Landgericht Oldenburg
Beschl. v. 02.10.2006, Az.: 6 KLs 16/06
Wiederaufnahme eines Verfahrens und Freispruch des Angeklagten vom Vorwurf des mehrfachen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch eines Kindes/Schutzbefohlenen wegen einer festgestellten emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus des Opfers
Bibliographie
- Gericht
- LG Oldenburg
- Datum
- 02.10.2006
- Aktenzeichen
- 6 KLs 16/06
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2006, 52203
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LGOLDBG:2006:1002.6KLS16.06.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- StA Osnabrück - AZ: 17 Js 36603/94
- LG Osnabrück - 31.03.1995 - AZ: 20 KLs (III) 9/95
Rechtsgrundlagen
- § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB
- § 176 Abs. 1 StGB
- § 176 Abs. 3 Nr. 2 StGB
- § 218 Abs. 1 StGB
- § 218 Abs. 2 Nr. 2 StGB
- § 371 Abs. 2 StPO
- § 359 Nr. 5 StPO
In der Strafsache
gegen
Herrn ...,
geboren am ... in ...,
wohnhaft ...,
Verteidiger:
Rechtsanwalt ...
Nebenklägerin:
Frau ...,
wohnhaft ...,
gesetzlich vertreten durch ihre Betreuerin
Rechtsanwältin
Nebenklägervertreterin:
Rechtsanwältin ...,
Geschäftszeichen: ...
wegen Vergewaltigung pp.
hat die 1. Große Jugendkammer des Landgerichts in Oldenburg
am 2.10.2006
durch die unterzeichnenden Richter beschlossen:
Tenor:
Der Angeklagte wird unter Aufhebung des Urteils des Landgerichts Osnabrück vom 31.3.1995 - Az.: 20 KLs (III) 9/95 - freigesprochen.
Die Staatskasse trägt die Kosten des gesamten Verfahrens einschließlich der dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen.
Der Angeklagte ist wegen des durch die strafgerichtliche Verurteilung erlittenen Schadens einschließlich der vom 8.11.1994 bis zu 24.11.1995 erlittenen Untersuchungshaft und der vom 25.11.1995 bis zum 8.11.2001 erlittenen Strafhaft aus der Staatskasse zu entschädigen.
Gründe
I.
Durch die am 16.2.1995 beim Landgericht Osnabrück erhobene Anklage ist dem Angeklagten zur Last gelegt worden, in P. in der Zeit von Oktober 1988 bis April 1992 und im Jahre 1993 durch acht selbstständige Handlungen folgende gemäß §§ 174 Abs. 1 Nr. 3, 176 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 2, 177, 218 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2, 223, 223a, 22, 23, 52, 53 StGB strafbare Verbrechen und Vergehen begangen zu haben:
"1. Im Oktober 1988 zwang er seine am xx.xx.xxxx geborene Tochter ... dazu, mit ihm den Beischlaf zu vollziehen, wobei er den Widerstand der Geschädigten mit Schlägen und Würgeversuchen gewaltsam überwand. Sodann führte er ungeschützt den Geschlechtsverkehr mit seiner Tochter durch, wobei es zu einem Samenerguss außerhalb der Scheide der Geschädigten kam.
2. Im September 1989 zwang er wiederum seine am xx.xx.xxxx geborene Tochter ... dazu, mit ihm den Beischlaf zu vollziehen, indem er den Widerstand der Geschädigten gewaltsam überwand, indem er ihr die Kehle zuhielt und sie würgte.
3. Im Sommer 1990 zwang er ... in seinem Büro dazu, mit ihm den Beischlaf zu vollziehen, wobei er wiederum ihren Widerstand gewaltsam überwand.
4. Zwischen Weihnachten und Silvester 1990 führte er wiederum gegen den Willen der Geschädigten ... mit dieser den Geschlechtsverkehr durch, wobei er wiederum ihren Widerstand gewaltsam überwand.
5. Im Mai 1991, wenige Tage nach dem 15. Geburtstag der Geschädigten ... führte er wiederum gegen den Willen der Geschädigten ... mit dieser in deren Zimmer den Geschlechtsverkehr durch, wobei er wiederum ihren Widerstand gewaltsam überwand.
6. Kurz vor Weihnachten 1991 führte er wiederum mit der Geschädigten ... den Geschlechtsverkehr durch, nachdem er deren Widerstand durch Schläge überwunden hatte.
7. Im April 1992 zwang er die Geschädigte ... wiederum in deren Zimmer dazu, mit ihm den Geschlechtsverkehr durchzuführen, wobei er ihren Widerstand gewaltsam und mit Drohungen überwand.
8. Im Jahre 1993, kurz nach den Auszug der älteren Schwester der Geschädigten ... aus dem Elternhaus, erklärte die Geschädigte ... ihrem Vater wahrheitswidrig, dass sie seit mehreren Monaten bereits nicht mehr ihre Regelblutung gehabt habe. Um die vermeintliche Schwangerschaft der Geschädigten abzubrechen, drang er gegen den Willen der Geschädigten mit einem hölzernen Kleiderbügel und mit den Worten "Das er das Mistschwein herausholen wolle" in die Scheide der Geschädigten ein und manipulierte dort mit dem Kleiderbügel, bis die Geschädigte aus ihrer Scheide blutete."
Durch Urteil des Landgerichts Osnabrück vom 31.3.1995 - Az.: 20 KLs (III) 9/95 - rechtskräftig nach Verwerfung seiner Revision durch Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 24.11.1995 - ist der Angeklagte zu Ziffern 1. bis 6. und 8. der Anklage wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch eines Kindes in zwei Fällen, wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in vier Fällen sowie wegen versuchten Abbruchs einer Schwangerschaft in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt worden unter Auferlegung der Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten und notwendigen Auslagen der Nebenklägerin. Hinsichtlich Ziffer 7. der Anklage ist das Verfahren gemäß § 154 StPO eingestellt worden.
Der Angeklagte befand sich aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts P. vom 8.11.1994 seit diesem Tag bis zum 24.11.1995 einschließlich in Untersuchungshaft und vom 25.11.1995 bis zum 8.11.2005 in Strafhaft.
Durch rechtskräftiges Urteil des Landgerichts Osnabrück vom 29.01.1996 - Az.: 20 KLs (III) 30/95 - war auch der Schwager des Angeklagten, ..., wegen Vergewaltigung ... in vier Fällen sowie wegen sexueller Nötigung in der Zeit von Mai 1994 bis März 1995 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt worden, die er vollständig verbüßt hat.
Nach Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen ... ist dieser durch rechtskräftiges Urteil der Kammer vom 14.12.2005 - Az.: 6 KLs 2/04 - mit der Begründung freigesprochen worden, dass er die ihm zur Last gelegten Taten nicht begangen habe, vielmehr von der ... zu Unrecht belastet worden sei.
II.
Mit Antrag vom 20.3.2006 hat der Angeklagte die Wiederaufnahme des Verfahrens begehrt und mit weiterem Antrag vom 19.5.2006, das Urteil des Landgerichts Osnabrück aufzuheben, ihn freizusprechen und ihm den durch die Strafverfolgung erlittenen Schaden zu ersetzen.
Die Staatsanwaltschaft Oldenburg hat sich dem Antrag angeschlossen und - ebenso wie die anderen Verfahrensbeteiligten - einer Entscheidung gemäß § 371 Abs. 2 StPO zugestimmt.
Der Wiederaufnahmeantrag ist gemäß § 359 Ziffer 5. StPO zulässig und begründet.
Der Angeklagte hat neue dem Landgericht Osnabrück seinerzeit noch nicht vorliegende Tatsachen und Beweismittel beigebracht, die zu seiner Freisprechung aus tatsächlichen Gründen führen.
Das Landgericht Osnabrück hatte sein Urteil - wie auch in dem Strafverfahren gegen ... allein auf die Aussage der ... gestützt, deren Aussagetüchtigkeit es aufgrund der Bekundungen des die Zeugin damals in der Kinder- und Jugendpsychiatrie des ...hospitals P. behandelnden, als sachverständigen Zeugen vernommenen Chefarztes ... bejaht hatte. Dass die Angaben der Zeugin glaubhaft, weil erlebnisbezogen seien, hatte das Landgericht im in Übereinstimmung mit dem seinerzeit eingeholten aussagepsychologischen Gutachten der Sachverständigen ... angenommen.
Der Angeklagte hat nunmehr das in dem Wiederaufnahmeverfahren des freigesprochenen ... eingeholte psychiatrische Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. med. ... vom 5.10.2004 vorgelegt, das nach der Exploration und psychiatrischen Untersuchung der Zeugin ... am 21.9.2004, nach Auswertung des diesem Verfahren und dem Strafverfahren gegen ... zugrundeliegenden sowie nachträglich bekannt gewordenen Unterlagen über die psychiatrische Behandlung der Zeugin ... in den Jahren 1994/1995 zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Zeugin - bei grundsätzlich vorhandener Aussagetüchtigkeit ohne Beeinträchtigung des Erinnerungsvermögens - bereits in den Jahren 1994 bis 1996 an einer - auch im Untersuchungszeitpunkt vorliegenden - emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus (F60.31) in einer sehr markanten und typischen Ausprägung litt, das von ihrer seit dem 16. Lebensjahr bestehenden Tendenz zu selbstverletzenden Verhaltensweisen mit tiefen Schnitten in den Unterarmen dominiert gewesen sei, was eine intensive Bindung von sie zu betreuenden und medizinisch und psychiatrisch zu versorgenden Menschen verursacht habe. Bereits damals sei ihr negatives Selbstkonzept begleitet gewesen von massiven Ängsten, von anderen verlassen zu werden.
Der Sachverständige führte weiter aus, Menschen mit dieser Störung neigten häufiger als gesunde dazu, durch erfundene aggressive Geschichten andere zu belasten und sich durch den Vorwurf sexueller Übergriffe auch an nahestehenden Personen dafür zu rächen, von ihnen nicht hinreichend gewürdigt zu sein zugleich mit der Wirkung, selbst als Opfer dazustehen mit einer Scheinerklärung für eigene Lebens- schwierigkeiten und psychiatrische Symptome. Wegen des höheren Risikos einer biographischen Legendenbildung angesichts dieser Symptomatik sei eine besonders sorgsame, professionelle Prüfung des Realitätsgehalts ihrer Aussage geboten.
Die Behauptung des Angeklagten, ... habe schon zur Zeit ihrer Vernehmungen unter einem Borderline-Syndrom gelitten, ist im Zusammenhang mit den von dem Sachverständigen herangezogenen Indiztatsachen neu, weil das Landgericht Osnabrück dies ohne Kenntnis der zusätzlichen Tatsachen in seinem Urteil ausdrücklich ausgeschlossen hatte. Die Tatsachen sind auch geeignet, die Freisprechung des Angeklagten zu begründen. Das Landgericht hat seine Entscheidung, die Angaben der Zeugin ... für glaubhaft zu halten, u.a. auch darauf gestützt, dass die Zeugin nicht an einem Borderline-Syndrom litte, sondern auf der Grundlage der Ausführungen des sachverständigen Zeugen ... an einer durch den mehrfachen sexuellen Missbrauch bedingten schweren posttraumatischen Belastungsstörung mit einer erheblichen Störung der Gefühlswelt.
Das vom Angeklagten nunmehr vorgelegte Gutachten ... ist auch unter Berücksichtigung von § 244 Abs. 4 StPO ein neues, zulässiges Beweismittel, da in der früheren Hauptverhandlung kein Sachverständigengutachten eingeholt worden, sondern nur der behandelnde Arzt ... als sachverständiger Zeuge gehört worden ist. Die Einholung eines Gutachtens hätte deshalb seinerzeit nicht abgelehnt werden dürfen.
Die Kammer ist in dem Wiederaufnahmeverfahren ... gestützt auf dieses Gutachten und die Vernehmung der Zeugin ... durch ein beauftragtes Mitglied der Kammer sowie aufgrund des über diese Aussage und nach Exploration der Zeugin ... am 18./19.10.2004 erstatteten aussagepsychologischen Gutachtens der Sachverständigen Priv.Doz. ..., die zu dem Ergebnis gelangte, ein Erlebnisbezug der Darstellung der Zeugin sei nicht belegbar, unter weiterer Berücksichtigung der Ausführungen des rechtsmedizinischen Sachverständigen ... zu der Überzeugung gelangt, dass die Zeugin - aus welchen Motiven auch immer - bedingt durch ihre psychiatrische Erkrankung falsch ausgesagt hat.
Die in jenem Verfahren zum Freispruch ... nötigenden Erwägungen gelten in gleicher Weise uneingeschränkt für das vorliegende Verfahren. Es ist schlechterdings nicht möglich, zu der Überzeugung zu gelangen, die Zeugin, die sämtliche dem Strafverfahren gegen ... zugrundeliegenden angeblichen Straftaten detailreich und phantasievoll erfunden hat, habe seinerzeit im Verfahren gegen ihren Vater die Wahrheit gesagt.
Insbesondere nach dem ausführlichen, überzeugend begründeten rechtsmedizinischen Gutachten Prof. ... ist es nicht nur ausgeschlossen, dass die von der Zeugin geschilderten vier Vergewaltigungen durch ..., sondern auch die angeblichen zahlreichen vorhergehenden Vergewaltigungen durch den Angeklagten, die seit dem 12. Lebensjahr stattgefunden haben sollen, und darüber hinaus ein Abtreibungsversuch durch den Angeklagten mit einem Kleiderbügel nicht zu einer Schädigung des ringförmig angelegten Hymens geführt hätten. Dass aber das Hymen intakt war, hat der Zeuge ... bei seiner Untersuchung am 6.3.1995 festgestellt.
Der Sachverständige führte aus, es sei nicht vorstellbar, dass das Hymen die diversen Penetrierungen unter verschiedenen geometrischen Bedingungen und einen Angriff mit einem Kleiderbügel, der in der von der Zeugin geschilderten Situation nicht "zielgenau" durch die Öffnung des Hymens vorgenommen worden sein könne, unbeschädigt überstanden hätte. Bereits die erste angebliche Vergewaltigung der Zeugin hätte bei der seinerzeit extremen Verletzlichkeit des Hymen, einem Durchmesser der Hymenalöffnung von maximal 12 mm und den Bedingungen eines harten Eindringens in die trockene Vagina des Kindes unter Berücksichtigung seiner Abwehrhaltung zu einem Bruch des Gewebes führen müssen.
Auch die vom Personal des ...hospitals auf Lichtbildern dokumentierten, angeblich von sexuellen Übergriffen ... im Februar und März 1995 herrührenden Hämatome an ... Brust und Beinen seien mit der von der Zeugin ... geschilderten jeweiligen Situation am Tatort nicht vereinbar. Die Symmetrie der Verletzungen spreche entschieden dagegen, dass sie von einem von der Seite her agierenden Täter beigebracht worden seien. Auch seien bei einer tatsächlich stattgefundenen Vergewaltigung die Hämatome anders angeordnet und in der Regel noch weitere Bereiche der Brust und des Oberkörpers betroffen. Im Zusammenhang mit den Selbstverletzungstendenzen der Zeugin ergebe sich zwingend die Feststellung, dass die Hämatome mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit selbst beigebracht seien.
Letztere im Parallelverfahren getroffenen Feststellungen zeigen, dass die Zeugin ..., wenn auch ersichtlich krankheitsbedingt, nicht davor zurückschreckte, von ihr erfundene, andere Personen extrem belastende Schilderungen mit "Fakten" zu untermauern. Auch diese Erkenntnis nötigt zu der Schlussfolgerung, dass sie im Strafverfahren gegen den Angeklagten die Unwahrheit gesagt und deshalb ohne ihre Vernehmung in einer erneuten Hauptverhandlung der Angeklagte freizusprechen ist.
III.
Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 467 StPO, 1, 2 StrEG.