Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 21.04.2010, Az.: L 2 R 605/09
Anspruch auf Leistungen für Kindererziehung; Ausschluss für adoptierte Kinder; Verfassungsmäßigkeit
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 21.04.2010
- Aktenzeichen
- L 2 R 605/09
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2010, 17655
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2010:0421.L2R605.09.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hannover - 16.11.2009 - AZ: S 1 R 421/09
Rechtsgrundlagen
- Art. 3 Abs. 1 GG
- Art. 6 Abs. 1 GG
- § 56 SGB VI
- § 294 SGB VI
Redaktioneller Leitsatz
Schon der Wortlaut von § 294 SGB VI bringt klar zum Ausdruck, dass die dort normierten Leistungen für Kinderziehung für vor 1921 geborene Mütter nur von leiblichen Müttern in Anspruch genommen werden können. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die vom Gesetzgeber vorgenommene Beschränkung des Anspruchs auf leibliche Mütter sind nicht gegeben. [Amtlich veröffentlichte Entscheidung]
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die 1917 geborene Klägerin begehrt Leistungen für Kindererziehung gemäß § 294 SGB VI für ihre 1942 geborene Adoptivtochter J. K ... Der zwischen der Tochter und der Klägerin und ihrem Ehemann am 16. Januar 1962 abgeschlossene notariell beurkundete Kindesannahmevertrag ist mit Beschluss des Amtsgerichts Hannover vom 20. Februar 1962 gerichtlich bestätigt worden.
Nachdem die Beklagte einen entsprechenden Antrag bereits im Jahr 2001 abgelehnt hatte, begehrte die Klägerin im Dezember 2008 erneut die Gewährung von Leistungen für Kinderziehung. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 24. Februar 2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11. Mai 2009 mit der Begründung ab, dass § 294 SGB VI die beantragten Leistungen nur für leibliche Mütter, nicht aber für Pflege- bzw. Adoptivmütter vorsehe.
Mit der am 20. Mai 2009 erhobenen Klage hat die Klägerin geltend gemacht, dass Gerechtigkeit und Moral eine Entlohnung der Mühen gebieten würden, die sie für die Erziehung ihrer von ihr von Geburt an betreuten Adoptivtochter aufgewandt habe. Angesichts der in den Wirren der Kriegsjahre erbrachten Erziehungsleistungen dürfte sich die Beklagte nicht auf die gesetzlichen Regelungen berufen. Einer Adoption der Tochter zu einem früheren Zeitpunkt habe entgegengestanden, dass seinerzeit der Aufenthalt ihrer leiblichen Mutter unbekannt gewesen sei.
Mit Gerichtsbescheid vom 16. November 2009 hat das Sozialgericht Hannover die Klage abgewiesen, da das Gesetz in § 294 SGB VI eine Gewährung von Leistungen für Kinderziehung nur an leibliche Mütter vorsehe.
Mit der am 30. November 2009 eingelegten Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Die Nichtberücksichtigung der von Adoptivmüttern erbrachten Erziehungsleistungen in § 294 SGB VI sei verfassungswidrig; die Ablehnung ihres Begehrens beinhalte eine besondere Härte. Ihre Menschenwürde werde missachtet.
Sie beantragt,
1. den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hannover vom 16. November 2009 und den Bescheid der Beklagten vom 24. Februar 2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11. Mai 2009 aufzuheben und
2. die Beklagte zur Gewährung von Leistungen für Kindererziehung gemäß § 294 SGB VI zu verpflichten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die begehrten Leistungen für Kindererziehung.
§ 294 SGB VI enthält folgende Regelung:
1) Eine Mutter, die vor dem 1. Januar 1921 geboren ist, erhält für jedes Kind, das sie im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland lebend geboren hat, eine Leistung für Kindererziehung. Der Geburt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland steht die Geburt im jeweiligen Geltungsbereich der Reichsversicherungsgesetze gleich.
(2) Einer Geburt in den in Absatz 1 genannten Gebieten steht die Geburt außerhalb dieser Gebiete gleich, wenn die Mutter im Zeitpunkt der Geburt des Kindes ihren gewöhnlichen Aufenthalt 1. in diesen Gebieten hatte, 2. zwar außerhalb dieser Gebiete hatte, aber im Zeitpunkt der Geburt des Kindes oder unmittelbar vorher entweder sie selbst oder ihr Ehemann, mit dem sie sich zusammen dort aufgehalten hat, wegen einer dort ausgeübten Beschäftigung oder Tätigkeit Pflichtbeitragszeiten hat oder nur deshalb nicht hat, weil sie selbst oder ihr Ehemann versicherungsfrei oder von der Versicherung befreit war, oder 3. bei Geburten bis zum 31. Dezember 1949 zwar außerhalb dieser Gebiete hatte, aber der gewöhnliche Aufenthalt in den in Absatz 1 genannten Gebieten aus Verfolgungsgründen im Sinne des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes aufgegeben worden ist; dies gilt auch, wenn bei Ehegatten der gemeinsame gewöhnliche Aufenthalt in den in Absatz 1 genannten Gebieten aufgegeben worden ist und nur beim Ehemann Verfolgungsgründe vorgelegen haben.
(3) Absatz 1 Satz 2 gilt nicht, wenn Beitragszeiten zum Zeitpunkt der Geburt aufgrund einer Versicherungslastregelung mit einem anderen Staat nicht in die Versicherungslast der Bundesrepublik Deutschland fallen würden.
(4) Einer Geburt in den in Absatz 1 genannten Gebieten steht bei einer Mutter, die 1. zu den in § 1 des Fremdrentengesetzes genannten Personen gehört oder 2. ihren gewöhnlichen Aufenthalt vor dem 1. September 1939 aus einem Gebiet, in dem Beiträge an einen nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung bei Eintritt des Versicherungsfalls wie nach den Vorschriften der Reichsversicherungsgesetze entrichtete Beiträge zu behandeln waren, in eines der in Absatz 1 genannten Gebiete verlegt hat, die Geburt in den jeweiligen Herkunftsgebieten gleich.
(5) Eine Mutter, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hat, erhält eine Leistung für Kindererziehung nur, wenn sie zu den in den §§ 18 und 19 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung genannten Personen gehört.
Schon der Wortlaut der vorstehend zitierten gesetzlichen Bestimmung bringt klar zum Ausdruck, dass die dort normierten Leistungen für Kinderziehung für vor 1921 geborene Mütter nur von leiblichen Müttern in Anspruch genommen werden können.
Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die vom Gesetzgeber vorgenommene Beschränkung des Anspruchs auf leibliche Mütter sind nach Auffassung des Senates jedenfalls bezogen auf Fallgestaltungen der vorliegenden Art nicht gegeben. Ausschlaggebend sind weiterhin die Erwägungen, mit denen das BSG bereits mit Urteil vom 13. Mai 1996 - 13 RJ 67/95 - eine Zuerkennung von Leistungen für Kindererziehung in Bezug auf ein Adoptivkind abgelehnt hat:
Der Umstand der erst 1962 erfolgten Adoption kann schon deshalb im Ergebnis keinen Verfassungsverstoß und namentlich keine dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG widersprechende Ungleichbehandlung im Vergleich zu leiblichen Müttern begründen, weil die Klägerin ihre Tochter erst lange nach dem Zeitpunkt an Kindes Statt angenommen hat, bis zu dem (heute) die Kindererziehung durch jüngere Adoptivmütter im Rahmen der §§ 56, 249 SGB VI rentenrechtlich berücksichtigt werden könnten (vgl. BSG, aaO.).
Allein die geltend gemachte tatsächliche Betreuung und Erziehung des später adoptierten Kindes bereits von dessen Geburt begründet von Verfassungs wegen ebenfalls keine Verpflichtung des Gesetzgebers, für die Klägerin (unter diesem Ansatz als Pflegemutter) Leistungen für Kindererziehung wie für leibliche Mütter zu gewähren. Die seit Inkrafttreten des SGB VI in § 294 normierten Leistungen für Kindererziehung sind erst 1987 eingeführt worden, sie beziehen sich nur auf vor 1921 geborene Mütter. Mithin lagen schon bei Einführung der Leistungen die maßgeblichen Erziehungszeiträume Jahrzehnte zurück.
Vor diesem Hintergrund hat der Gesetzgeber die tatbestandlichen Voraussetzungen an auch nach Jahrzehnten unschwer überprüfbare tatsächliche Umstände geknüpft. Er hat im vorliegenden Zusammenhang allein an die leibliche Geburt eines Kindes angeknüpft. Demgegenüber kommt bei jüngeren Müttern (und Vätern) eine Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten (vgl. heute die gesetzliche Regelung in § 56 SGB VI i.V.m. § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 3 Nr. 2 und 3 SGB I) nur in Betracht, wenn sie ihr Kind in dem maßgeblichen Zeitraum auch tatsächlich erzogen haben, und zwar - vorbehaltlichübereinstimmender Erklärungen beider Eltern -überwiegend.
Die vereinfachte Regelung der tatbestandlichen Voraussetzungen in § 294 SGB VI begünstigt die betroffenen Mütter in dem Sinne, dass sie keinen Nachweis einer tatsächlichen Erziehung ihres Kindes im ersten bzw. in den ersten Lebensjahr(en) führen müssen. Andererseits steht sie einer Einbeziehung jedenfalls von Pflegemüttern in den Leistungsbezug entgegen. Dabei ist klarzustellen, dass auch nach den gesetzlichen Regelungen für jüngere Versicherte Adoptiv- oder Pflegemütter ohnehin nicht zusätzlich zu den leiblichen Müttern (bzw. Vätern) Erziehungszeiten anerkannt bekommen können, sondern nur an Stelle der leiblichen Eltern. Eine Pflegeelternschaft, die Anspruch auf die Anerkennung von Kinderziehungszeiten nach § 56 SGB VI i.V.m. § 56 Abs. 2 Nr. 2 SGB I begründen kann, kommt nur in Betracht, wenn in dem fraglichen Zeitraum eine Erziehung des Kindes durch die leiblichen Eltern nicht erfolgt ist. Ein zweifaches Familienband, nämlich ein Familienband zwischen leiblicher Mutter (bzw. Vater) und Kind auf der einen Seite und der Pflegemutter und diesem Kind auf der anderen Seite kann hingegen im Sinne dieser gesetzlichen Bestimmungen nicht gleichzeitig unterhalten werden (vgl. BSG, U. v. 12. September 1990 - 5 RJ 45/98 - E 67, 211 und U. v. 20. April 1992 - 5 RJ 20/91 -; vgl. ferner Mrozynski, SGB I, 3. Aufl, § 56 Rn. 15).
Diese Rechtslage hat für Versicherte ab dem Geburtsjahrgang 1921 zur Folge, dass es durchaus zu Streitigkeiten zwischen einer leiblichen Mutter und einer Pflegemutter über das Ausmaß der wechselseitigen Beiträge zur Erziehung und Betreuung eines Kindes kommen kann und wem von beiden daran anknüpfend die in Betracht kommenden rentenrechtlichen Kindererziehungszeiten zustehen.
Wenn der Gesetzgeber demgegenüber für die Geburtsjahrgänge vor 1921 entsprechende Streitigkeiten (über schon bei Einführung der entsprechenden Regelungen Jahrzehnte zurückliegende Sachverhalte) von vornherein ausschließen wollte, dann diente dies der Verwaltungsvereinfachung (vgl. BSG, U.v. 13. Mai 1996 - 13 RJ 67/95) und auch dem Rechtsfrieden. Die damit für Frauen, die Kinder als Pflegemütter von Geburt an großgezogen haben, verbundenen Härten durfte der Gesetzgeber von Verfassungs wegen vor dem erläuterten Hintergrund in Kauf nehmen. Dabei durfte er auch berücksichtigen, dass auch bei einer anderweitigen gesetzlichen Ausgestaltung der Regelung die Geltendmachung eines Anspruchs auf Leistungen für Kindererziehung durch Pflegemütter in der Rechtsanwendungspraxis oft an der nach Jahrzehnten - zumal unter Berücksichtigung der Kriegs- und Nachkriegswirren - sich ergebenden fehlenden Nachweisbarkeit der tatsächlich erbrachten Pflegeleistungen in den ersten Lebensjahren des Kindes scheitern würde. Auch dies hätte zu vielfach nur wenig befriedigenden Ergebnissen geführt.
Eine Missachtung der durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Menschenwürde der betroffenen Pflegeeltern ist schon deshalb von Rechts wegen nicht in Betracht zu ziehen, weil die gesetzlichen Vorschriften über die Rentenberechnung und die Gewährung daran anknüpfender Leistungen von vornherein nicht den Anspruch erheben wollen oder auch nur können, dass mit dem jeweiligen Leistungsbetrag eine Gesamtwürdigung der Leistungen und Verdienste der Betroffenen zum Ausdruck gebracht würde. In die Rentenberechnung fließen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen nur einzelne Aspekte der Gesamtlebensleistung namentlich in Form von tatsächlichen Beitragszahlungen ein. Die Nichtberücksichtigung von anderen Leistungen bringt damit von vornherein nicht deren Abwertung zum Ausdruck. Es liegt dem Gesetzgeber insbesondere fern, die herausragende Bedeutung einer langjährigen Pflegeelternschaft für das Gedeihen des Kindes oder den damit - zumal unter Berücksichtigung der besonderen Erschwernisse der Kriegs- und Nachkriegsjahre - verbundenen großherzigen Einsatz der Pflegeeltern in tatsächlicher Hinsicht in Abrede zu stellen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht gegeben.