Landgericht Oldenburg
Urt. v. 14.12.2005, Az.: 6 KLs 2/04

Freispruch vom siebenfachen Vorwurf der Vergewaltigung wegen Unglaubwürdigkeit des Opfers aufgrund einer festgestellten emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus

Bibliographie

Gericht
LG Oldenburg
Datum
14.12.2005
Aktenzeichen
6 KLs 2/04
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2005, 49706
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LGOLDBG:2005:1214.6KLS2.04.0A

Verfahrensgang

vorgehend
StA Oldenburg - AZ: 102 Js 24331/04
LG Osnabrück - 29.01.1996 - AZ: 20 KLs (III) 30/95

In der Strafsache
gegen
Herrn ...,
geboren am ...,
wohnhaft ...,
Verteidiger:
Rechtsanwalt ...,
Nebenklägerin:
Frau ...
Nebenklägervertreterin:
Rechtsanwältin ...,
Geschäftszeichen: ...
wegen Vergewaltigung
hat die 1. Große Jugendkammer des Landgerichts in Oldenburg in der Sitzung vom
14.12.2005, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am LG ...
als Vorsitzender,
Richterin am Landgericht ...,
Richterin ...
als beisitzende Richterinnen,
Frau ...,
Herr ...
als Jugendschöffen,
Staatsanwältin ...
als Beamtin der Staatsanwaltschaft,
Justizangestellte ...
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
für Recht erkannt:

Tenor:

Der Angeklagte wird unter Aufhebung des Urteils des Landgerichts Osnabrück vom 29.01.1996 - Az.: 20 KLs (III) 30/95 - freigesprochen.

Die Staatskasse trägt die Kosten des gesamten Verfahrens einschließlich der dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen.

Der Angeklagte ist wegen des durch die strafgerichtliche Verurteilung erlittenen Schadens einschließlich der erlittenen Untersuchungs- und Strafhaft aus der Staatskasse zu entschädigen.

Gründe

(abgekürzt gemäß § 267 Abs. 4 StPO)

I.

Durch die am 18.7.1995 beim Landgericht Osnabrück erhobene Anklage sind dem Angeklagten folgende in P. und anderen Orten in der Zeit von Anfang April 1994 bis zum 04.03.1995 durch sieben selbstständige Handlungen begangene, nach den §§ 177 Abs. 1, 178 Abs. 1, 22, 23, 53 StGB strafbare Verbrechen zur Last gelegt worden, und zwar

1.

Anfang April 1994 in einem auf dem Grundstück seiner Eltern P. abgestellten Wohnwagen der am 04.05.1976 geborenen ... an die Brust gefasst zu haben, obwohl diese dies nicht gewollt und sich hiergegen gewehrt habe;

2.

am 05.05.1994 ... gegen deren Willen dazu gezwungen zu haben, sich auszuziehen, sie anschließend festgehalten, sie rücklings auf den Boden seines Vw-Bullis gedrückt und sodann gegen deren Willen den Geschlechtsverkehr durchgeführt zu haben, wobei es zum Samenerguss außerhalb der Scheide gekommen sei;

3.

um den 14./15.05.1994 ... in deren Zimmer aufgesucht zu haben und, obwohl diese erklärt habe, dass sie keinen Geschlechtsverkehr wolle, ihr Nachthemd hochgerissen, sich ein Kondom übergezogen, die Beine der Geschädigten auseinandergedrückt und sodann den Geschlechtsverkehr in der Scheide durchgeführt zu haben, wobei die Geschädigte versucht habe, ihn wegzudrücken;

4.

am Abend des 7. oder 14.12.1994 erneut in seinem Vw-Bulli in der Nähe von L. mit ... gegen deren Willen geschützten Geschlechtsverkehr durchgeführt zu haben, obwohl diese sich hiergegen gewehrt und ihre Beine zusammengedrückt habe, wobei er den Widerstand der Geschädigten dadurch überwunden habe, dass er ihre Beine auseinandergedrückt und sich von ihr nicht habe wegdrücken lassen;

5.

am 26.12.1994 ... in einem Büro in deren Elternhaus gegen deren Willen an die Brust gefasst und sein Bein zwischen ihre Beine gedrückt zu haben, obwohl sie dies abzuwehren versucht habe;

6.

am 18.02.1995 in einem PKW in der Nähe von Tange versucht zu haben, mit ... gegen deren Willen den Geschlechtsverkehr durchzuführen, wobei er vergeblich ihren Widerstand mit Schlägen gegen die Brust und Beine zu überwinden versucht habe, woraufhin er - auch wegen der Enge im PKW - von seinem Vorhaben habe absehen müssen;

7.

am 04.03.1995 auf einem Feldweg in der Nähe von Neuherbrum in einem PKW mit ... gegen deren Willen den Geschlechtsverkehr durchgeführt zu haben, wobei er ein Kondom benutzt und ihren Widerstand durch Schläge gegen die Brust überwunden habe.

Durch - nach Beschluss des BGH vom 26.9.1996 - rechtskräftiges Urteil des Landgerichts Osnabrück vom 29.01.1996 - Az.: 20 KLs (III) 30/95 - wurde der Angeklagte zu Ziffern 1. und 5. der Anklage freigesprochen, im übrigen jedoch wegen Vergewaltigung in vier Fällen sowie wegen sexueller Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt, die er unter Anrechnung der am 23.2.1995 angeordneten Untersuchungshaft bis zum 19.9.1999 vollständig verbüßt hat.

Auf den Antrag des Angeklagten vom 30.4.2002 hat die erkennende Kammer mit Beschluss vom 23.2.2004 die Wiederaufnahme des Verfahrens angeordnet.

II.

Nach dem Ergebnis der erneuten Hauptverhandlung war der Angeklagte wegen aller Anklagepunkte freizusprechen, da er nach Überzeugung der Kammer die ihm zur Last gelegten Taten nicht begangen hat.

Der Angeklagte hat sämtliche Tatvorwürfe bestritten - wie bereits in dem Verfahren vor dem Landgericht Osnabrück und während der gesamten Strafhaft, weshalb ihm auch eine vorzeitige Entlassung aus dem Strafvollzug gemäß § 57 Abs. 1 StGB zum 19.3.1998 verwehrt worden ist.

Der Angeklagte war vor seiner Inhaftierung bei einem Ölförderungsunternehmen beschäftigt und hatte wegen seiner berufsbedingten, regelmäßig mehrwöchigen Abwesenheit der Zeugin ... - ehemals ... -, einer Stieftochter seiner Schwester ..., sein Zimmer in seinem Elternhaus in P. zur Verfügung gestellt. ... war bei ihren Eltern wegen tätlicher Übergriffe ihres Vaters, ..., im März 1994 ausgezogen. Durch seine der Familie ... gewährte großzügige finanzielle Unterstützung war es dieser erst möglich gewesen, ein Haus in der Nähe der Eltern des Angeklagten zu erwerben, was für die Schwester des Angeklagten besonders wichtig war, da dieser sie und ihre Kinder vor tätlichen Übergriffen des ... häufig in Schutz nahm. Der Angeklagte war wegen seiner großen Hilfsbereitschaft gegenüber jedermann allseits beliebt und anerkannt.

Der Angeklagte erklärte, er habe ... zu dem Vorstellungsgespräch nach Essen begleitet und ihr auch 500 DM zu ihrer 18. Geburtstagsfeier gegeben, wobei er nicht mehr genau wisse, wann er ihr das Geld ausgehändigt habe. Auch habe er ihr, als sie einmal spät allein von einem Diskothekenbesuch nach Hause gekommen sei, Vorhaltungen gemacht und ihr vor Augen geführt, dass ihr Vater sie, die Familie ..., "fertig machen" würde, wenn ihr etwas passiere. Er habe sie auch des öfteren mit seinem Vw-Bulli aus dem ... ...krankenhaus abgeholt, in dessen Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie ... seit einem Selbstmordversuch vom 29.5.1994 behandelt worden war. An den 26.12.1994 könne er sich nicht erinnern und deshalb nicht mehr sagen, wo er sich zur angeblichen Tatzeit aufgehalten habe. Er habe ... auch zweimal zu einer Diskothek begleitet.

Niemals habe er aber die behaupteten sexuellen Übergriffe verübt. Körperlichen Kontakt zu ... oder anderen habe es eher weniger gegeben; das sei in seiner Familie nicht üblich gewesen.

Da die Zeugin ... in dem auf den 20.4.2004 anberaumten Verhandlungstermin mit der Begründung nicht erschienen war, sie sei auf absehbare Zeit krankheitsbedingt nicht vernehmungsfähig, hatte die Kammer mit Beschluss vom 12.5.2004 ein Sachverständigengutachten über ihren Gesundheitszustand eingeholt.

Der Sachverständige Prof. ... ist in seinem ausführlich und überzeugend begründeten Gutachten vom 5.10.2004, das auf der Exploration und psychiatrischen Untersuchung der Zeugin ... am 21.9.2004 sowie auf der Auswertung der Strafakten der Staatsanwaltschaft Osnabrück in den gegen den Angeklagten und ... geführten Strafverfahren beruht, zu dem Ergebnis gelangt, dass die Zeugin - bei grundsätzlich vorhandener Aussagetüchtigkeit ohne Beeinträchtigung des Erinnerungsvermögens - bereits in den Jahren 1994 bis 1996 an einer - auch im Untersuchungszeitpunkt vorliegenden - emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus (F60.31) in einer sehr markanten und typischen Ausprägung litt, das von ihrer seit dem 16. Lebensjahr bestehenden Tendenz zu selbstverletzenden Verhaltensweisen mit tiefen Schnitten in den Unterarmen dominiert gewesen sei, was eine intensive Bindung von sie zu betreuenden und medizinisch und psychiatrisch zu versorgenden Menschen verursacht habe. Bereits damals sei ihr negatives Selbstkonzept begleitet gewesen von massiven Ängsten, von anderen verlassen zu werden.

Menschen mit dieser Störung neigten häufiger als gesunde dazu, durch erfundene, aggressive Geschichten andere zu belasten und sich durch den Vorwurf sexueller Übergriffe auch an nahestehenden Personen dafür zu rächen, von ihnen nicht hinreichend gewürdigt zu sein zugleich mit der Wirkung, selbst als Opfer dazustehen mit einer Scheinerklärung für eigene Lebensschwierigkeiten und psychiatrische Symptome. Wegen des höheren Risikos einer biographischen Legendenbildung angesichts dieser Symptomatik sei eine besonders sorgsame, professionelle Prüfung des Realitätsgehalts ihrer Aussage geboten.

Die Zeugin ... hat bei der wegen des bei ihr vorliegenden psychiatrischen Krankheitsbildes nicht vor der gesamten Kammer im Gerichtssaal, sondern durch ein beauftragtes Mitglied der Kammer am 13.7.2005 in den Rheinischen Kliniken in Bonn durchgeführten Vernehmung - abweichend von der Einlassung des Angeklagten - den der Verurteilung durch das Landgericht Osnabrück zugrundegelegten Sachverhalt in vollem Umfang bestätigt. Die Kammer hat sich ferner durch Vernehmung von Verhörspersonen und der Verlesung ihrer Angaben gegenüber diesen und gegenüber der früheren psychologischen Sachverständigen ... Kenntnis von den früheren Aussagen ... verschafft.

Die Kammer ist davon überzeugt, dass die Zeugin nicht die Wahrheit gesagt hat.

Auffallend war bereits ihr Aussageverhalten, das gekennzeichnet war durch einen ununterbrochenen, gleichförmigen, ohne Emotionen begleiteten Redefluss, der sich eng an die Darstellung der Vorfälle in den Gründen des Urteils des Landgerichts Osnabrück anlehnte. Dabei entstand nicht der Eindruck, dass die Zeugin einen erlebten Sachverhalt, sondern eher einen memorierten Text wiedergab. Sie räumte ein - wie bereits bei ihrer Exploration durch die Sachverständige Dipl.-Psych. ... am 18./19.10.2004 -, ungefähr ein Jahr vor der jetzigen Aussage - bzw. ein halbes Jahr vor der Exploration - den Urteilstext gelesen zu haben, um sich auf eine bevorstehende Vernehmung vorzubereiten in der Meinung, eine Erinnerung unter "Zwang" würde sie nicht "durchhalten", und aus Angst, ihr würde keiner glauben.

Darüber hinaus hat die Zeugin, als sie das ihr angeblich zugefügte schwere Unrecht vor dem Ermittlungsrichter am Amtsgericht P., dem Zeugen ..., am 22.3.1995 erstmals zu Protokoll gab, trotz Belehrung über die Pflicht zu einer wahrheitsgemäßen und vollständigen Aussage schon nach ihren eigenen weiteren Angaben im Rahmen des damaligen Ermittlungs- und Strafverfahrens gelogen.

Denn die Zeugin erwähnte die ihr angeblich zugefügte erste Vergewaltigung vom 5.5.1994 (Ziffer 2. der Anklage) überhaupt nicht und datierte die angebliche Vergewaltigung vom 14./15.5.1994 (Ziffer 3. der Anklage) bewusst einen Monat vor, auf Mitte April, in der (später eingeräumten) Absicht, auf diese Weise die Strafbarkeit des Verhaltens des Angeklagten zu begründen, für das sie die Voraussetzungen bei einer Tatausführung nach ihrem 18. Geburtstag nicht für gegeben gehalten habe.

Ein durch wirklich erlittenes schweres Unrecht traumatisiertes Opfer hätte sich nach Überzeugung der Kammer anders verhalten, nämlich das geschildert, was ihm angetan worden ist, ohne auf juristische Feinheiten Rücksicht zu nehmen.

Es überzeugt außerdem nicht, dass die bei ihrer Aussage 18-jährige, seit einem Jahr in professioneller Betreuung einer Klinik sich befindende und in der unmittelbar bevorstehenden Strafverhandlung gegen ihren Vater wegen von ihr erhobener Vergewaltigungsvorwürfe mit juristischem Beistand durch eine Rechtsanwältin versehene Zeugin der Meinung gewesen sein will, die Vergewaltigung einer Volljährigen sei nicht strafbar, zumal sie davor noch vor der behaupteten Tat am 4.3.1995 in der Klinik gesagt hatte, sie wolle sich durch ihren Onkel ein letztes Mal vergewaltigen lassen, um Beweise gegen ihn zu gewinnen.

Wenn sie schon der Meinung gewesen wäre, die Vergewaltigung einer Erwachsenen sei nicht strafbar, fragt es sich, warum sie dann vor dem Ermittlungsrichter überhaupt die weiteren in Ziffern 4. bis 7. der Anklage genannten Taten geschildert hat, die sämtlichst nach ihrem 18. Geburtstag datieren. Auch überzeugt nicht, dass sie darüber hinaus den am Tag nach ihrem 18. Geburtstag unter doch angeblich recht außergewöhnlichen Umständen geschehenen Übergriff gemäß Ziffer 2. der Anklage (erzwungener Geschlechtsverkehr gegen Aushändigung von 500 DM für ihre Geburtstagsfeier nach gescheitertem vorherigem Versuch, die Zeugin zum Oralverkehr zu zwingen; Jugendliche, die durch das Fenster des Vw-Bullis zuschauen), gerade bei ihrer ersten Vernehmung gar nicht erwähnt hat. Dies überzeugt um so weniger, als sie bei ihrer Vernehmung durch den Ermittlungsrichter gesagt hatte: "Mein Onkel (der Angeklagte) hat mir auch häufig Geld gegeben, damit meine Mutter meint, was für ein netter Kerl er ist, Geldbeträge von 50 oder 100 DM", die Schilderung gerade dieses Übergriffs also auf der Hand gelegen hätte. Ferner hätte es sich nach der berichtigten und der Anklage zugrundeliegenden Aussage bei diesem Vorfall in Essen am 5.5.1994 um die erste Vergewaltigung durch ihren Onkel gehandelt, so dass es völlig unverständlich ist, dass sie diese bei ihrer Vernehmung durch den Zeugen ... und im übrigen zuvor auch bei ihren Äußerungen gegenüber dem Klinikpersonal vollständig hätte vergessen haben können. Dies liegt auch deshalb fern, weil sie kurze Zeit zuvor aus ihrem Elternhaus geflohen war und gerade im Hause Ihrer Großeltern und des Angeklagten ... vor ihrem Vater gesucht hatte. Vor diesem Hintergrund hätte sie am 5.5.1994 durch ihren Onkel doch ganz besonders enttäuscht sein müssen und sich das Ereignis besonders tief hätte einprägen müssen.

Bei den Schilderungen des ersten gewichtigen Übergriffs (zunächst Vergewaltigung im April in der Dachkammer, dann Vergewaltigung Anfang Mai im Vw-Bulli auf dem Parkplatz in Essen) handelt es sich somit nicht nur um eine falsche Datierung, um die Tat in die Zeit vor den 18. Geburtstag zu verlegen, sondern um eine komplett andere Darstellung, deren Unterschiede hinsichtlich des Datums bewusst waren, im übrigen aber auch nicht mit Erinnerungsverlust zu erklären sind.

Die Zeugin hat auch im damaligen Ermittlungsverfahren am 27.4.1995 nicht aus freien Stücken die Datierung der behaupteten Tat im April 1994 "korrigiert", sondern dies erst auf Mitteilung entgegenstehender Zeugenaussagen durch die seinerzeit die Ermittlungen führende Kriminalbeamtin, die Zeugin ..., getan, was sie bei ihrer Exploration durch die Sachverständige Dipl.-Psych. Priv.... am 18./19.10.2004 zugegeben und diesen Grund für die Aussageänderung noch einmal bei ihrer kommissarischen Vernehmung am 13.7.2005 bestätigt hat.

Dass dieses Eingeständnis richtig ist, wird auch durch die damalige Aktenlage, die Gegenstand der Hauptverhandlung gewesen ist, gestützt. Bereits aus einem Vermerk der Zeugin ... vom 11.4.1995 geht hervor, dass sie, die Beamtin, am 10.4.1995 telefonisch vorab von einem durch zwei Zeugen zu bestätigenden Alibi des Angeklagten für den zunächst behaupteten Tatzeitpunkt April 1994 unterrichtet worden war; in einem weiteren Vermerk vom 13.4.1995 heißt es, am 12.4.1995 sei der - von sich aus auf der Dienststelle erschienenen - Zeugin ... "der jetzige Stand der Ermittlungen gegen ihren Onkel mitgeteilt worden" und sie nochmals nachdrücklich auf die Bedeutung ihrer Aussage und die Strafbarkeit einer Falschaussage hingewiesen worden. Auch wenn die Zeugin ... sich bei ihrer Vernehmung im jetzigen Wiederaufnahmeverfahren nicht mehr genau erinnern konnte, was im Einzelnen sie der Zeugin ... über den Ermittlungsstand mitgeteilt hatte, so steht doch fest, dass der Stand der Ermittlungen der war, dass der Übergriff in der Dachkammer im April 1994 nach den bereits bekannten Angaben von ... nicht stattgefunden haben konnte. Ferner bestätigte die Zeugin ..., dass die ... zur weiteren Vernehmung jedenfalls nicht von sich aus, sondern erst nach Vorladung am 27.4.1995 auf der Dienststelle erschienen war.

Auch hinsichtlich ihrer Behauptung, der Angeklagte habe bei dem Vorfall in Essen lange Unterhosen getragen, hat die Zeugin ... ihre Aussage den entgegenstehenden Angaben anderer Zeugen im nachhinein angepasst. Sie habe insoweit in der ersten Hauptverhandlung gegen den Angeklagten vor dem Landgericht Osnabrück am 29.8.1995 bewusst die Unwahrheit gesagt, um ihre früheren Angaben nicht abändern zu müssen und sich dadurch vielleicht unglaubwürdig zu machen. In der zweiten Hauptverhandlung, die vor demselben Gericht in der Zeit vom 28.11.1995 bis 29.1.1996 stattfand, hat sie dies eingeräumt, während sie im jetzigen Wiederaufnahmeverfahren gegenüber der Sachverständigen ... angab, der Angeklagte habe nach ihrer Erinnerung mal kurze und mal lange Unterhosen getragen, ohne erklären zu können, warum sie in den früheren Hauptverhandlungen etwas anderes gesagt hatte.

Auffallend ist auch, dass die Zeugin ... hinsichtlich des letzten Vorfalles - wie der Zeuge Dr. ... bereits in seiner Bescheinigung über die gynäkologische Untersuchung der Zeugin am 27.4.1995 vermerkt hatte und bei seiner Vernehmung durch die Kammer erneut bestätigte - erst in dem Moment, als der Arzt ihr gesagt hatte, die Untersuchung sei ohne Befund, erklärte, der Täter habe ein Kondom benutzt. Der Zeuge konnte sich noch erinnern, dass ihm dies "komisch" vorgekommen sei und er sich "gelinkt" gefühlt habe.

Darüber hinaus findet sich in der von der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie des ... ...krankenhauses geführten Krankenakte ein - mit ersichtlich von dritter Seite - auf den 1.1.1995 datiertes, für die Klinik verfasstes Schreiben der ..., deren Existenz nebst Angaben zum Inhalt zusätzlich in der Pflegedokumentation der Klinik enthalten ist und in dem es unter anderem heißt: "Hallo! Ich weiß echt nicht mehr, was ich machen soll! Das, was ich in Bezug auf meinen Onkel gesagt habe, war falsch. Es stimmt alles bis auf das er mit mir geschlafen hat. So weit ist es noch nicht gekommen. Es tut mir leid, aber ich habe so eine Angst vor ihn!". Die Zeugin führt in dem Schreiben aus, dass sie sich von ihrem Onkel (dem Angeklagten) auf Schritt und Tritt verfolgt fühle, er sie oft und lange besuche und mit sexistischen Hintergedanken rede, und beklagt die zunehmende Abhängigkeit ihrer Familie von ihm. Wörtlich heißt es: "... irgendwie möchte ich die Sache mit meinem Onkel klären und zwar sofort, am besten heute noch! Bevor er wieder weg ist und ich möchte es ihm nicht alleine sagen. Vielleicht ist es bis jetzt noch nicht so weit gekommen, weil er gesehen hat, was mit meinem Vater passiert ist .... Ich sehe ein, dass ich ein Fehler gemacht habe, aber bitte glaubt mir! Ich werde meinem Onkel auch sagen, dass ich euch schon angelogen habe wegen seinem Verhalten". Warum dieser Brief erst jetzt Gegenstand des Verfahrens geworden ist und kein schon früher als Zeuge vernommenes Mitglied des Klinikpersonals diesen im Ursprungsverfahren erwähnt hat, vermochte der Zeuge Chefarzt ... nicht zu erklären.

Die Sachverständige Dipl.-Psych. Priv.... ist aufgrund ihrer Exploration der Zeugin ... am 18./19.10.2004 und den Wahrnehmungen in der Hauptverhandlung zu dem Ergebnis gelangt, dass ein Erlebnisbezug der Darstellung der Zeugin nicht belegbar sei. Zwar sei ein zeitweiliger Aussagewiderruf allein hierfür nicht ausschlaggebend, ebensowenig wie unterschiedliche Angaben von Geschädigten zur Kleidung des Täters, die häufig durch ungenaue Erinnerungen erklärbar seien. Im vorliegenden Fall kämen jedoch so viele Auffälligkeiten zusammen (u.a. eine recht stereotype Beschreibung sexueller Handlungen; die gegenüber der damaligen Krankenschwester ..., der - inzwischen verehelichten - Zeugin ..., geäußerte Absicht, sich zu Beweiszwecken noch einmal vergewaltigen zu lassen; von taktischen Überlegungen hinsichtlich der Bestrafung des Angeklagten geleitete Angaben u.v.m.), dass von einem Erlebnisbezug nicht ausgegangen werden könne. Auch der Sachverständigen ist zudem aufgefallen, dass die Zeugin die angelasteten Übergriff nahezu identisch detailreich wiederholen konnte, bei Nachfragen zu Details, zu denen sie bisher nichts ausgesagt hatte, aber sehr vage blieb.

Bestätigt wird die Einschätzung, dass ... die Übergriffe erfunden hat, durch das rechtsmedizinische Gutachten Prof. Dr..., der mit ausführlicher, überzeugender Begründung es ausgeschlossen hat, dass die von der Zeugin geschilderten vier Vergewaltigungen durch den Angeklagten sowie zahlreiche weitere Vergewaltigungen durch ihren Vater seit dem 12. Lebensjahr und einen Abtreibungsversuch des Vaters mit einem Kleiderbügel stattgefunden haben, ohne dass dabei das ringförmig angelegte Hymen beschädigt worden wäre, wie der Zeuge ... bei seiner Untersuchung am 6.3.1995 festgestellt hat. Es sei nicht vorstellbar, dass das Hymen die diversen Penetrierungen unter verschiedenen geometrischen Bedingungen und einen Angriff mit einem Kleiderbügel, der ggfls. sicher nicht "zielgenau" durch die Öffnung des Hymens vorgenommen worden sei, unbeschädigt überstanden hätte. Auch die vom Personal des Marienhospitals auf den Lichtbildern dokumentierten Hämatome an ... Brust und Beinen seien mit der geschilderten örtlichen Situation bei den angeblichen Übergriffen vom 18.2. und 4.3.1995 nicht vereinbar. Die Symmetrie der Verletzungen spreche entschieden dagegen, dass sie von einem von der Seite her agierenden Täter beigebracht worden seien. Auch seien bei einer tatsächlich stattgefundenen Vergewaltigung die Hämatome anders angeordnet und in der Regel noch weitere Bereiche der Brust und des Oberkörpers betroffen.

Insgesamt lässt das Ergebnis der Beweisaufnahme nur den Schluss zu, dass die Zeugin ... den Angeklagten zu Unrecht belastet hat, wobei mehrere Motive hierfür in Betracht kommen (Bindung und Sicherung der Zuwendung des therapeutischen Personals in der Klinik; Perpetuierung der eigenen Opferrolle; Ausschaltung eines unliebsamen Skeptikers hinsichtlich ihrer gegen ihren Vater erhobenen Vorwürfe; Eifersucht auf die damalige Freundin des Angeklagten, die Zeugin ..., in Verbindung mit eigenen sexuellen Frustrationserlebnissen).

III.

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 467 StPO, 1, 2 StrEG.