglichkeit einer administrativen Haftstrafe und die hierbei geübte Praxis vietnamesischer Behörden gebührend zu berücksichtigen.

Gründe

1

Der 1960 geborene Antragsteller vietnamesischer Staatsangehörigkeit kam - nach rd. 2-jährigem Aufenthalt in der ehem. CSFR (1988-1990) - im August 1990 in das Bundesgebiet und stellte hier erstmals einen Asylantrag, der vom Bundesamt nach einer Anhörung (9.10.1991) durch Bescheid vom 11. Dezember 1991 abgelehnt wurde. Die dagegen gerichtete Klage war erfolglos (rechtskr. Urteil der Kammer vom 10.3.1994).

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Am 5. September 2003 stellte der Antragsteller mit der Begründung einen Asylfolgeantrag, er sei Mitglied der „Demokratischen Bewegung für die Zukunft Vietnams e.V.“, einem exilpolitisch tätigen Verein, der von staatlichen Organen Vietnams beobachtet werde und in Vietnam verboten sei; seine Mitglieder würden gefoltert und säßen in Gefängnissen ein. Der Antragsteller sei für den „Außenbereich“ zuständig und ziehe laufend Informationen aus verschiedenen Quellen, insbesondere aus dem Internet, über Vietnam ein; daneben sei er für die Zusammenarbeit mit anderen vietnamesischen Organisationen zuständig. Er fürchte daher, bei seiner Rückkehr nach Vietnam verfolgt zu werden. Er lege diesbezüglich ein Anlagenkonvolut vor (Bl. 8 ff. der Verwaltungsvorgänge). Mit dem angefochtenen Bescheid vom 29. September 2003 - per Einschreiben an den Prozessbevollmächtigten zugestellt (abgesandt am 29.9. 03) - lehnte die Antragsgegnerin ohne Anhörung die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ab und stellte fest, Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG lägen nicht vor; zugleich wurde der Antragsteller aufgefordert, das Bundesgebiet binnen einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, wobei ihm die Abschiebung nach Vietnam (oder einen anderen Staat) für den Fall angedroht wurde, dass er die Frist nicht einhalte. Bereits zuvor hatte die Antragsgegnerin der zuständigen Ausländerbehörde mit Schreiben vom 23.9.03 mitgeteilt, dass ein Asylfolgeverfahren nicht durchgeführt werde, der Antragsteller darüber noch einen förmlichen Bescheid erhalte, der jedoch in den Fällen des § 71 Abs. 5 AsylVfG nicht Voraussetzung für eine Abschiebung sei; es wurde gebeten, weitere zuständige Stellen des Landes hierüber zu informieren.

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Gegen den Bescheid hat der Antragsteller am 7. Oktober 2003 per Fax bei der erkennenden Kammer Klage - 1 A 347/03 - erhoben und zugleich um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht.

4

Der fristgerecht (§§ 71 Abs. 4, 36 Abs. 1, 74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylVfG) bei der Kammer gestellte und auch sonst zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hat Erfolg.

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1. Soweit die Antragsgegnerin der zuständigen Ausländerbehörde (schon) unter dem 23.9.2003 vorab eine Mitteilung hat zugehen lassen, ist diese für den vorliegenden Fall zumindest missverständlich, wie der nachfolgende Bescheid vom 29. September 2003 aufzeigt: Unter Pkt. 3 dieses Bescheides wird zutreffend ausgeführt, dass die Voraussetzungen des § 71 Abs. 5 Satz 1 AsylVfG nicht vorliegen, da die frühere Abschiebungsandrohung bereits seit 1994 und damit seit mehr als 2 Jahren vollziehbar war. Damit wäre eine Abschiebung aufgrund der gen. Mitteilung rechtswidrig gewesen. Der Antragsteller ist jedoch nicht abgeschoben worden, so dass der begehrte vorläufige Rechtsschutz (vgl. auch den vorsorglich gestellten Antrag vom 21.10.2003) nunmehr durch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage erreicht wird.

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2. Im Verfahren des § 8o Abs. 5 VwGO sind regelmäßig die beiderseitigen Interessen im Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG mit- und gegeneinander abzuwägen, bei gesetzlichem Ausschluss der aufschiebenden Wirkung (vgl. § 75 AsylVfG) ist analog § 8o Abs. 4 Satz 3 VwGO zu entscheiden (Finkelnburg/Jank, NJW-Schriften Bd. 12, 4. Auflage 1998, Rdn. 849 ff./851; Schoch/ Schmidt-Aßmann-Pietzner, VwVG-Kommentar, Bd I / Std: Jan. 2000, § 80 Rdn. 252 m.w.N.). Danach hat - als „Ausgleich“ für den gesetzlichen Ausschluß (s.o.) - gerichtlich eine Aussetzung bei ernstlichen Zweifeln schon im Regelfall zu erfolgen (Kopp, VwGO-Komm. 12. Aufl. § 80 Rdnr. 115), ein Rechtsgedanke, der u.a. auch in den Fällen des § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gilt (VGH München, BayVBl. 1993, 691; VGH Mannheim, NVwZ-RR 1991, 287 [VGH Baden-Württemberg 23.10.1990 - 8 S 2237/90]; OVG Lüneburg, NJW 1978, 672; Renck, NVwZ 1992, 339; Czermak, BayVBl. 1976, 106; Schoch, aaO. Rdn. 204; Sodan/Ziekow, Nomos-Komm. zur VwGO, Losebl., Bearb. Puttler, Rz 109; a.A. Kopp, aaO, § 80 Rdn. 116). Solche ernstlichen Zweifel hier liegen vor, so dass die Regel zum Zuge kommt.

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Auf diese Weise wird - auf der Grundlage einer prognostischen Risikoeinschätzung - zu-gleich auch Art. 19 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union v. 7.12. 2000 (Amtsblatt 2000/C 364/01 d. Europ. Gemeinsch.) und damit der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK Rechnung getragen, demzufolge niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen werden darf, in dem für ihn das „ernsthafte Risiko“ u.a. einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung besteht. Ein solches Risiko besteht hier jedoch (dazu unten).

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3. Die Erfolgsaussichten des gestellten Antrages - und zugleich die genannten Zweifel - sind hier deshalb anzunehmen, weil bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage die im angefochtenen Bescheid vorgenommene Bewertung ernsthaften Zweifel ausgesetzt ist.

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3.1 Es stellt einen Verfahrensmangel dar, wenn bei einem weitgehend neuen Vortrag im Folgeverfahren eine Bescheidung - wie hier - ohne jede Anhörung des Antragstellers ergeht. Denn

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„das Bundesamt hat auch im Falle eines Folgeantrages den Ausländer grundsätzlich anzuhören. Im Rahmen der Amtsermittlung wird diese Pflicht zwar durch die in § 71 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG ausdrücklich normierte Mitwirkungspflicht des Folgeantragstellers relativiert. Gleichwohl kommt der Anhörung gerade auch im Folgeantragsverfahren ein besonderer Stellenwert zu, der insbesondere auch aus Gründen der effektiven Verfahrensgestaltung für die Verwirklichung des Grundrechts je nach Lage des Falls eine Anhörungspflicht begründen kann (Funke/Kaiser in GK-AsylVfG § 71 Rdnr. 61)“ (so Urteil des VG Darmstadt v. 28.5.2003 - 8 E 752/03.A (2) - Asylmagazin 2003, S. 31).

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Schon dieser Mangel begründet ernsthafte Zweifel an der vom Bundesamt getroffenen Entscheidung.

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3.2 Für ein Wiederaufgreifen gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 VwVfG genügt es, dass im mehrstufigen Wiederaufnahmeverfahren (vgl. dazu BayVGH, Inf-AuslR 1997, 47o m.w.N.; VG Lüneburg, InfAuslR 2000, S. 47) eine nachträgliche Änderung der Sachlage (oder Rechtslage) fristgerecht vorgetragen und die Gründe geeignet sind und es - analog § 42 Abs. 2 VwGO - nur möglich erscheinen lassen, dass ein günstigeres Ergebnis erzielt werden kann (BayVGH, aaO, m.w.N.; Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung, Band 2, Std: Sept. 2000, § 71 Rdn. 85 m.w.N.; Renner, aaO. § 71 AsylVfG Rn. 24; BVerfG, InfAuslR 1993, 3o4; BVerwGE 39, 234 [BVerwG 06.01.1972 - BVerwG III C 83.70]; 44, 338 [BVerwG 30.01.1974 - BVerwG VIII C 20.72]; 77, 325 [BVerwG 23.06.1987 - BVerwG 9 C 251.86]; BGH NJW 1982, 2128 [BGH 29.04.1982 - IX ZR 37/81]; OVG Münster DÖV 1984, 901). Das Gesetz verlangt in dieser 1. Stufe - der Vorprüfung - nur, eine neue Entscheidung müsse zu Gunsten des Betroffenen ergehen können, wobei „können“ iSv Möglichkeit gemeint ist (Kopp/ Schenke, VwGO-Komm., 12. Auflage, Rdn. 66 m.w.N.; Funke-Kaiser, aaO, Rdn. 83, 89 u. 106 m.w.N.; vgl. HambOVG, NVwZ 1985, 512 [OVG Hamburg 17.05.1984 - OVG Bs VII 246/84]: „gute Möglichkeit einer Asylanerkennung“). Nicht zu verlangen ist, dass „die Veränderung der Sachlage zur Überzeugung des Bundesamtes oder Verwaltungsgerichts auch tatsächlich eingetreten ist“ (Funke-Kaiser, aaO., Rdn. 85). Schon diese Erheblichkeitsprüfung gehört zum Kern des Folgeverfahren (Funke-Kaiser, aaO, Rdn. 84). Noch viel weniger kann im Vorprüfungsverfahren mit seiner bloßen Anstoßfunktion (Funke-Kaiser, aaO, Rdn. 89.1) verlangt werden, dass die Verfolgungsfurcht in der Sache selbst geprüft wird. Das Bundesverfassungsgericht (1. Kammer des Zweiten Senats v. 11.05.1993 - 2 BvR 2245/92 - in AuAS 1993, 189 /190) hat insoweit ausgeführt:

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„Lediglich wenn das Vorbringen zwar glaubhaft und substantiiert, jedoch von vornherein nach jeder vertretbaren Betrachtungsweise ungeeignet ist, zur Asylberechtigung zu verhelfen, kann der Folgeantrag als unbeachtlich angesehen werden (vgl. die Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 22.09.1988 - 2 BvR 991/87 - InfAuslR 1989, 28 (30f.), vom 17.01.1991 - 2 BvR 1243/90 - InfAuslR 1991, 133 (135) und vom 13.03.1993 - 2 BvR 1988/92 -; vgl. auch BverwGE 77, 323 (327)).“

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3.3 Das wird außer Acht gelassen, wenn im Bescheid in eine Auseinandersetzung mit dem Vortrag des Antragstellers eingetreten und die „Asylrelevanz“ der exilpolitischen Betätigung des Antragstellers ohne dessen Anhörung in Abrede gestellt wird. Nach jeder vertretbaren Betrachtungsweise ist der bisherige Vortrag hier nicht von vorneherein ungeeignet, zur Asylberechtigung zu verhelfen, zumal der sachkundige Gutachter Dr. Will - auch nach Einschätzung des Bundesamtes - den Standpunkt des Antragstellers stützt (S. 5 des angef. Bescheides). Hierbei ist zudem zu berücksichtigen, dass eine Handlungseinheit wie der vorgetragene Dauersachverhalt der „exilpolitischen Betätigung“ nicht so ohne weiteres zerstückelt und nur noch mit der aktuell vorgebrachten und andauernden exilpolitischen Betätigung der 3-Monats-Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG unterstellt werden kann (vgl. OVG Weimar, Urteil v. 6.3.2002 - 3 KO 428/99 -).

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Ein Wiederaufgreifen des Asylverfahrens ist letztlich nur abweisbar, wenn ein hinreichend substantiiertes Vorbringen, hier die dauerhafte exilpolitische Betätigung, nach jeder nur denkbaren Betrachtung für einen Erfolg im Folgeverfahren völlig ungeeignet ist, wobei verfassungsrechtlich die erforderliche „Richtigkeitsgewißheit“ vorliegen muss (BVerfG, InfAuslR 1995, 342 [BVerfG 08.03.1995 - 2 BvR 2148/94] und InfAuslR 1995, 19 [BVerfG 05.10.1994 - 2 BvR 2333/93]). Das folgt aus dem Individualanspruch auf Asyl, Art. 16 a Abs. 1 GG. Ist das nicht der Fall, so ist erst in der eröffneten 2. Stufe des Folgeverfahrens (vgl. Funke-Kaiser, aaO, Rdn. 77.2) aufzuklären und zu prüfen, ob die vorgetragenen Asylgründe tatsächlich tragen und eine asylrelevante Verfolgung oder aber die Voraussetzungen für Abschiebungsverbote oder -hindernisse vorliegen (BayVGH, aaO m.w.N.; 1. Kamm. des 2. Senats des BVerfG, AuAS 1993, 189/190; Funke-Kaiser, aaO, Rdn. 77.2, 84, 89.1). An die Substantiierungspflicht sind aus verfassungsrechtlichen Gründen „keine überspannten Anforderungen“ zu stellen (Funke-Kaiser, aaO, Rdn. 89.1).

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Da es für die Frage, ob staatliche Maßnahmen auf die „politische Einstellung des Betroffenen“ abzielen und sich als Verfolgung darstellen, zudem stets auf die „Gesamtverhältnisse im Herkunftsland“ ankommt und dortige Veränderungen die (bloße) prognostische Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung nahe legen können (so BVerwG, InfAuslR 1994, S. 286 [BVerwG 15.03.1994 - BVerwG 9 C 510/93] / S. 288), ist eine nachträgliche Änderung der Sachlage iSv § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG schon bei einer Gesamtschau (Funke-Kaiser, aaO, Rdn. 88) mit hieraus ableitbarer Änderung der „Gesamtverhältnisse im Herkunftsland“, aber auch bei einer Veränderung der Lebensbedingungen und der behördlichen Reaktionen auf politisches Engagement gegeben. Die These, Auslandsaktivitäten seien nur in Ausnahmefällen - bei besonders exponierter Betätigung mit Auslandswirkung - als Anstoß für Verfolgungsmaßnahmen zu werten, bedarf angesichts dessen der Überprüfung, dass in Vietnam eine abweichende politische Gesinnung - mag sie auch zuvor im Ausland erlangt sein - nicht mehr geduldet, sondern vielmehr ganz eindeutig bekämpft wird (Lagebericht des AA v. 1.4. 2003) und damit heute - Ende des Jahres 2003 - nachhaltige Verfolgungsmaßnahmen nach sich ziehen kann (s.u.). Dafür spricht gerade die Verweigerung der Einreise einer Reihe von langjährig im Ausland verbliebenen Vietnamesen durch vietnamesische Behörden (vgl. dazu die sog. „N-Listen“ beim Nds. Landeskriminalamt und die offenkundigen Rückführungsschwierigkeiten bei der Grenzschutzdirektion Koblenz, s. dazu Urt. des VG Lüneburg, InfAuslR 2002, 367 m.w.N.). Auch der Sachverständige Dr. Weggels geht inzwischen davon aus, dass die „vietnamesische Regierung der Rückführung jedes nur mögliche Hindernis in den Weg“ gelegt habe (so seine Stellgn. v. 10.8.2003 an VG Darmstadt), wohl um in Europa seit Jahren mit dem europäischen Gedankengut „infizierte“ ehemalige Vertragsarbeitnehmer nicht zurücknehmen zu müssen.

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3.4 Hier liegt es so, dass sich einerseits die „Gesamtverhältnisse“ in Vietnam verschärft haben dürften (vgl. den ai-Jahresbericht 2003, S. 625, „Drangsalierung von Regierungskritikern“ und S. 626 „Schwäche und mangelnde Unabhängigkeit der Justiz“), was sich schon als „Anstoß“ zu einer weiteren Prüfung darstellt, und andererseits die unstreitige exilpolitische Betätigung des Antragstellers im genannten Verein hinreichender Beleg für die behauptete Verfolgungsgefahr sein könnte. Der Vortrag zur Verfolgungsgefahr ist jedenfalls nicht schon von vorneherein völlig unschlüssig, zumal dem Antragsteller offenbar auch schon früher wegen seiner Meinungsäußerungen eine Bestrafung angedroht worden ist (vgl. Anhörung v. 9.10.1991). Seine exilpolitischen, durch vietnamesische Stellen registrierten Betätigungen in Deutschland (vgl. S. 3 d. angef. Bescheides und Zeitungsartikel „Vietnams Spitzel entscheiden...“ in taz v. 1.10.2003) könnten im rechtshängigen Klageverfahren daher eine Gefährdung für den Fall seiner Rückkehr nach Vietnam belegen, was wiederum eine Veränderung der Sach- u. Rechtslage iSv § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG (im Sinne einer Handlungseinheit) sein könnte. Es könnten daher - soweit z.Z. im Verfahren des § 80 Abs. 5 VwGO überschaubar - im Klageverfahren unter Geltung des § 86 Abs. 1 VwGO durchaus die Voraussetzungen eines Abschiebungsschutzes nach § 51 Abs. 1 AuslG anzunehmen sein. Vgl. VG München, Urt. v. 13.8.2003 - M 17 K 03.50661 - Asylmagazin 2003, S. 30:

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„In den genannten Gutachten ist überzeugend ausgeführt, dass keine Differenzierung danach stattfindet, ob die entsprechenden Taten im Inland oder im Ausland begangen werden, dass aber wohl eine Differenzierung stattfinden kann, ob die Kritik von Prominenten oder weniger Prominenten geäußert wird. Da der Kläger zu Letzteren gehört, ist er eher einer Bestrafung ausgesetzt....

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Die Auffassung des Auswärtigen Amtes, vor einer Bestrafung sei mit der Verweigerung der Einreise zu rechnen, spielt keine Rolle. Das Gericht hat die Verfolgungswahrscheinlichkeit für den Fall einer tatsächlichen Rückkehr zu beurteilen.“ (so VG München, aaO.)

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Dem Antragsteller könnte somit in Verbindung mit seinen heutigen politischen Aktivitäten bei einer Rückkehr nach Vietnam die von ihm befürchtete Verfolgung inzwischen aufgrund der sich in Vietnam geänderten Gesamtverhältnisse drohen (vgl. Lagebericht AA v. 1.4. 2003 unter II 7; ai-Jahresbericht 2003, aaO). Das ist im hier vorliegenden Eilverfahren derzeit zu Gunsten des Antragstellers beachtlich (§ 80 Abs. 5 iVm Abs. 4 S. 3 VwGO, s.o.) - zumal unklar ist, wann durch welche Tätigkeiten im einzelnen eine asylrelevante Verfolgung konkret in Betracht zu ziehen ist: „Ohne detaillierte Kenntnis der jeweiligen Aktionen und Publikationen der Betroffenen ist der Grad der Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung nicht zu beurteilen“ (so AA v. 26.2. 1999, S. 7). Die These, ein Verfolgungsinteresse vietnamesischer Behörden werde in allen Fällen nur dann geweckt, wenn die kommunistische Regierung in Vietnam einen „Gesichtsverlust“ erleiden könnte, - wobei offen bleibt, wann das der Fall sein soll - stellt eine unbewiesene Annahme dar, die an der Realität vorbei gehen (siehe dazu noch unten) und verkennen könnte, dass das mit der Klage vorgetragene exilpolitische Verhalten des Antragstellers in Vietnam zumindest als „Frechheit“ angesehen werden könnte, der mit Gewalt und Einschüchterung zu begegnen sei (so der Sachverständige Dr. Will v. 14.9. 2000): Allein das „Lesen“ regierungskritischer Zeitungen kann schon Verfolgungsmaßnahmen nach sich ziehen (IGFM Januar 1997, S. 23; Lagebericht des AA v. 1.4.2003). Auch das Schmuggeln von Flugblättern mit antikommunistischen Inhalten reicht für Verurteilungen aus (so ai -Jahres-bericht 2002, S. 604). Der Sachverständige Dr. Will hält demgemäss an seiner schon früher geäußerten Auffassung fest, dass Rückkehrer nach öffentlicher Kritik am vietnamesischen Regierungssystem in aller Regel auch mit Verfolgung rechnen müssen (vgl. auch Dr. Will v. 14.9.2000, S. 1). Auch der Sachverständige Dr. Weggel (Stellungn. v. 10.8.2003 an VG Darmstadt) ist der Ansicht, dass eine Oppositionshaltung, die „irgendwo im fernen Ausland“ offenbart worden sei, u.a. dann in Vietnam doch verfolgungsrelevant werden könnte, wenn „Publikationen aus dem Umfeld des Innenministeriums.... Witterung bei bestimmten Personen aufgenommen und sich auf sie eingeschossen“ hätten. Dabei geht dieser Sachverständige davon aus, dass das Abkommen v. 21.8.1995 sich „als Schlag ins Wasser erwiesen“ und die „vietnamesische Regierung der Rückführung jedes nur mögliche Hindernis in den Weg“ gelegt habe: „Beim Besuch der BMZ-Ministerin in Hanoi (Oktober 2000) wurde das Abkommen von 1995 nicht einmal noch der Erwähnung für wert befunden.“

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Gerichtsverfahren verlaufen zudem in aller Regel unfair (ai-Jahresbericht 2002, S. 603), unabhängigen Menschenrechtsbeobachtern wird die Einreise verweigert (Jahresbericht, aaO., S. 603 und S. 605), damit Misshandlungen, Folterungen und Rechtsbeugungen unbekannt bleiben. Das erklärt, weshalb Referenzfälle unbekannt und unerkannt bleiben. Vereinbarungen zwischen dem UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) und den Regierungen von Vietnam und Kambodscha wurden eindeutig nicht eingehalten (ai-Jahresbericht 2003 S. 623). Vier Journalisten sind im Juli 2002 „überfallartig verhaftet“ worden und werden allein wegen der Unterzeichnung eines Protestbriefes - nach eintägigem Verhör durch den vietn. Staatssicherheitsdienst - an unbekannten Orten gefangen gehalten, u.zw. ohne jedes rechtsstaatlich-justizielle Verfahren (so IGFM v. 25.7.2002). Daher üben viele Journalisten „Selbstzensur“ (Lagebericht des AA v. 1.4. 2003), was erklärt, weshalb keine „Fälle“ bekannt geworden sind (vgl. S. 6/7 d. angef. Bescheides).

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3.5 Anknüpfungspunkt für Maßnahmen gegen den Antragsteller könnte heute - Ende 2003 - auch die Tatsache sein, dass es in Vietnam sog. „administrative Haftstrafen“ auf der Grundlage der Regierungsverordnung Nr. 31-CP v. 14. April 1997 (Lagebericht d. Ausw. Amtes v. 26.2. 1999) gibt, für deren Verbüßung mittlerweile in nahezu jeder vietnamesischen Provinz ein zentrales Lager eingerichtet worden ist. (vgl. Der Einzelentscheider-Brief v. Febr. 1999). Ein neueres Dekret v. 23.8.2001 (Nr. 53/2001/ND-CP) sieht zudem die Möglichkeit eines 5-jährigen Hausarrestes im Anschluss an eine Haftstrafe vor (Lagebericht des AA v. 1.4.2003). Auch das ist eine relevante Veränderung der Verhältnisse in Vietnam, die zur Überwindung der 1. Verfahrensstufe ausreicht (s.o., vgl. Funke-Kaiser, aaO, Rdn. 85). Das Instrument administrativer Haft entstammt der französischen Kolonialzeit und dient eindeutig der „Ausschaltung unliebsamer `Konterrevolutionärer Gegner´“ (so der Lagebericht des AA v. 26.2. 1999). Es greift in Bürgergrundrechte wie z.B. Art. 72 ein und widerspricht eindeutig dem Int. Pakt über bürgerliche u. politische Rechte (AA v. 26.2.1999, S. 3). Entsprechende Strafmaßnahmen tragen deutliche Anzeichen reiner Willkür (Dr. G. Will, S. 3 der Stellgn. v. 14.9.2000). Der Sachverständige Dr. G. Will hat sich dazu wie folgt geäußert:

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„Vielmehr ist davon auszugehen, dass es sich hierbei um eine Maßnahme handelt, derer sich die vietnamesischen Behörden vor allem in den etwas abgelegeneren Provinzen gerne bedienen, um mißliebige Kritiker aus dem Verkehr zu ziehen und einzuschüchtern.“ (Dr. G. Will, Stellung. v. 14.9.2000, aaO. S. 5).

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Jedoch sind Erkenntnisse über diese illegale vietnamesische Praxis „nur schwer zu erhalten“ (so Lagebericht des AA v. 26.2. 1999): In der FAZ v. 21.1.1999 heißt es insoweit: „Ein im Westen ausgebildeter Jurist war mehr als zehn Jahre in Haft, auf Grund administrativer Entscheidungen und ohne je ein Gericht gesehen zu haben. `Sie schlagen nicht, sie stecken dich in Einzelhaft oder in ein Arbeitslager - bis du die Gesetze des Klassenkampfs endlich eingesehen hast´, sagt er... (FAZ v. 21.1. 1999).

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4. Schließlich stehen der beantragten Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht ausnahmsweise besonders gewichtige Gründe entgegen, die es erlaubten, schon vor Abschluß des Hauptsacheverfahrens die ja doch vollendete Tatsachen schaffende Abschiebung durchzuführen, die von der Antragsgegnerin angedroht worden ist (Pkt. 3 des Bescheides). Der Antragsteller befindet sich schon über 10 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland, so dass gegen seine weitere Anwesenheit nichts Gravierendes einzuwenden ist. Der materielle Rechtschutzanspruch aus Art. 19 Abs. 4 GG ist schließlich um so stärker, je gewichtiger die abverlangte Belastung ist (BVerfGE 35, 382 / 4o2; BVerfGE, NVwZ 1985, 4o9; BVerfG (3. K. des 2. Senats) NVwZ-Beilage 1996, 19 [BVerfG 27.10.1995 - 2 BvR 384/95] m.w.N.). Deshalb ist ein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nur im Falle eindeutiger und unumstößlicher Richtigkeit (BVerfG, InfAuslR 1995, 19 [BVerfG 05.10.1994 - 2 BvR 2333/93]) abweisbar, die regelmäßig erst im Hauptsacheverfahren zu erlangen ist:

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Droht ... dem Ast. bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung seiner Grundrechte, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung nicht mehr beseitigt werden kann, so ist - ... - einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, es sei denn, daß ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (so die 3. Ka. des 2. Senats des BVerfG, Beschl. v. 27.1o.1995, NVwZ-Beilage 3/1996, S. 19 [BVerfG 27.10.1995 - 2 BvR 384/95] m.w.N.)

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An solcher unumstößlichen Richtigkeit fehlt es hier. Vielmehr sind ernsthafte Zweifel angebracht (s.o.), ist eine Bedrohung und Verfolgung des Antragstellers denkbar und möglich.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO iVm § 83 b Abs. 1 AsylVfG.

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Dieser Beschluß ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar.