Verwaltungsgericht Stade
Beschl. v. 22.10.2002, Az.: 4 B 1545/02

Absetzung; eheähnliche Gemeinschaft; Einkommen; nichteheliche Lebensgemeinschaft; Schuldverpflichtungen; Sozialhilfe; Tilgung; Unterhalt

Bibliographie

Gericht
VG Stade
Datum
22.10.2002
Aktenzeichen
4 B 1545/02
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2002, 43627
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Tilgungsraten auf bestehende Schuldverpflichtungen können vom Einkommen im Sinne von § 76 BSHG nicht abgesetzt werden.

Gründe

1

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.

2

Gemäß § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Gemäß den §§ 123 Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2 ZPO hat der Antragsteller sowohl die Eilbedürftigkeit der begehrten gerichtlichen Regelung (Anordnungsgrund) als auch seine materielle Anspruchsberechtigung (Anordnungsanspruch) glaubhaft darzulegen.

3

Hiervon ausgehend hat die Antragstellerin das Bestehen eines Anordnungsanspruches und damit ihre materielle Anspruchsberechtigung nicht glaubhaft gemacht. Sie hat nicht dartun können, dass sie einen Anspruch auf Bewilligung laufender Hilfe zum Lebensunterhalt ohne Berücksichtigung des Einkommens von Herrn L. hat. Denn nach den Feststellungen des Antragsgegners ist davon auszugehen, dass die Antragstellerin mit Herrn L. in eheähnlicher Gemeinschaft lebt, und das vorhandene Einkommen liegt über dem sozialhilferechtlichen Bedarf. Dazu im Einzelnen:

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Hilfe zum Lebensunterhalt ist nach § 11 Abs. 1 BSHG dem zu gewähren, der seinen notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem aus seinem Einkommen und Vermögen, beschaffen kann. Bei nicht getrennt lebenden Ehegatten sind das Einkommen und das Vermögen beider Ehegatten in der Weise zu berücksichtigen, dass das etwaig den sozialhilferechtlichen Eigenbedarf eines Ehegatten übersteigende Einkommen bei der Berechnung des Sozialhilfebedarfs des anderen Ehegatten voll anzurechnen ist. Diese Regelung findet nach § 122 Satz 1 BSHG auf eheähnliche Gemeinschaften entsprechende Anwendung, da diese Norm bestimmt, dass Personen, die in eheähnlicher Gemeinschaft leben, hinsichtlich der Voraussetzungen sowie des Umfanges der Sozialhilfe nicht besser gestellt werden dürfen als Ehegatten. Der nach § 122 Satz 2 BSHG entsprechend anwendbare § 16 BSHG spielt für das unmittelbare Verhältnis der Personen, die in eheähnlicher Gemeinschaft leben, keine Rolle. Die ausdrücklich normierte entsprechende Anwendbarkeit des § 16 BSHG soll lediglich klarstellen, dass die Verwandten der mit einem Hilfesuchenden in eheähnlicher Gemeinschaft lebenden Person identisch mit den bei Bestehen einer Ehe Verschwägerten behandelt werden.

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1. Eine eheähnliche Gemeinschaft liegt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 17.05.1995, FEVS 46, 1 ff = BVerwGE 98, 195 ff) und des Nds. OVG (Beschl. v. 26.01.1998, FEVS 48, 545 ff), der sich die Kammer in ständiger Rechtsprechung angeschlossen hat, nur vor, wenn eine Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft vorliegt, die über eine reine Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft hinausgeht. Eine solche Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft setzt eine Lebensgemeinschaft voraus, die durch innere Bindungen ausgezeichnet ist, die ein gegenseitiges Einstehen der Partner füreinander im Sinne einer "Unterstützungsbereitschaft" begründen. Ob eine solche Gemeinschaft im Einzelfall vorliegt, lässt sich nicht direkt feststellen. Vielmehr kann auf innere Bindungen in dem beschriebenen Sinne nur aufgrund von äußeren Anhaltspunkten, denen eine Indizfunktion zukommt, geschlossen werden. Erforderlich ist dabei eine Gesamtwürdigung aller für und wider das Bestehen einer Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft streitenden Gesichtspunkte. Den Äußerungen der Beteiligten kann im Verhältnis zu den äußeren Indizien kein ausschlaggebendes Gewicht beigemessen werden. Würde die schlichte Erklärung, sich nicht gegenseitig beistehen zu wollen, genügen, so wäre weiteren objektiven Ermittlungen des Sozialhilfeträgers die Grundlage entzogen. Die Bewilligung von Sozialhilfe wäre dann weitestgehend in das Belieben der Betroffenen gestellt, was vor allem dann gilt, wenn sie bei Fortschreiten des Verfahrens - in zunehmender Kenntnis dessen, worauf es ankommt - mehr und mehr ihre Äußerungen dem anpassen, was nach ihrer Auffassung zum Erfolg ihres Anliegens führen müsste (vgl. hierzu Nds. OVG, Beschl. vom 26.01.1998, FEVS 48, 545 ff; BVerwG, Urt. V. 20.01.1977, BVerwGE 52, 11 ff). Dies hätte eine Besserstellung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft gegenüber der ehelichen Lebensgemeinschaft zur Folge, die dem aus Art. 6 Abs. 1 GG folgenden Gebot widersprechen würde, eine faktische Schlechterstellung von Ehe und Familie im Verwaltungsvollzug zu vermeiden (vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urt. v. 14.04.1997, FEVS 48, 29 ff).

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Kommt es für die Frage des Vorliegens einer eheähnlichen Gemeinschaft entscheidend auf nicht unmittelbar erkennbare innere Bindungen an, darf dem Träger der Sozialhilfe bei der Verteilung der Sachverhaltsermittlungs- und Beweislast nichts aufgebürdet werden, was er schlechterdings nicht erfüllen könnte. Dies würde nämlich typischerweise dazu führen, dass das Vorliegen einer eheähnlichen Gemeinschaft nicht festgestellt werden könnte, obwohl eine solche vorliegt. Die damit notwendig einhergehende "Erleichterung" des Nachweises einer eheähnlichen Gemeinschaft führt aber keinesfalls so weit, dass die Beweislast zu Lasten des Hilfesuchenden gleichsam umgekehrt wird. Dies gilt insbesondere für das Indiz des Bestehens einer Wohngemeinschaft. Dieser Umstand stellt zwar wegen der damit verbundenen Nähe der in einer Wohngemeinschaft lebenden Personen ein gewichtiges Indiz für das Bestehen einer eheähnlichen Gemeinschaft dar, es folgt daraus jedoch daraus keine (nur schwer) widerlegliche tatsächliche Vermutung des Vorliegens der inneren Bindungen, die für eine Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft kennzeichnend sind, so dass es Sache des Hilfesuchenden wäre, plausible Gründe darzulegen, die die Wohngemeinschaft als bloße Zweckgemeinschaft ausweisen. Eine solche Umkehr der Darlegungslast ginge zu weit. Das Bestehen einer Wohngemeinschaft bleibt ein - allerdings gewichtiges - Indiz, das nur in Verbindung mit anderen äußeren Umständen den Schluss auf das Vorliegen von inneren Bindungen im Sinne einer Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft zulässt. Das Gewicht dieser Indiztatsache geht indes so weit, dass der Sozialhilfeträger grundsätzlich davon ausgehen darf, dass eine eheähnliche Gemeinschaft jedenfalls vorliegen könnte. Dafür spricht die allgemeine Lebenserfahrung. Diese Indiztatsache gewinnt noch weiteres Gewicht - ohne aber eine förmliche Beweislastumkehr zur Folge zu haben - , wenn der Hilfesuchende es unterlässt, plausible Gründe darzulegen, die die Wohngemeinschaft als reine Zweckgemeinschaft ausweisen würden. In einer solchen Situation spricht viel dafür, dass die Wohngemeinschaft mit einer Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft einhergeht.

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Unter Zugrundelegung eines beachtlichen Gewichts des Bestehens einer Wohngemeinschaft ist eine umfassende Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Hinblick auf die Frage vorzunehmen, ob auf so enge innere und auf Dauer angelegte Bindungen geschlossen werden kann, welche die Erwartung begründen, dass die Beteiligten in den Not- und Wechselfällen des Lebens füreinander einstehen. Als Hinweistatsachen in diesem Sinne kommen beispielhaft die Dauer und die nach außen erkennbare Intensität der Partnerschaft vor Begründung der Wohngemeinschaft und während des Zusammenlebens, der Anlass für das Zusammenziehen, die konkrete Wohnsituation sowie die etwaige Befugnis, über Einkommens- und Vermögensgegenstände des anderen zu verfügen, in Betracht. Nicht erforderlich sind intime Beziehungen. Die benannten Indizien sind weder abschließend noch müssen sie kumulativ gegeben sein. Entscheidend ist das aus der Summe der Indizien ableitbare Gesamtbild.

8

Hiervon ausgehend hat die Kammer keinen Zweifel, dass die Antragstellerin und Herr L. wie Eheleute zusammenleben. Beide leben seit dem 1. Dezember 2001 zusammen in einem Reihenhaus. Am 8. Juni 2002 ist der gemeinsame Sohn A. geboren worden, und beide kümmern sich gemeinsam um Versorgung und Erziehung ihres Sohnes. In dem Sozialhilfeantrag vom 22. Juli 2002 hat die Antragstellerin Herrn L. als ihren Lebenspartner bezeichnet, und Herr L. hat diesen Antrag mitunterzeichnet. Das Arbeitsentgelt des Herrn L. ist in dem Antrag in Höhe von 1.626,00 € angegeben. In den Mietvertrag über die Wohnung K. 17 f i. H. vom 8. August 2001 sind ebenfalls die Antragstellerin und Herr L. als Mieter aufgeführt. Unter weiterer Berücksichtigung des Aktenvermerks der im Auftrage des Antragsgegners handelnden Samtgemeinde H. über den Ortstermin am 4. September 2002 hat die Kammer damit bei dieser Sachlage keinen Zweifel, dass die Antragstellerin mit Herrn L. in eheähnlicher Gemeinschaft zusammenlebt. Damit ist davon auszugehen, dass beide nicht nur vorübergehend einen gemeinsamen Haushalt führen, was den Schluss zulässt, dass sie wie Eheleute füreinander einstehen wollen. Dies schließt es ein, dass entsprechend der Vermutung des § 16 BSHG einander auch bei der Bestreitung des Lebensunterhaltes beigestanden wird.

9

Nach der vom Antragsgegner angestellten Bedarfsberechnung, die Unterhaltsverpflichtungen des Herrn L. gegenüber seinen Kindern berücksichtigt, ist ein ungedeckter Bedarf der Antragstellerin nicht gegeben. Denn vom Einkommen des Herrn L. sind weitere Absetzungen, insbesondere im Hinblick auf die Tilgung von Schuldverbindlichkeiten sozialhilferechtlich nicht vorzunehmen. Zu dieser Rechtsfrage hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg mit Urteil vom 13. Januar 1993 6 S 2619/91   beispielhaft Folgendes ausgeführt:

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Dass Tilgungsraten auf bestehende Schuldverpflichtungen von dem nach § 11 BSHG anzusetzenden Einkommen im Sinne des § 76 BSHG nicht abgesetzt werden können, ergibt sich bereits aus der nach ganz überwiegender Auffassung abschließenden Aufzählung absetzbarer Aufwendungen in § 76 Abs. 2 BSHG. Es ist grundsätzlich nicht Aufgabe der Sozialhilfe, Schulden des Hilfesuchenden zu tilgen (ständige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, vgl. zuletzt Urteil vom 30. April 1992, DVBl. 92, 1479, 1480 m. w. N. aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts). Hat der Hilfebedürftige Einkommen, so muss er es in der Regel auch dann für sich verwenden, wenn er sich dadurch außerstande setzt, bestehende gesetzliche oder vertragliche Verpflichtungen zu erfüllen (BVerwGE 20, 188, 192; 55, 148, 152). Um den Fall, dass das einzusetzende Einkommen bereits gepfändet ist (vgl. BVerwGE 55, 148, 153 ff., Hessischer VGH, Urteil vom 24. Januar 1986, FEVS 35, 447), geht es vorliegend nicht. Ist es aber grundsätzlich nicht Aufgabe der Sozialhilfe, Schulden des Hilfesuchenden zu tilgen, so kann dies auch nicht in der Weise geschehen, dass der Sozialhilfeträger dem Schuldner laufende Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt, um ihm damit den Einsatz seines gesamten Einkommens zur monatlichen Schuldentilgung zu ermöglichen.

11

Damit kann es bei der anzustellenden Bedarfsberechnung entscheidend nicht auf die Verpflichtungen ankommen, die Herr L. gegenüber seiner geschiedenen Ehefrau eingegangen ist, jedenfalls soweit es sich um die Übernahme von ehebedingten Verbindlichkeiten handelt. Diese Tilgungsleistungen wirken sich damit nicht einkommensmindernd aus, so dass von einer Bedarfsdeckung auszugehen ist, die die Bewilligung ergänzender Hilfe zum Lebensunterhalt ausschließt.

12

Bei dieser Sach- und Rechtslage war der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.