Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 16.05.2002, Az.: 4 B 138/02
eheähnliche Gemeinschaft; einstweilige Anordnung; innere Vorgänge; Pflegeverhältnis; Sozialhilfe; Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft; Wirtschaftsgemeinschaft; Wohngemeinschaft
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 16.05.2002
- Aktenzeichen
- 4 B 138/02
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2002, 41617
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 11 BSHG
- § 122 BSHG
- § 123 Abs 1 S 2 VwGO
- Art 6 Abs 1 GG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Zur Abgrenzung zwischen eheähnlicher Gemeinschaft und einem schlichten Pflegeverhältnis
Tenor:
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsteller; Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nicht erhoben.
Gründe
Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit der die Antragsgegnerin verpflichtet werden soll, dem Antragsteller weiterhin laufende Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren, ist nicht begründet.
Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen werden, wenn diese Regelung, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Da nach Wesen und Zweck des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens die vorläufige Regelung grundsätzlich die Entscheidung in der Hauptsache nicht vorwegnehmen darf, kann eine Verpflichtung zur Erbringung von Geldleistungen - wie sie im vorliegenden Fall von dem Antragsteller begehrt wird - im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur ausgesprochen werden, wenn der Antragsteller die tatsächlichen Voraussetzungen für einen entsprechenden Anspruch (Anordnungsanspruch) und weiterhin glaubhaft macht, er befinde sich wegen fehlender anderer Geldmittel in einer existentiellen Notlage und sei deswegen - mit gerichtlicher Hilfe - auf die sofortige Befriedigung seiner Ansprüche dringend angewiesen (Anordnungsgrund).
Nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung steht dem Antragsteller der geltend gemachte Anspruch nicht zu.
Die Antragsgegnerin hat nach §§ 122, 11 BSHG zu Recht die dem Antragsteller bisher gewährte Hilfe zum Lebensunterhalt ab dem 1. Mai 2002 versagt. Sie geht zu Recht davon aus, dass zwischen dem Antragsteller und Frau S. eine eheähnliche Gemeinschaft besteht. Nach § 122 BSHG dürfen Personen, die in eheähnlicher Gemeinschaft leben, hinsichtlich der Voraussetzungen sowie des Umfanges der Sozialhilfe nicht besser gestellt werden als Ehegatten. Nach § 11 Abs. 1 Satz 2 BSHG ist bei nichtgetrenntlebenden Ehegatten das Einkommen und das Vermögen beider Ehegatten zu berücksichtigen. Zwar liegen konkrete Erkenntnisse über die Einkommens- und Vermögenslage von Frau S. nicht vor, doch gab sie bei dem Hausbesuch am 18. April 2002 selbst an, dass sie u.a. über nicht unbeträchtliches Vermögen verfügt; deshalb ist die vollständige Einstellung der Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt nicht zu beanstanden.
Eine eheähnliche Gemeinschaft liegt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschl. v. 17.11.1992 - BvR 8/87 -, BVerfGE 87, 234 ff.), des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 17.05.195 - BVerwG 5 C 16.93 -, BVerwGE 98, 195 ff) und des Nieders. Oberverwaltungsgerichts (Beschl. v. 26.01.1998 - 12 M 345/98 -) vor, wenn zwischen den Partnern eine Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft besteht, die über eine reine Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft hinausgeht. An das Bestehen und den Nachweis einer eheähnlichen Gemeinschaft sind damit gegenüber der älteren Rechtsprechung, nach der eine bloße Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft zur Annahme einer eheähnlichen Gemeinschaft ausreichend war, erhöhte Anforderungen zu stellen. Es muss aus äußeren Umständen auf die Intensität einer persönlichen Beziehung und einer hieraus folgende Unterstützungsbereitschaft geschlossen werden.
Erforderlich ist daher eine Gesamtwürdigung aller Umstände, die im Einzelfall für und wider das Bestehen einer Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft sprechen. Äußerungen der Beteiligten allein kann kein ausschlaggebendes Gewicht gegenüber diesen widerstreitenden äußeren Indizien beigemessen werden; dies gilt vor allem dann, wenn sie - in zunehmender Kenntnis dessen, worauf es ankommt - bei Fortschreiten des Verfahrens mehr und mehr ihre Äußerungen dem anpassen, was nach ihrer Auffassung zum Erfolg ihres Anliegens führen müsste (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 20.01.1977 - 5 C 62.75 -, BVerwGE 52, 11; Nds. OVG, Beschl. v. 23.01.1996 - 12 M 238/96 -). Soweit der VGH Baden-Württemberg (Urt. v. 14.04.1997 - 7 S 1816/95 -, FEVS 48, 29 ff.) aus dem Gebot des Art. 6 Abs. 1 GG, eine faktische Schlechterstellung von Ehe und Familie auch im Verwaltungsvollzug zu vermeiden, herleitet, dass Erklärungen der an einer (möglichen) eheähnlichen Gemeinschaft beteiligten Personen nur eingeschränkt berücksichtigt werden dürften und weiter ausführt, dass es bei der Frage des Bestehens einer eheähnlichen Gemeinschaft auch auf innere Vorgänge ankomme, was bei der Verteilung der Sachverhaltsermittlungs- bzw. Beweislast zu berücksichtigen sei, ist dem insoweit beizutreten, als dem Träger der Sozialhilfe bei dem obliegenden Nachweis des Bestehens einer eheähnlichen Gemeinschaft nichts aufgebürdet werden darf, was schlechterdings nicht erfüllt werden kann. Aus dem Umstand, dass eine bestehende Wohngemeinschaft wegen der damit verbundenen Nähe ein gewisses und gewichtiges Indiz für das Bestehen einer eheähnlichen Gemeinschaft und auch Anknüpfungspunkt für sachverhaltsaufklärende Maßnahmen des Sozialhilfeträgers sein kann, folgt indes keine "Umkehr der Beweislast" in der Weise, dass es dann den Partnern der Wohngemeinschaft obliegt nachzuweisen, dass lediglich eine "Zweckgemeinschaft" besteht. Ob sich das Zusammenleben in einer Wohngemeinschaft bereits zu einer Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft verdichtet hat, die Bindungen der Partner einer Wohngemeinschaft in der streitgegenständlichen Zeit bereits so eng sind, dass von ihnen ein gegenseitiges Einstehen in den Not- und Wechselfällen des Lebens erwartet werden kann und die Bindung auf Dauer angelegt ist, bedarf vielmehr einer umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalles.
Nach diesen Grundsätzen ist die Kammer im Rahmen der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren lediglich gebotenen summarischen Prüfung der Sachlage davon überzeugt, dass zwischen dem Antragsteller und Frau S. eine eheähnliche Gemeinschaft i. S. des § 122 BSHG besteht.
Frau S. (geb. 12. April 1936) nahm zum 1. November 2000 den am 29. März 1929 geborenen Antragsteller in ihrer 65,2 m² großen Wohnung auf, nachdem dieser seine Wohnung in H. aufgegeben hatte. Im Rahmen der parallelen Beantragung von Sozialhilfe gab der Antragsteller an, dass er als Pflegefall nicht mehr allein leben könne und Frau S., eine entfernte Cousine, ihn aufnehme und versorge, jedoch nicht bereit sei, für seinen Lebensunterhalt aufzukommen. Der Antragsteller ist nach einem Schlaganfall schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 100; der Schwerbehindertenausweis enthält die Merkzeichen G und RF. Laut Untermietvertrag vom 1. November 2000 wurde an ihn ein nicht näher bestimmter "Anteil an der Wohnung" untervermietet. Am 6. November 2000 erklärte der Antragsteller, dass er ein eigenes Zimmer mit Bett, Fernseher usw. habe und die anderen Räume mitbenutzen könne. Seine Cousine werde für ihn einkaufen, waschen und ihn auch anderweitig versorgen. Ein erster Hausbesuch am 21. November 2000 ergab, dass das vom Antragsteller benutzte Zimmer mit einer kleinen Couch, einem Sessel, einem kleinen Schrank, einem Tisch und Fernseher, jedoch keinem Bett ausgestattet war. Nach den eigenen Angaben des Antragstellers schlafe er im Ehebett im Schlafzimmer von Frau S.; dieses Bett sei in der Mitte getrennt. Hierzu gab Frau S. an, dass der Antragsteller wegen seiner Krankheit besonders nachts immer in der Nähe einer Hilfe sein müsse. Ein weiterer Hausbesuch am 18. April 2002 ergab, dass der Antragsteller "sein" 10 m² großes Zimmer nutze, um fern zu sehen oder seinen Mittagsschlaf zu halten. In das Bett im Schlafzimmer war in der Mitte im mittleren Teil des Bettes ein Brett hineingesteckt worden. Ergänzend gaben der Antragsteller und Frau S. an, dass sie ihre gesamte Freizeit miteinander verbringen und auch gemeinsam in Urlaub fahren würden.
Angesichts dieser Verhältnisse ist die Kammer davon überzeugt, dass zwischen dem Antragsteller und Frau S. eine über eine reine Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft hinausgehende Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft besteht, die deutlich über ein schlichtes Pflegeverhältnis hinausgeht.
Zwischen dem Antragsteller und Frau S. besteht eine Wohngemeinschaft. Schon der Untermietvertrag sieht keine getrennte Nutzung von Räumen vor. Auch tatsächlich nutzt der Antragsteller die gesamte Wohnung und hat nur zusätzlich die Möglichkeit, sich zum Fernsehen oder Mittagschlaf in ein separates Zimmer zurückzuziehen. Daneben liegt auch eine Wirtschaftsgemeinschaft vor. Es wird aus einem "gemeinsamen Topf" gewirtschaftet. So wurden und werden auch alle dem Antragsteller zustehenden Gelder, wie sein Pflegegeld und die zwischenzeitlich bezogene Sozialhilfe, auf das Konto von Frau S. überwiesen. Darüber hinaus wird der gesamte Tagesablauf gemeinsam gestaltet und auch Urlaube gemeinsam durchgeführt. Das alltägliche Einkaufen, Kochen, Waschen usw. für beide übernimmt Frau S.. Außerdem schlafen der Antragsteller und Frau B. auch gemeinsam im Schlafzimmer. Dabei ist es unerheblich, ob es sich um ein Ehebett oder zwei zusammengestellte Einzelbetten handelt. Unerheblich ist auch, ob sexuelle Beziehungen bestehen. Der Einwand, dass dieses gemeinsame Übernachten durch die Krankheit des Antragstellers geboten sei, vermag nicht zu überzeugen, da selbst die eingereichten ärztlichen Bescheinigungen die Notwendigkeit nicht belegen. Selbst wenn dieses allerdings der Fall sein sollte, begründen schon die im Übrigen aufgeführten Umstände, dass zusätzlich von einer Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft auszugehen ist. Die schlichte Erklärung von Frau S., sie sei nicht bereit für den Lebensunterhalt des Antragstellers aufzukommen, kann unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen vor dem Hintergrund der gewichtigen objektiven Gegebenheiten keine Bedeutung haben.
Deshalb kann der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.