Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 06.09.2017, Az.: 3 A 2017/16

Irak; Yezide; Zweitantrag

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
06.09.2017
Aktenzeichen
3 A 2017/16
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2017, 54160
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Zu den Voraussetzungen eines Zweitantrags.

Tenor:

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 21. April 2016 wird aufgehoben.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand:

Der Kläger ist irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volks- und yezidischer Religionszugehörigkeit. Im Jahr 2007 stellte der Kläger in Schweden einen Asylantrag, welcher am … 2008 abgelehnt wurde. Der Kläger wurde am … 2009 in den Irak abgeschoben.

Im März 2015 reiste der Kläger in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am … 2015 einen Asylantrag. Zur Begründung dieses weiteren Antrags trug der Kläger im Rahmen seiner persönlichen Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am … 2015 im Wesentlichen vor, er habe sich nach der Rückkehr aus Schweden bis zu seiner Ausreise in S. im Bezirk S. in der Provinz D. aufgehalten. In S. lebten noch seine Ehefrau, seine Kinder und sein Vater, seine Mutter lebe in Deutschland. Der Grund für seine erneute Ausreise aus dem Irak sei die allgemein schlechte Lage für Yeziden im Irak gewesen. Nachdem die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) gekommen sei, habe es für die Yeziden im Irak keine Sicherheit mehr gegeben. Seine Brüder und der Großteil seiner Familie lebten bereits in Deutschland. Übergriffe auf ihn persönlich habe er nicht erlebt.

Mit Bescheid vom … 2016 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorlägen. Der Kläger wurde unter Erlass einer Abschiebungsandrohung zur Ausreise in den Nordirak (kurdische Autonomiegebiete) aufgefordert. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.

Zur Begründung führte das Bundesamt aus, die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens lägen nicht vor. Die Anforderungen des § 51 Abs. 1 bis 3 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) seien nicht erfüllt. Der Kläger habe sich lediglich auf die allgemeine Situation im Irak bezogen. Nach seiner Rückkehr aus Schweden im Jahr 2009 habe er in S. in D. gelebt. Bis zur Ausreise sei ihm nichts widerfahren, ein individuelles Verfolgungsschicksal habe er nicht vorgetragen. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG lägen nicht vor. Dem Kläger drohe im Falle einer Rückkehr kein Verstoß gegen Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Der Kläger habe von 2009 bis zum Jahr 2015 in D. gelebt, das zu den kurdischen Autonomiegebieten zähle. In dieser Provinz bestehe kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, von welchem eine Gefahr für den Kläger ausgehen könne. Auch die derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak führten nicht zu der Annahme, dass bei der Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK erfolgen werde. Es sei zu beachten, dass der Kläger seinen Lebensunterhalt selbstständig habe sichern können, zudem lebten seine Frau und seine Kinder weiterhin im Irak. Auch könne er mit Unterstützung durch seine Verwandten rechnen.

Der Kläger hat am … 2016 Klage erhoben. Er trägt ergänzend vor: In der Region S./D. sei von einer Gruppenverfolgung der Yeziden auszugehen. Eine inländische Fluchtalternative im Nordirak stehe ihm nicht zur Verfügung. Entgegen der Auffassung der Beklagten komme es auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 VwVfG nicht an. Überdies sei er im Rahmen seiner Anhörung falsch verstanden worden. Er habe nach der Rückkehr aus Schweden in B. gelebt und vorher in S.. Diesbezüglich könne er auch eine Meldebestätigung vorlegen.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom … 2016 aufzuheben,

hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf den Irak vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verteidigt den angefochtenen Bescheid.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig und begründet. Die Voraussetzungen, unter denen die Durchführung eines Asylverfahrens gemäß § 71a Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) wegen vorheriger erfolgloser Durchführung eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat abgelehnt werden kann, liegen nicht vor. Die Ablehnung der Durchführung verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Gemäß § 71a Abs. 1 AsylG ist dann, wenn der Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag (Zweitantrag) stellt, ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen.

Die Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens gemäß § 71 Abs. 1 AsylG bzw. § 71a AsylG stellt sich nach Inkrafttreten des Art. 6 des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 (BGBl. I S. 1939) am 6. August 2016 - also nach der Änderung des Asylgesetzes - der Sache nach als Entscheidung über die Unzulässigkeit eines Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG dar. Mit dem Integrationsgesetz, das insoweit keine Übergangsregelung für Verfahren vorsieht, die vor seinem Inkrafttreten eingeleitet wurden (s. Art. 8 und § 87c AsylG), hat der Gesetzgeber zur besseren Übersichtlichkeit und Vereinfachung der Rechtsanwendung in § 29 Abs. 1 AsylG die möglichen Gründe für die Unzulässigkeit eines Asylantrags in einem Katalog zusammengefasst (BT-Drs. 18/8615 vom 31. Mai 2016, S. 51). Hierzu zählt gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG nunmehr auch der - materiell-rechtlich unverändert geregelte - Fall, dass im Falle eines Folgeantrags nach § 71 AsylG oder eines Zweitantrags nach § 71a AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist. Jedenfalls seit Inkrafttreten dieser Neuregelung ist die Entscheidung, kein weiteres Asylverfahren durchzuführen, mit der Anfechtungsklage anzugreifen. Eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG stellt einen der Bestandskraft fähigen, anfechtbaren Verwaltungsakt dar. Der Asylsuchende muss die Aufhebung des Bescheids, mit dem die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens abgelehnt wird, erreichen, wenn er eine Entscheidung über seinen Asylantrag erhalten will. Soweit in der bisherigen Rechtsprechung zum Folgeantrag eine Verpflichtung der Gerichte zum „Durchentscheiden“ angenommen und dementsprechend die Verpflichtungsklage als allein zulässige Klageart betrachtet worden ist, hält das Bundesverwaltungsgericht, dessen Auffassung sich das beschließende Gericht anschließt, daran mit Blick auf die Weiterentwicklung des Asylverfahrensrechts nicht mehr fest (BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 -, juris, Rn. 15 ff.).

Im Falle des Zweitantrags nach § 71a AsylG ist zunächst - nach Feststellung der Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland - im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung zu entscheiden, ob ein Zweitantrag vorliegt und ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist und in einem nächsten Schritt ist dann im Rahmen der Sachprüfung zu untersuchen, ob die materiell-rechtlichen Anerkennungsvoraussetzungen gegeben sind.

Es kann hier ausnahmsweise offen bleiben, ob der Asylantrag des Klägers tatsächlich die Anforderungen an einen Zweitantrag erfüllt oder ob der Kläger nicht in vollem Umfang einen Zweitantrag im Sinne von § 71a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestellt hat. Zwar dürfte der vom Kläger am 12. Mai 2015 beim Bundesamt gestellte Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein Zweitantrag sein, weil davon auszugehen ist, dass er dieses Begehren bereits in Schweden geltend gemacht hat. Allerdings steht bislang nicht fest, ob der in Schweden im Jahr 2007 gestellte Asylantrag bereits den Antrag auf Zuerkennung subsidiären Schutzes umfasst hat, weil dieses Begehren erst seit dem Inkrafttreten der Dublin III-VO am 1. Januar 2014 vom Begriff des in Art. 2 Buchst. b) Dublin III-VO genannten „Antrag(s) auf internationalen Schutz“ im Sinne des Artikels 2 Buchst. h) der Richtlinie 2011/95/EU erfasst wird. Der beim Bundesamt am 12. Mai 2015 gestellte Asylantrag umfasst dagegen den Antrag auf Zuerkennung subsidiären Schutzes, zumal der Begriff des Asylantrags insoweit bereits durch den zum 1. Dezember 2013 in Kraft getretenen Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie (QRL)) vom 28. August 2013 (BGBl. I S. 3474) geändert (§ 13 Abs. 1 AsylG) bzw. neu gefasst (Abs. 2) wurde. Da der entsprechende Asylvorgang mit dem maßgeblichen Bescheid aus Schweden dem Gericht nicht vorliegt, da dieser offenbar vom Bundesamt nicht beigezogen worden ist, ist derzeit fraglich, ob in Schweden auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes geprüft worden sind; das erfolglos abgeschlossene Asylverfahren im Sinne des § 71a AsylG muss sich jedoch auch auf diese Prüfung beziehen.

Allerdings ist hier keine abschließende Prüfung des Umfangs des in Schweden abgeschlossenen Asylverfahrens erforderlich, weil der angefochtene Bescheid in jedem Fall aufzuheben ist. Läge kein vollständiger Zweitantrag vor, wären die Voraussetzungen des § 71a AsylG nicht gegeben und das Bundesamt hätte zu Unrecht nach Maßgabe dieser Vorschrift die Durchführung eines Asylverfahrens abgelehnt.

Geht man hingegen vom Vorliegen eines Zweitantrags aus - was das Bundesamt bei der dem Urteil nachfolgenden Prüfung zu untersuchen haben wird -, liegen die Voraussetzungen des § 51 VwVfG vor.

Nach § 51 Abs. 1 VwVfG hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entscheiden, wenn (1.) sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat, (2.) neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden, oder (3.) Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 Zivilprozessordnung (ZPO) gegeben sind. Die Geeignetheit der in § 51 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 VwVfG genannten Umstände muss für eine dem Kläger günstigere Entscheidung schlüssig dargelegt werden (vgl. BVerwG, Urteile vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - juris, Rn. 14). Der Antrag ist gemäß § 51 Abs. 2 VwVfG nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen. Außerdem muss der Antrag binnen drei Monaten gestellt werden, wobei die Frist zwar grundsätzlich mit dem Tage beginnt, an dem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erhalten hat (§ 51 Abs. 3 VwVfG), allerdings nicht vor dem Zeitpunkt, ab dem ein Folgeantrag gestellt werden darf, also nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung des früheren Asylantrags (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. November 2008, a.a.O., Rn. 14). Gleiches gilt für den Zweitantrag. Die Kenntnis vom Wiederaufgreifensgrund i.S.d. § 51 Abs. 3 Satz 2 VwVfG erhält der Betroffene, wenn er die sichere Kenntnis der Tatsachen gewinnt, die den Wiederaufgreifensgrund erfüllen. Eine Änderung der Sachlage liegt vor, wenn sich die für die unanfechtbare Entscheidung maßgeblichen, d. h. hier zugrunde liegenden Tatsachen ändern (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, Kommentar, 12. Aufl. 2011, § 51 Rn. 29). Neue Beweismittel sind solche, durch die bereits früher vorgetragene („alte“) Tatsachen nachträglich bewiesen werden sollen (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. November 1984 - 9 C 67.84 -, juris, Rn. 12). Unter einem neuen Beweismittel sind neben Beweismitteln, die während der Anhängigkeit des ersten Verfahrens noch nicht existierten, auch solche Beweismittel zu verstehen, die zwar damals schon vorhanden waren, vom Betroffenen damals aber nicht beigebracht werden konnten (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Mai 1993 - 9 C 49.92 -, juris, Rn. 8).

Der Kläger verweist im Rahmen der Begründung des weiteren Asylantrags auf eine Verfolgungsgefahr für ihn als Yeziden aufgrund des Einmarsches des IS in den Irak ab August 2014. Er beruft sich damit inhaltlich auf eine Änderung der Sach- und Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG, hier speziell auf eine Änderung der Sachlage. Der Kläger hat damit hinreichend substantiiert geltend gemacht, dass die konkrete Möglichkeit besteht, dass eine Änderung der hier maßgeblichen Sachlage eingetreten ist. Denn im Zeitpunkt der Durchführung des Asylverfahrens in Schweden ging für Yeziden im Nordirak noch keinerlei Verfolgungsgefahr durch den IS aus; die Situation vor Ort hat sich jedoch im Zeitpunkt der erneuten Ausreise des Klägers aus dem Irak maßgeblich geändert. Die Änderung der Sachlage ist auch zu Gunsten des Klägers, weil es nicht völlig unmöglich erscheint, dass er als Yezide (selbst wenn er sich in der Provinz Dohuk aufgehalten hätte) tatsächlich einer drohenden Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG oder einer Schädigung im Sinne des § 4 AsylG vor seiner Ausreise nach Deutschland im Jahr 2015 ausgesetzt gewesen ist und dementsprechend im Rahmen der erneuten Prüfung seines Asylantrags durch das Bundesamt eine für ihn günstigere Entscheidung jedenfalls nicht ausgeschlossen werden kann (vgl. zur Verfolgungsgefahr von Yeziden in unterschiedlichen Provinzen des Nordirak etwa VG Oldenburg, Urteile vom 7. Juni 2017 - 3 A 3731/16 - sowie vom 28. Juni 2017 - 3 A 4969/16 ,- beide juris).

Das Bundesamt hat die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens daher zu Unrecht abgelehnt. Der angefochtene Bescheid vom 21. April 2016 ist aufzuheben.

Über die Hilfsanträge war nicht zu entscheiden, weil dem Hauptantrag des Klägers entsprochen wurde.