Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 22.04.2010, Az.: L 10 VG 12/08

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
22.04.2010
Aktenzeichen
L 10 VG 12/08
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2010, 17656
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2010:0422.L10VG12.08.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Braunschweig - 15.08.2008 - AZ: S 12 VG 2/06

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 15. August 2008 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zusteht.

2

Die 1957 in I. geborene Klägerin hat nach ihrem Vorbringen nach Erreichen der Mittleren Reife im Alter von etwa 15 Jahren eine Ausbildung zur Auslandwirtschaftskorrespondentin in J. durchlaufen und sich in den Folgejahren wiederholt in England, Frankreich und Indien aufgehalten. In England hat sie nach ihren Angaben eine weitere Ausbildung zur Krankenschwester absolviert. Schließlich hat sie in Deutschland eine weitere Ausbildung im Bereich Altenpflege abgeschlossen und nach ihrem Vorbringen bis August 2003 in diesem Bereich gearbeitet. Neben der beruflichen Tätigkeit hat sie wohl bis in das Jahr 2003 hinein ihre Großmutter bis zu deren Tod gepflegt. Inzwischen bezieht die Klägerin Erwerbsminderungsrente.

3

Im Juli 2005 beantragte die Klägerin bei dem Versorgungsamt Braunschweig die Gewährung von Versorgungsleistungen nach Maßgabe der Vorschriften des OEG. Sie machte hierbei geltend, unter einem posttraumatischen Belastungssyndrom, einer dissoziativen Identitätsstörung, Depressionen, einer Angststörung, Erinnerungsschmerzen, Migräne, chronischer Gastritis, Darmstörungen und massiven Schlafstörungen zu leiden. Ein Verlassen der Wohnung sei ihr nicht mehr möglich. Als daraus resultierende Beeinträchtigungen lägen Programmierungen vor. Trigger und Flash-backs verstärkten sich. Die Klägerin führte die Gesundheitsstörungen darauf zurück, dass sie bereits seit frühester Kindheit im Rahmen pseudosatanischer Rituale einer Sekte misshandelt und missbraucht worden sei. Hieran seien insbesondere ihr Großvater mütterlicherseits und ein Pastor beteiligt gewesen. Erst im Alter von etwa 25 Jahren sei ihr die Flucht aus der Sekte gelungen. Die Pflege und der Tod der Großmutter seien Auslöser der jetzigen Situation gewesen.

4

Der wegen der behaupteten Tatorte im Bereich I. örtlich zuständige Beklagte zog medizinische Unterlagen der behandelnden Ärzte der Klägerin bei und lehnte dann die Gewährung von Beschädigtenversorgung mit Bescheid vom 30. September 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Januar 2006 ab. Der Nachweis sei nicht erbracht, dass die geltend gemachten gesundheitlichen Schädigungen durch vorsätzliche rechtswidrige Angriffe entstanden seien. Die an der Richtigkeit der Schilderung der Klägerin bestehenden Zweifel hätten sich nicht ausräumen lassen, sodass der Nachweis von Taten i.S. des § 1 OEG nicht erbracht worden sei.

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Dagegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Braunschweig erhoben und die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von wenigstens 50 v.H. begehrt. Zur Begründung hat sie wiederholt, dass sie im Kindes- und Jugendalter bis etwa zu ihrem 25. Lebensjahr Opfer zahlreicher sexueller Missbrauchshandlungen und Vergewaltigungen sowohl durch den Großvater als auch durch unbekannte Täter im Rahmen eines Satanskultes geworden sei. Der Nachweis der schädigenden Handlungen sei auch dadurch möglich, dass Krankheitsbilder vorlägen, die zwingend den Rückschluss zuließen, dass sie auf sexuellen Missbrauchshandlungen beruhten. So sei es in ihrem Fall. Sie leide an einer chronifizierten posttraumatischen Belastungsstörung auf dem Hintergrund komplexer langjähriger Traumatisierungen. Dies ergebe sich insbesondere aus der Einschätzung der behandelnden Ärzte. Sie leide auch unter Flash-backs, die Missbrauchshandlungen zum Inhalt hätten. Alternative Ursachen für das Krankheitsbild bestünden nicht. Im Übrigen sei es ihr auch nicht möglich, konkretere Angaben zu den Tatvorgängen und zu den handelnden Personen zu machen. Sie befürchte, dass es aufgrund von Programmierungen durch die Sekte zu einer Selbsttötung kommen werde, wenn sie weitergehende Angaben mache.

6

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 15. August 2008 als unbegründet abgewiesen. Es hat sich im Ergebnis der Auffassung des Beklagten angeschlossen, dass eine Gewalttat nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sei. Zugunsten der Klägerin greife auch nicht die Beweiserleichterung von § 15 KOV-VerfG ein. Die Angaben der Klägerin seien zu einer Überzeugungsbildung des Gerichts nicht geeignet. Sie habe keine hinreichend konkreten Angaben zu den Taten gemacht.

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Gegen das ihr am 1. September 2008 zugestellte Urteil wendet sich die am 26. September 2008 bei dem Landessozialgericht eingegangene Berufung der Klägerin. Sie verfolgt den geltend gemachten Anspruch weiter und vertritt ergänzend zu ihrem erstinstanzlichen Vorbringen die Auffassung, dass die Beweiserleichterung des § 15 KOV-VerfG durchaus zu ihren Gunsten eingreife. Hierfür reiche es aus, wenn ein die angeschuldigten Taten betreffender schlüssiger und widerspruchsfreier Vortrag vorliege. Dass bei ihr Erinnerungslücken bestünden, sei bei dissoziativen Identitätsstörungen häufig und stehe der Beweiserleichterung nicht entgegen. Das Sozialgericht habe im Übrigen außer Acht gelassen, dass eine ihrer Halbschwestern wegen der Traumatisierungen in der Sekte Selbstmord begangen habe. Dies sei ein Indiz dafür, dass auch sie jahrelanges Opfer von Missbrauchshandlungen und Vergewaltigungen gewesen sei. Im Übrigen sei die dissoziative Identitätsstörung die psychobiologische Antwort auf schwere wiederholte Traumatisierung im Kindesalter, häufig in Form von sexueller Gewalt, zumeist verbunden mit körperlicher und emotionaler Misshandlung und schwerer Vernachlässigung. Aus diesem Krankheitsbild könne auf das Vorliegen von Taten i.S. des § 1 OEG geschlossen werden.

8

Die Klägerin beantragt,

9

1. das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 15. August 2008 und den Bescheid des Beklagten vom 30. September 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Januar 2006 aufzuheben,

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2. den Beklagten zu verurteilen, Schädigungsfolgen nach § 1 OEG festzustellen und ihr deswegen Beschädigtenversorgung nach einem Grad der Schädigungsfolgen von wenigstens 50 zu gewähren.

11

Hilfsweise werden folgende Beweisanträge gestellt:

12

1.) Zu der Behauptung, die Klägerin leide unter einer dissoziativen Identitätsstörung:

13

a) Zeugnis der Psychotherapeutin Frau Dr. K., L.,

14

b) Zeugnis der Stationsärztin M. der Klinik N., O.,

15

c) Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens gemäß §§ 103, 106 SGG,

16

d) Einholung eines traumatologischen Sachverständigengutachtens gemäß §§ 103, 106 SGG,

17

2.) Zu der Behauptung, die dissoziative Identitätsstörung der Klägerin basiere auf komplexen langjährigen Traumatisierungen in der Kindheit, an denen verschiedene Täter beteiligt waren:

18

a) Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens gemäß §§ 103, 106 SGG,

19

b) Einholung eines traumatologischen Sachverständigengutachtens gemäß §§ 103, 106 SGG,

20

c) Zeugnis der Stationsärztin M., b.b.,

21

d) Zeugnis der Psychotherapeutin Frau Dr. K., b.b.

22

3.) Zu der Behauptung, das Krankheitsbild einer dissoziativen Identitätsstörung setze zwingend voraus, dass die Erkrankte, so auch die Klägerin, innerhalb der ersten sechs Lebensjahre schwerste, mehrfache traumatische Erfahrungen gemacht habe:

23

Beweis:

24

a) Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens gemäß §§ 103, 106 SGG,

25

b) Einholung eines traumatologischen Sachverständigengutachtens gemäß §§ 103, 106 SGG,

26

c) Zeugnis der Therapeutin P., Q.,

27

4.) Angesichts des bestehenden Zeitdruckes in der Berufungsverhandlung nehme ich im übrigen Bezug auf die Beweisanträge:

28

a) aus dem Schriftsatz vom 02.12.2008, Seite 7, dort alle 6 Beweisanträge,

29

b) aus dem Schriftsatz vom 02.12.2008, Seite 8, dort alle 3 Beweisanträge,

30

c) aus dem Schriftsatz vom 02.12.2008, Seite 9, dort alle 6 Beweisanträge,

31

d) aus dem Schriftsatz vom 02.12.2008, Seite 10, dort alle 4 Beweisanträge,

32

e) aus dem Schriftsatz vom 02.12.2008, Seite 11, dort alle 5 Beweisanträge,

33

f) aus dem Schriftsatz vom 02.12.2008, Seite 12, unten,

34

g) aus dem Schriftsatz vom 02.12.2008, Seite 13, oben,

35

h) aus dem Schriftsatz vom 23.03.2009, Seite 1, unten,

36

k) aus dem Schriftsatz vom 23.03.2009, Seite 2, alle 4 Beweisanträge.

37

5.) Zu der Behauptung, die Angaben der Klägerin zum Tatgeschehen sind glaubhaft und die Klägerin selbst ist glaubwürdig:

38

Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens gemäß §§ 103, 106 SGG.

39

Der Beklagte beantragt,

40

die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 15. August 2008 zurückzuweisen.

41

Er hält das angefochtene Urteil und die mit ihm überprüften Bescheide für zutreffend. Unter Wiederholung seines erstinstanzlichen Vortrags weist er darauf hin, dass das Vorliegen bestimmter Gesundheitsstörungen nicht den Rückschluss auf zugrunde liegende schädigende Handlungen zulasse. Im Übrigen sei auch zum jetzigen Zeitpunkt kaum noch mit hinreichender Sicherheit feststellbar, ob die Angaben der Klägerin ausschließlich auf Erlebnissen beruhten oder womöglich durch wiederholte Thematisierung in therapeutischem Zusammenhang verändert worden seien.

42

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

43

Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist jedoch nicht begründet. Das Sozialgericht hat zu Recht festgestellt, dass die Voraussetzungen weder für die Anerkennung von Schädigungsfolgen noch für die Gewährung von Versorgungsleistungen gegeben sind. Auch nach Auffassung des erkennenden Senats steht der Klägerin ein Anspruch nach § 1 OEG i.V.m. den Vorschriften des BVG nicht zu.

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Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG Versorgung, wer infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Hierbei müssen das schädigende Ereignis und die gesundheitlichen Störungen in dem Sinne nachgewiesen sein, dass kein vernünftiger, die Lebensverhältnisse klar überschauender Mensch noch zweifelt. Die ursächliche Beziehung zwischen dem schädigenden Ereignis und der Gesundheitsstörung muss hingegen nur wahrscheinlich sein (vgl. BSG, Urteil vom 15. Dezember 1999, Az.: B 9 VS 2/98 R, SozR 3-3200 § 81 Nr. 16).

45

Nach diesen Maßstäben kann der Senat sich nicht die Überzeugung bilden, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs i.S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG geworden ist. Objektive Beweismittel oder Indizien für stattgehabte Angriffe fehlen.

46

Insbesondere kann entgegen der Auffassung der Klägerin aus den bei ihr vorliegenden Gesundheitsstörungen nicht mit der erforderlichen Sicherheit darauf geschlossen werden, dass die Klägerin Opfer eines schädigenden Ereignisses i.S. von § 1 OEG geworden ist. Deshalb bedarf es einer Beweisaufnahme über die genaue diagnostische Einordnung der bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörung nicht. Einerseits scheint in der medizinischen Wissenschaft umstritten zu sein, ob selbst intrusive Flash-backs immer eine Erinnerung an eigenes Erleben voraussetzen. Ein Rückschluss auf ein schädigendes Ereignis ist ungeachtet dessen selbst dann nicht möglich, wenn und soweit der Senat zugunsten der Klägerin als richtig unterstellt, dass das Vorliegen einer dissoziativen Identitätsstörung den zwingenden Rückschluss auf in der frühen Kindheit des Betroffenen liegende schwerste, mehrfache traumatische Erfahrungen zulässt, was der Senat deshalb dahingestellt bleiben lassen kann. Selbst wenn demnach zugunsten der Klägerin davon ausgegangen werden müsste, dass bei ihr frühe schwerste mehrfache traumatische Erfahrungen vorgelegen haben müssen, spricht aus der bloßen Diagnose nichts dafür, dass es sich dabei genau um die von ihr behaupteten Erfahrungen gehandelt haben muss. Denn nur zu den von der Klägerin behaupteten Erfahrungen hat der Beklagte in seinen Bescheiden eine Entscheidung getroffen, so dass andere als die von den Bescheiden geregelten Komplexe nicht zum Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreites gemacht werden können. Aber selbst soweit der Senat auch darüber hinwegsieht, kann aus seiner Sicht aus dem Umstand des Vorliegens früher schwerster mehrfacher traumatischer Erfahrungen nicht zwingend darauf geschlossen werden, dass diesen Traumen tätliche Angriffe i.S. des § 1 Abs. 1 OEG zugrunde gelegen haben. Vielmehr sind auch solche Traumen denkbar, die nicht zu dem von § 1 Abs. 1 OEG umfassten Schutzbereich gehört haben.

47

Dabei verkennt der Senat nicht, dass nach Literaturangaben in Fällen dissoziativer Identitätsstörungen in bis zu mehr als 90 v.H. der Fälle sexueller Missbrauch in der Vorgeschichte angegeben wird. Ob daraus tatsächlich der Schluss gezogen werden kann, dass in mehr als 90 v.H. der Fälle dissoziativer Identitätsstörungen ein sexueller Missbrauch vorgelegen hat und dass darüber hinaus eine ursächliche Beziehung zwischen letzterem und der Gesundheitsstörung besteht, kann der Senat jedoch dahingestellt lassen. Selbst soweit er zugunsten der Klägerin davon ausgeht, lässt sich damit nur eine statistische Wahrscheinlichkeit für eine kindliche Traumatisierung der Klägerin durch sexuelle Gewalt ableiten, die das Ausmaß eines Vollbeweises aber nicht erreicht. Sie lässt nicht jeden Zweifel daran verstummen, dass die Gesundheitsstörung der Klägerin womöglich doch andere - Teil - Ursachen haben könnte (vgl. auch Urteil des Senats vom 19. November 2009, Az.: L 10 VG 14/07, m.w.N.). So würde bereits ein Teil der von der Klägerin geschilderten Vorfälle im Zusammenhang mit den kultischen Veranstaltungen - ihr tatsächliches Vorliegen zugunsten der Klägerin unterstellt - eher nicht als tätlicher Angriff i.S. des § 1 OEG anzusehen sein. Es kann dabei keinem Zweifel unterliegen, dass das Zusehen beim Geschlechtsverkehr mit Hunden, das Wegnehmen, Töten und Aufessen von Haustieren, das Essen von Insekten, Würmern und zerstückelten Kleintieren oder das Zusehen beim Essen von abgetriebenen Föten ebenso widerwärtig wie - gerade für ein kleines Kind - belastend gewesen sein müssten. Als tätlicher Angriff sind solche Erlebnisse jedoch nicht zu qualifizieren. Im Hinblick auf die von der Klägerin im Zusammenhang mit den Sommeraufenthalten in Camps geschilderten "Abhärtungen und Misshandlungen anderer" erscheint dies mindestens zweifelhaft. Im Übrigen wird in der Literatur (vgl. nur Gast, "Diagnostik und Behandlung dissoziativer Störungen" in Lamprecht, Einführung in die Traumatherapie) darauf hingewiesen, dass womöglich auch eine Korrelation zwischen Vernachlässigung und elterlicher Dysfunktion und dem Auftreten gravierender dissoziativer Störungen besteht. Auch Vernachlässigungen und elterliche Dysfunktion müssen nicht zwingend tätliche Angriffe sein. Tätliche Angriffe sind regelmäßig nur solche Handlungen, die unmittelbar auf eine Einwirkung auf die körperliche Unversehrtheit und/oder Bewegungsfreiheit abzielen. Ob womöglich auch andere Ereignisse, die sicher nicht tätliche Angriffe waren, die Klägerin nachhaltig traumatisiert haben, muss der Senat im Hinblick darauf nicht weiter prüfen. Dies gilt etwa für den von der Klägerin geschilderten Zwischenfall im Zusammenhang mit einer Mandel-Operation im Alter von etwa vier Jahren.

48

In dem Zusammenhang mit der Prüfung der Frage, ob etwa aus den jetzt vorliegenden Gesundheitsstörungen auf bestimmte Erlebnisse in der Kindheit der Klägerin geschlossen werden kann, ist darüber hinaus zu beachten, dass die Folgen der von der Klägerin behaupteten Erlebnisse sie wohl bis mindestens Mitte 2003 nicht daran hinderten, mehrere Berufsausbildungen erfolgreich abzuschließen und einer geregelten Erwerbstätigkeit nachzugehen. Damit liegt entgegen der Einschätzung der Klägerin die Vermutung nahe, dass wenigstens ein Teil der jetzt vorliegenden Gesundheitsstörungen auf einer anderen unmittelbaren Ursache beruht als den angeschuldigten Taten in ihrer Kindheit und Jugend. Selbst wenn diese möglichen anderen Ursachen letztlich mit den angeschuldigten Taten in Verbindung gestanden haben könnten, lässt sich ein Rückschluss aus dem aktuellen Krankheitsbild auf eine oder mehrere im Rahmen des § 1 OEG relevante Ereignisse sicher nicht ziehen.

49

Ebenso wenig ist auch das Stellen der Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung zum Nachweis des Vorliegens eines - bestimmten - Traumas geeignet. Insoweit gelten die vorstehenden Erwägungen entsprechend. Hinzu kommt, dass die Diagnosestellung ihrerseits den objektiven Nachweis eines Traumas als Ursache der für ein derartiges Leiden typischen, im Übrigen aber unspezifischen gesundheitlichen Auffälligkeiten nicht erfordert. Weil regelmäßig ein objektiver Nachweis eines Traumas im Zusammenhang mit einer solchen Diagnosestellung weder möglich noch erforderlich ist, beweist die Diagnose aus der Sicht des Senats lediglich den Umstand, dass der Diagnosesteller ein Trauma als Ursache der Beschwerden für plausibel gehalten und der Klägerin ihre diesbezüglichen Schilderungen geglaubt hat.

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Schließlich ist auch der - von der Klägerin bisher nur behauptete - Selbstmord einer ihrer Halbschwestern zum Nachweis von Missbrauchshandlungen gegenüber der Klägerin nicht geeignet. Selbst wenn - wofür der Senat bisher keinen greifbaren Anhaltspunkt hat und was infolge des Versterbens der Halbschwester der Klägerin auch nicht mehr aufklärbar ist - die Halbschwester der Klägerin ihrerseits davon ausgegangen sein sollte, dass sie in ihrer Kindheit Opfer sexueller Gewalt geworden ist, würde dies einen solchen Missbrauch ihr gegenüber ebenso wenig beweisen können, wie die Aussage der Klägerin einen ihr gegenüber stattgehabten Missbrauch beweisen kann.

51

Verbleibt es insoweit allein bei der Aussage der Klägerin zum Nachweis der schädigenden Ereignisse, so kann diese insbesondere unter den Voraussetzungen des § 15 KOV-VerfG der Entscheidung des Gerichts zugrunde gelegt werden. Insoweit lässt der Senat ausdrücklich dahingestellt, ob die genannte Vorschrift im vorliegenden Fall überhaupt Anwendung finden kann. Denn an sich setzt die Vorschrift eine objektive Beweislosigkeit voraus, während im Fall der Klägerin andere Beweismittel als ihre Aussage auch nach ihrer Einlassung vorhanden - allerdings für den Senat nicht nutzbar - sind. Die Klägerin hat nicht behauptet, dass alle Täter und etwaigen Zeugen der Taten inzwischen bereits verstorben sind. Auch hat sie nicht behauptet, dass ihr die Namen aller Täter unbekannt sind. Durch eine Benennung der Namen von Tätern und Zeugen sowie durch die Angabe weiterer Details könnte deshalb eine weitere Aufklärung des Sachverhaltes durch andere Beweismittel in Betracht kommen, was an sich die Anwendung des § 15 KOV-VerfG ausschließt. Ob wirklich die bisher durch keine objektiven Gesichtspunkte gestützte Sorge der Klägerin, im Falle der Benennung weiterer Details oder der Namen von Tätern Nachteile zu erleiden, für einen Verzicht auf eine weitergehende Beweisaufnahme ausreicht, erscheint dem Senat nicht selbstverständlich. Diese Rechtsfrage muss der Senat im vorliegenden Fall aber nicht abschließend entscheiden.

52

Selbst soweit der Senat die Vorschrift des § 15 KOV-VerfG zugunsten der Klägerin anwendet, führt dies nicht zu einem für sie günstigeren Ergebnis. Denn danach kann von den Angaben eines Antragstellers nur ausgegangen werden, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Glaubhaftmachen i.S. des § 15 KOV-VerfG ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts das Dartun überwiegender Wahrscheinlichkeit, d.h. der guten Möglichkeit, dass der Vorgang sich so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Auch insoweit reicht die bloße Möglichkeit nicht aus. Erforderlich ist vielmehr, dass bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001, Az.: B 9 V 23/01 B, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4).

53

Nach diesem Maßstab erscheint es dem Senat auch nicht relativ am wahrscheinlichsten, dass die Klägerin die von ihr geschilderten Geschehnisse tatsächlich erlebt hat. Hierbei sind für den Senat im Wesentlichen fünf Gesichtspunkte von Bedeutung, die jeder für sich, erst recht aber in der Summe dagegen sprechen, dass die Schilderungen der Klägerin einen ausreichend sicheren Realitätsbezug haben, so dass die Überzeugungsbildung des Senates darauf gestützt werden könnte.

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Zunächst ist bereits die Schilderung der Klägerin äußerst vage, wenig präzise und eher allgemein gehalten. Sie nimmt nicht auf konkrete einzelne - insbesondere sie persönlich betreffende - Vorkommnisse Bezug, sondern beschränkt sich im Wesentlichen auf die Wiedergabe sehr allgemein bleibender Handlungstypologien. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf ihre Schilderungen der Ereignisse im Zusammenhang mit den abendlichen satanischen Ritualen und zu den Vorkommnissen während der Camp-Aufenthalte. Die Schilderungen lassen nicht erkennen, ob und gegebenenfalls in welcher Form die Klägerin selbst von den Geschehnissen betroffen oder ob sie nur gleichsam Zuschauerin gewesen ist. Soweit sich die Darstellungen der Klägerin in Zusammenhang mit dem Antrag auf Entschädigung auf Ereignisse im Haus ihres Großvaters beziehen, wird zwar deutlich, dass sie selbst in der Opferrolle an den Handlungen beteiligt war. Zugleich beschreibt sie aber die behaupteten mit ihr vorgenommenen sexuellen Handlungen selbst mit keinem Wort. Anderweitige Tatschilderungen der Klägerin fehlen völlig. Insbesondere lassen sich weder aus den Ausführungen in den Stellungnahmen der Neurologin und Psychiaterin Dr. K. noch in dem Reha-Entlassungsbericht der Klinik N. konkrete weitere Erkenntnisse gewinnen. Darin werden die Schilderungen der Klägerin vielmehr nur sehr pauschal und allgemein angedeutet.

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Zweitens sind bereits nach der Einlassung der Klägerin ihre Erinnerungen an die Zeiträume der behaupteten Missbrauchserlebnisse lückenhaft. Sie ist sich darüber auch bewusst und spricht in diesem Zusammenhang von "Auslöschungen". Damit meint sie offensichtlich, dass durch Einflussnahme von außen für sie bestimmte Gedächtnisinhalte nicht verfügbar sind. Sind aber nur Teile des Gedächtnisinhaltes überhaupt verfügbar, so lässt sich allein auf diese Fragmente gestützt ein zuverlässiges Bild der realen Erlebnisse der Klägerin nicht gewinnen.

56

Diese Unsicherheit wird weiter dadurch gesteigert, dass anhand der Schilderungen der Klägerin erkennbar ist, dass sie auch Angaben zu Umständen macht, an die sie sich nicht erinnert. Ausweislich des Entlassungsberichtes der Klinik N. vom 21. Februar 2005 hat die Klägerin dort im Zusammenhang mit der Anamneseerhebung ausgeführt, sie habe wahrscheinlich mehrere Schwangerschaften durchgemacht, die entweder in Aborten oder in eingeleiteten Geburten geendet hätten. Zugleich hat sie aber eingeräumt, dass sie das nicht mehr genau wisse.

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Gegen die Glaubhaftigkeit der Aussagen der Klägerin spricht darüber hinaus, dass sie erklärtermaßen nicht ihren gesamten Gedächtnisinhalt offenbart, sondern bestimmte Umstände und insbesondere die Namen von beteiligten Personen aus Angst verschweigt. Sind ihre Ängste tatsächlich so groß, dass sie nur Teile des Gedächtnisinhaltes offenbart, so ist die Vermutung nicht von der Hand zu weisen, dass sie möglicherweise andere Teile des Gedächtnisinhaltes aus demselben Grund verfälscht darstellt.

58

Schließlich ist, und darauf hat der Beklagte bereits im erstinstanzlichen Verfahren hingewiesen, die Aussage der Klägerin erst zu einem Zeitpunkt erfolgt, zu dem sie sich wegen der streitgegenständlichen Gesundheitsstörungen bereits in Therapie befand. Insoweit ist nicht auszuschließen, dass etwa im Zusammenhang mit den therapeutischen Bemühungen Gedächtnisinhalte erzeugt oder verändert worden sind.

59

Entgegen der Auffassung der Klägerin ist die Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens in dieser Situation nach Auffassung des Senats nicht geboten. Zunächst ist nicht etwa in jedem Fall der Anwendung von § 15 KOV-VerfG die Einholung eines solchen Gutachtens erforderlich. Vielmehr kann und muss das Gericht zunächst die Erklärung der Klägerin selbst zur Kenntnis nehmen und bewerten. Ein aussagepsychologisches Gutachten ist - jedenfalls - dann nicht einzuholen, wenn - wie im vorliegenden Fall - die Aussage so vage und unklar ist, dass sie zu der Anerkennung des streitigen Anspruchs selbst dann nicht führen würde, wenn sie als wahr unterstellt wird. Denn ein derartiges Gutachten kann nicht dazu dienen, überhaupt erst eine inhaltlich verwertbare Aussage eines Beteiligten zu erhalten. Es geht vielmehr um die Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, d. h. einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 1999, Az.: 1 StR 618/98, NJW 1999, 2746-2751). Die bisherigen Aussagen der Klägerin beziehen sich aber, wie bereits dargestellt, praktisch in ihrer Gesamtheit gar nicht auf bestimmte Geschehen, sondern geben allenfalls allgemeine Erlebnismuster wieder. Fehlen deswegen einzelfallbezogene Detailschilderungen, ergeben sich auch bereits im Übrigen erhebliche Bedenken an der Richtigkeit der Aussagen und liegen zudem keine Vergleichsaussagen aus einer vor Beginn einer Psychotherapie gelegenen Zeit vor, so kann das Gericht ohne die Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens die Annahme einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit des geschilderten Erlebens ablehnen. Insoweit bestehen mehr als "gewisse Zweifel" daran, dass die Vorgänge sich wie geschildert zugetragen haben. Diese könnten auch dadurch nicht beseitigt werden, dass etwa ein aussagepsychologisches Gutachten zu dem Ergebnis käme, dass es gewichtige Gesichtspunkte gegen einen Realitätsbezug der Schilderungen der Klägerin nicht zu benennen vermag.

60

Im Hinblick darauf muss der Senat dem Umstand nicht weiter nachgehen, dass auch nach der Einlassung der Klägerin wohl ein erheblicher Teil der behaupteten Taten vor dem 16. Mai 1976 gelegen haben muss, so dass eine Versorgung wegen der Folgen dieser Taten nur unter den erweiterten Voraussetzungen des § 10a OEG in Betracht kommen kann. Deshalb kann der Senat dahingestellt lassen, welche Auswirkungen auf die Entscheidung der Umstand haben könnte, dass womöglich eine klare Differenzierung zwischen den Folgen der Taten vor dem 16. Mai 1976 einerseits und den Folgen der Taten nach dem 15. Mai 1976 andererseits nicht durchzuführen ist.

61

Ob es sich bei den im Termin der mündlichen Verhandlung am 22. April 2010 gestellten Hilfsanträgen zu 4. um über ihre verfahrensmäßige Bedeutung hinaus ernst zu nehmende Anträge handelt oder lediglich um eine durch Aufzählung aller im vorbereitenden zweitinstanzlichen Verfahren bereits vorgebrachten Beweisanregungen bloß ausführliche Bezugnahme auf das gesamte schriftsätzliche Vorbringen, muss der Senat ebenso wenig entscheiden wie die Frage, ob es sich insoweit um prozessordnungsgemäße Beweisanträge handelt (vgl. dazu BSG, Beschluss vom 8. Dezember 2009, Az.: B 5 R 148/09). Über die vorstehenden materiellen Erwägungen hinausgehende Ausführungen zu den Hilfsanträgen hält der Senat in diesem Zusammenhang jedoch für entbehrlich (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 9. Auflage, § 136 RdNr. 7a), weil er sich mit dem gesamten schriftsätzlichen Vorbringen der Klägerin bereits im vorbereitenden Verfahren gedanklich auseinandergesetzt hat, ohne dass es ihm Anlass zu weiteren Maßnahmen im Sinn von §§ 103, 106 SGG gegeben hätte. Die bloße Wiederholung des Vorbringens bei unveränderter Sach- und Rechtslage und unveränderter Einschätzung derselben durch den Senat gibt deshalb auch keine Veranlassung, das Beweisanerbieten nunmehr für entscheidungserheblich zu halten.

62

Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung der §§ 183, 193 SGG.

63

Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.