Sozialgericht Braunschweig
Urt. v. 22.11.2007, Az.: S 22 U 96/06
absolute Fahruntüchtigkeit; Alkohol; Alkoholeinfluss; Arbeitsunfall; Ausschluss des Versicherungsschutzes; Beweislast; Blutalkoholkonzentration; Entschädigungspflicht; Feststellungslast; Kausalität; relative Fahruntüchtigkeit; Unfallereignis; Verkehrsunfall; Versicherungsfall; Versicherungsschutz; Wegeunfall; Wegfall des Versicherungsschutzes
Bibliographie
- Gericht
- SG Braunschweig
- Datum
- 22.11.2007
- Aktenzeichen
- S 22 U 96/06
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2007, 71743
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 8 Abs 2 Nr 1 SGB 7
Tenor:
Der Bescheid der Beklagten vom 25. Januar 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Juni 2006 wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, das Unfallereignis vom 25. September 2005 als Versicherungsfall festzustellen.
Die Beklagte erstattet dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Anerkennung eines Verkehrsunfalls als Versicherungsfall.
Der am 09. Februar 1985 geborene Kläger ist ausgebildeter Landmaschinenmechaniker und absolvierte seit dem 01. August 2005 eine Ausbildung zum Landwirt. Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung befindet er sich in einer Umschulungsmaßnahme im Goslarer Beförderungswerk zum Qualitätsfachmann. Am Abend des 24. September 2005, einem Samstag, begab er sich um ca. 21.30 Uhr zu einem Herbstfest in seinem Heimatort Hoitlingen. Dort trank er nach eigenen Angaben ca. 2, 3 halbe Liter Weizenbier und 2, 3 Gläser gezapftes Bier (Pils). Gegen Mitternacht verließ er dieses Fest zusammen mit seiner Freundin und ging anschließend sofort in deren Wohnung zu Bett, wo er gegen 0.30 Uhr einschlief. Gegen 4.00 Uhr am Sonntag, den 25. September 2005, stand er auf, trank einen Kaffee und begab sich mit seinem Pkw auf direktem Wege zu seinem Ausbildungsbetrieb in 29320 Hermannsburg-Beckendorf. Arbeitsbeginn sollte an diesem Morgen 6.00 Uhr sein. In Höhe des Kilometersteins 34,00 auf der Landesstraße 280 aus Richtung Hagen/Sprakensehl kommend in Richtung B 191/Unterlüß, in 29365 Strakensehl, außerhalb einer geschlossenen Ortschaft, kam der Kläger von der Fahrbahn ab. Bei Kilometer 33,95 überfuhr er einen Leitpfahl, knickte eine im Seitenraum stehende junge Eiche ab, sein Pkw überschlug sich mehrmals und nach weiteren 50 Metern prallte das Fahrzeug mit der Bodengruppe, quer zur Längsrichtung, gegen einen starken Eichenbaum. Der Kläger selbst hat an den Unfallhergang keine Erinnerungen mehr. Augenzeugen sind nicht bekannt. Der Pkw wies einen unfallbedingten Totalschaden auf. Ausweislich des Unfallbefundberichts des Polizeikommissars G. vom 30. September 2005 waren auf dem Fahrbahnbelag keinerlei Bremsblockierspuren, Drift- oder Schleuderspuren erkennbar. Demnach beginne die Spurenzeichnung im Seitenraum. Dort komme der verunfallte Pkw des Klägers allmählich von der Fahrbahn ab und hinterlasse im Gras entsprechende Reifenabdruckspuren. Ein direkter Zusammenstoß des Pkw's mit Wild könne ausgeschlossen werden; gleichwohl befanden sich im Bereich der Unfallstelle frische Spuren vom Wild. Eine um 06.23 Uhr am Unfallmorgen durchgeführte Blutentnahme ergab eine Blutalkoholkonzentration des Klägers von 0,84 Promille (Befund des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Göttingen vom 28.09.2005, Bl. 11 staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakte), was zum Unfallzeitpunkt, ca. 1 1/2 Stunden früher, einer Blutalkoholkonzentration von ca. 1,0 Promille entspricht. Der Führerschein des Klägers wurde zunächst sichergestellt. Das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren wurde eingestellt.
Der Kläger wurde mit dem Notarztwagen zunächst in das Allgemeine Krankenhaus Celle verbracht. Es erfolgte eine Verlegung ins berufsgenossenschaftliche Unfallkrankenhaus Hamburg. Infolge des Unfalls leidet der Kläger an einer kompletten Querschnittslähmung.
Mit Bescheid vom 25. Januar 2006 lehnte die Beklagte die Anerkennung eines Versicherungsfalls sowie Entschädigungsleistungen ab. Zur Begründung führte sie aus, dass sich der Kläger zwar auf unmittelbarem Wege zur Arbeitsstätte befunden und damit grundsätzlich Versicherungsschutz bestanden habe. Doch sei der Verkehrsunfall wegen Fahruntüchtigkeit infolge von Übermüdung in Verbindung mit Alkoholeinfluss als allein wesentliche Ursache entstanden. Seinen Widerspruch hiergegen begründet der Kläger u.a. damit, dass er wohl einem Wild ausgewichen sei und dies Unfallursache sein könnte. Mit Widerspruchsbescheid vom 21. Juni 2006 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Der Kläger hat am 25. Juli 2006 Klage erhoben.
Der Kläger beantragt,
1. den Bescheid der Beklagten vom 25. Januar 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Juni 2006 aufzuheben und
2. das Unfallereignis vom 25. September 2005 als Versicherungsfall festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Hildesheim zum Aktenzeichen 7 Js 32949/05 beigezogen. Neben dieser Akte waren die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt dieser Akten sowie die Sitzungsniederschrift vom 22. November 2007 ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
Das Unfallereignis des Klägers vom 25. September 2005 ist ein sog. Wegeunfall im Sinne des § 8 Abs. 2 Nr. 1 Sozialgesetzbuch - Siebtes Buch (SGB VII). Der Bescheid der Beklagten vom 25. Januar 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Juni 2006 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Der Kläger befand sich auf dem direkten Weg zu seiner Ausbildungsstätte. Auch zwischen den Beteiligten herrscht Einigkeit darüber, dass grundsätzlich Versicherungsschutz besteht. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist der Versicherungsschutz auch nicht ausnahmsweise ausgeschlossen. Die Beklagte konnte nicht nachweisen, dass der Alkoholeinfluss am Vorabend des Unfallereignisses sowie der Umstand, dass der Kläger lediglich 3 1/2 Stunden vor Fahrtantritt geschlafen hatte, die allein wesentliche Bedingung für den Verkehrsunfall gewesen war. Sie trägt insoweit die Folgen ihrer Beweis- und Feststellungslast. Die hier vorliegende objektive Beweislosigkeit geht zu ihren Lasten.
Eine Beweiserleichterung ist zugunsten der Beklagten nicht anzunehmen. Denn eine absolute Fahruntüchtigkeit des Klägers ist nicht bewiesen. Diese wird erst ab einer Blutalkoholkonzentration von 1,1 Promille angenommen. Ausweislich der am Unfallmorgen durchgeführten Blutentnahme lag zum Unfallzeitpunkt jedoch lediglich eine Blutalkoholkonzentration von ca. 1,0 Promille vor.
Der Kläger war infolge seines vorherigen Alkoholkonsums relativ fahruntüchtig. Dieser Umstand kann zwar von überragender Bedeutung für den Eintritt des Unfallereignisses gewesen sein, so dass der Unfall nicht als durch die versicherte Zusammenhangskette wesentlich verursacht anzusehen wäre; doch setzte dies voraus, dass neben der Blutalkoholkonzentration aus weiteren Beweisanzeichen in Form von alkoholtypischen Ausfallerscheinungen darauf geschlossen werden kann, dass der Versicherte wegen der Folgen des Alkoholgenusses fahruntüchtig und damit der Alkoholgenuss die überragende Ursache für das Unfallereignis war; als Beweisanzeichen für eine derartige alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit können beispielsweise die Fahrweise des Versicherten, wie eine überhöhte Geschwindigkeit, das Fahren in Schlangenlinien, das plötzliche Bremsen, aber auch ein Verhalten vor, bei und nach dem eigentlichen Unfall angesehen werden (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 30.01.2007, Az.: B 2 U 23/05 R). Derartige Beweisanzeichen sind nicht festgestellt worden. Sie ergeben sich auch weder aus der polizeilichen Aufnahme der örtlichen Verhältnisse am Unfallmorgen, noch aus etwaigen Wahrnehmungen von Zeugen. Es sind auch keine Anhaltspunkte ersichtlich, wie derartige Beweisanzeichen nachträglich ermittelt werden könnten. Und selbst wenn derartige Beweisanzeichen vorlägen, beweist ein Fehlverhalten des Versicherten nur dann eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit, wenn es nicht ebenso gut andere Ursachen haben könnte, wie z.B. Unaufmerksamkeit, Leichtsinn, Übermüdung u.ä. (Bundessozialgericht, a.a.O., Rd-Nr. 23). Gegebenenfalls könnte insoweit eine etwaige Übermüdung des Klägers Berücksichtigung finden. Dieser Umstand schlösse eine Berufung auf die alkoholbedingte, relative Fahruntüchtigkeit des Klägers aus. Festzuhalten ist, dass die polizeilich festgestellte Fahrweise des Klägers unmittelbar vor und im Unfallzeitpunkt selbst, nämlich das allmähliche Abkommen von der Straße, gerade kein klares Beweiszeichen für eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit darstellt (vgl. BSG, a.a.O., Rd-Nr. 33).
Ebenso wenig vermag eine etwaige Übermüdung des Klägers im Unfallzeitpunkt den Versicherungsschutz auszuschließen. Diesbezüglich ist bereits zweifelhaft, ob der Kläger überhaupt übermüdet gewesen ist. Eine tatsächliche Übermüdung müsste zugunsten der Beklagten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen. Diese Gewissheit konnte die Kammer nicht erzielen. Das allmähliche Abkommen von der Fahrbahn hat auch insoweit lediglich indiziellen Charakter. Zwar könnte eine Übermüdung eine sog. selbst geschaffene Gefahr darstellen; doch müssten es ausschließlich betriebsfremde Zwecke sein, die diese selbst geschaffene erhöhte Gefahr herbeigeführt haben, um dem ursächlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall zu beseitigen und damit zum Fortfall des Versicherungsschutzes zu führen. Voraussetzung ist insoweit jedoch, dass die Übermüdung dann nicht auf die versicherte Tätigkeit, sondern ausschließlich auf betriebsfremde Umstände zurückzuführen wäre (Bundessozialgericht, Urteil vom 29. Oktober 1986, Az.: 2 RU 43/85, Rd-Nrn. 18, 19). Doch ist vorliegend nicht auszuschließen, dass bereits der frühe Arbeitsbeginn um 6.00 Uhr bei einer erforderlichen Wegstrecke von ca. 80 Kilometern zwischen Wohnort und Arbeitsplatz zwangsläufig eine Müdigkeit nach sich gezogen hat. Betriebsbedingt nämlich musste der Kläger am Unfallmorgen um 4.00 Uhr aufstehen.
Es kann schließlich dahinstehen, ob der Kläger einem kreuzenden Wildtier ausgewichen und der Unfall infolge dessen herbeigeführt worden ist. Ein Indiz für diese Annahme sind die frischen Spuren vom Wild im Bereich der Unfallstelle am Unfallmorgen sowie der Umstand, dass im Streckenabschnitt der Unfallstelle grundsätzlich starkes Wildaufkommen vorherrscht. Bereits diese nicht absolut fern liegende Möglichkeit schließt eine Gewissheit dahingehend aus, dass der Unfall allein aufgrund einer alkoholbedingten relativen Fahruntüchtigkeit oder einer etwaigen Übermüdung herbeigeführt worden ist. Es ist durchaus möglich, dass neben dem Alkoholgenuss und der etwaigen nicht betriebsbedingten Übermüdung weitere Ursachen zum Unfallereignis geführt haben (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 30.09.1980, Az.: 2 RU 31/78).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Berufung ist zulässig, § 143 SGG.