Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 26.06.2014, Az.: 16 U 47/14
Feststellung des Verschuldens im Amtshaftungsprozess
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 26.06.2014
- Aktenzeichen
- 16 U 47/14
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2014, 36222
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2014:0626.16U47.14.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Hannover - 24.02.2014
Rechtsgrundlage
- BGB § 839
Amtlicher Leitsatz
1. Nicht jeder objektive Rechtsirrtum begründet einen Schuldvorwurf. Wenn die nach sorgfältiger Prüfung gewonnene Rechtsansicht des Amtsträgers als rechtlich vertretbar angesehen werden kann, dann kann aus der Missbilligung dieser Rechtsauffassung durch die Gerichte ein Schuldvorwurf nicht hergeleitet werden. Die Verneinung des Schuldvorwurfs setzt demnach voraus, dass die letztlich als unzutreffend erkannte Rechtsmeinung nicht nur vertretbar, sondern auch aufgrund sorgfältiger rechtlicher und tatsächlicher Prüfung gewonnen worden ist.
2. Eine unrichtige Gesetzesauslegung ist nur dann vorwerfbar, wenn sie gegen den klar bestimmten, unzweideutigen Wortlaut einer Vorschrift oder gegen eindeutige höchstrichterliche Rechtsprechung verstößt.
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das am 24. Februar 2014 verkündete Urteil des Landgerichts Hannover wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Das Urteil und das Urteil des Landgerichts sind vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 115 % des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 115 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Berufungswert: 173.284 €.
Gründe
I.
Die Klägerin nimmt das beklagte Land (im Folgenden: Beklagte) auf Schadensersatz wegen Amtspflichtverletzung in Anspruch. Hintergrund ist ein Streit der Parteien um die Festsetzung der Umsatzsteuer für das Jahr 2001, die das Finanzamt S. mit Bescheid vom 25.08.2003 auf 118.484,22 € festgesetzt hat. Nach teilweiser Abänderung durch das angerufene Finanzgericht (Ermäßigung der Umsatzsteuer auf noch 63.781,86 €, Anlage K 14) hat der BFH mit Urteil vom 10.11.2010 entschieden, dass die Umsatzsteuer auf 56.014,15 € festgesetzt wird (Anlage K 1). Die Kosten des gesamten Verfahrens hatte danach das Finanzamt zu tragen, die in Höhe der dort festgesetzten Kosten mit 8.575,11 € auch ausgeglichen worden sind.
Mit der Klage verlangt die Klägerin den Ersatz weitergehender Schäden (Rechtsverfolgungskosten, Steuerberatungskosten, betriebliche Aufwendungen, Bürgschaftskosten sowie vorfinanzierte Umsatzsteuerzahlungen) in Höhe von insgesamt 173.284,50 € nebst Zinsen.
Sie ist der Auffassung, das Finanzamt habe schuldhaft seine Pflichten verletzt, weil es § 4 Nr. 3 Satz 1 a, aa UStG nicht auf die Klägerin angewandt habe, wonach die streitigen Umsätze bei zutreffender Gesetzesanwendung von der Steuer befreit waren (so der BFH in dem von der Klägerin erstrittenen Urteil). Zum anderen liege eine schuldhafte Pflichtverletzung auch darin, dass das Finanzamt entgegen § 3 a Abs. 1 Satz 2 UStG eine unzutreffende Bestimmung des Leistungsorts vorgenommen habe. Schließlich stehe der Klägerin auch ein unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch zu.
Das Landgericht, auf dessen Urteil gemäß § 540 ZPO wegen der weiteren Einzelheiten verwiesen wird, hat die Klage abgewiesen. Zwar liege eine objektive Amtspflichtverletzung durch die geschehene Steuerfestsetzung vor. Diese sei aber nicht schuldhaft erfolgt. Aus den gleichen Gründen scheide auch ein unionsrechtlicher Haftungsanspruch im Ergebnis aus.
Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin, mit der sie unter Wiederholung und Vertiefung ihres bereits erstinstanzlichen Vorbringens die Klageforderung in voller Höhe weiter verfolgt.
Die Klägerin beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 173.284,50 € nebst Zinsen in Höhe von 103.821,65 € bis zum 17.08.2012 sowie weitere Zinsen in Höhe von 8 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 18.08.2012 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil als richtig.
II.
Die Berufung ist nicht begründet.
Die Entscheidung des Landgerichts ist nicht zu beanstanden. Das Landgericht hat mit Recht festgestellt, dass weder die Voraussetzungen eines Anspruchs aus Amtspflichtverletzung nach § 839 BGB, Art. 34 GG, noch diejenigen eines unionsrechtlichen Haftungsanspruches vorliegend erfüllt sind. Das Vorbringen der Berufung rechtfertigt insoweit keine abweichende Beurteilung zugunsten der Klägerin.
1. Ansprüche nach § 839 BGB scheiden jedenfalls aus, weil ein Verschulden bei der Rechtsanwendung durch die Finanzbehörden nicht feststellbar ist.
Nach der Rechtsprechung des BGH ist jeder Inhaber eines öffentlichen Amtes bei der Gesetzesauslegung und Rechtsanwendung verpflichtet, die Gesetzes- und Rechtslage unter Zuhilfenahme der ihm zu Gebote stehenden Hilfsmittel sorgfältig und gewissenhaft zu prüfen und danach aufgrund vernünftiger Überlegungen sich eine Rechtsmeinung zu bilden. Dabei begründet nicht jeder objektive Rechtsirrtum einen Schuldvorwurf. Wenn die nach sorgfältiger Prüfung gewonnene Rechtsansicht des Amtsträgers als rechtlich vertretbar angesehen werden kann, dann kann aus der Missbilligung dieser Rechtsauffassung durch die Gerichte ein Schuldvorwurf nicht hergeleitet werden. Die Verneinung des Schuldvorwurfs setzt demnach voraus, dass die letztlich als unzutreffend erkannte Rechtsmeinung nicht nur vertretbar, sondern auch aufgrund sorgfältiger rechtlicher und tatsächlicher Prüfung gewonnen worden ist (vgl. BGHZ 119, 365, 369 f.).
a) Gemessen daran kann in der Nichtanwendung der Steuerbefreiungsvorschrift des § 4 Nr. 3 a, aa UStG kein Verschulden des Amtsträgers gesehen werden. Der Senat folgt dabei der Argumentation des Landgerichts, dass die Nichtanwendung dieser Vorschrift jedenfalls vertretbar war. Der Umstand, dass erstmals mit der Entscheidung des BFH vom 10.11.2010 für den hier vorliegenden Fall eine Steuerbefreiung anerkannt worden ist und sich deshalb die Steuerfreiheit für die Klägerin ergab, vermag daher ein schuldhaftes Verhalten bei der Rechtsanwendung nicht zu begründen.
Entgegen der Ansicht der Klägerin war der Wortlaut des § 4 Nr. 3 a, aa UStG nicht offenkundig und zweifelsfrei auf die Kontrollleistungen der Klägerin als KÜG anzuwenden, so dass hier eindeutig eine Steuerbefreiung anzunehmen war. Dies ist erstmals durch die Entscheidung des BFH vom 10.11.2010 im Sinne der Klägerin entschieden worden. Die Klägerin vermag denn auch keine Entscheidung der finanzgerichtlichen Rechtsprechung oder Stimmen der Literatur dafür anzubringen, die schon vor der Entscheidung des BFH eine hier geltende Steuerbefreiung ins Feld geführt hätten. Dies gilt auch für die von der Klägerin zitierten Umsatzsteuer-Richtlinien 2000 (Abschnitte 47 und 48) und die zitierte Kommentarliteratur, die ausdrücklich die handelsüblichen Nebenleistungen nennt, "die bei grenzüberschreitenden Güterbeförderungen oder bei den zuvor genannten Leistungen vorkommen (z. B. Wiegen, Messen, Probeziehen oder Anmelden zur Abfertigung zum freien Verkehr)". Die hier streitigen Leistungen sind dort mithin gerade nicht ausdrücklich benannt.
Auch die Rechtsberater der Klägerin hatten selbst diese Steuerbefreiung keineswegs als anwendbar bezeichnet oder auch nur darauf hingewiesen. Soweit die Klägerin erstmals in der Berufung (Schriftsatz vom 28.05.2014) etwas anderes behauptet, ist sie mit diesem Vortrag nach § 531 Abs. 2 ZPO ausgeschlossen. Im Übrigen fehlt es dazu auch an einem Beweisantritt. Das nunmehr in Ablichtung vorgelegte Schreiben der T. war nicht an die Finanzbehörden gerichtet, sondern an die Klägerin. In der mündlichen Verhandlung hat die Beklagte in Abrede genommen, ein solches Schreiben erhalten zu haben.
Entscheidend blieb somit die gebotene Auslegung der Norm, ob sich die Leistungen der Klägerin im Sinne des § 4 UStG "unmittelbar auf Gegenstände der Ausfuhr beziehen". Dies wurde - wie bereits ausgeführt - im Allgemeinen angenommen für die handelsüblichen Nebenleistungen, die bei Güterbeförderungen aus dem Inland in das Drittland vorkommen, wie beispielsweise Wiegen, Messen oder Probeziehen. Mit Recht hat das Landgericht auch darauf hingewiesen, dass seit der Entscheidung des BFH (XI R 55/07 vom 27.02.2008) es nicht mehr darauf ankommen soll, ob es sich um eine handelsübliche Nebenleistung zu einer Güterbeförderung als Hauptleistung handelt, aber ein unmittelbarer Bezug der Leistung zu Gegenständen der Ausfuhr erforderlich ist, wobei ein Bezug zu Beförderungsmitteln als nicht ausreichend angesehen wurde. Gemessen an dieser späteren Rechtsprechung des BFH muss es aber bis zur Klarstellung durch den BFH vom 10.11.2010 als ohne weiteres vertretbare Auslegung angenommen werden, dass die Leistungen der Klägerin als KÜG nicht als sich unmittelbar auf Gegenstände der Ausfuhr beziehend eingeordnet worden sind. Denn die Leistungen bezogen sich auf die von den Auftraggebern der Klägerin zu erlangende Bescheinigung (Nachweise über die Ausfuhr von Waren in Drittländer), um schließlich Subventionen zu erhalten.
Auch aus der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung im Hinblick auf Art. 15 Nr. 13 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG lassen sich keine Gesichtspunkte für ein schuldhaftes Verhalten herleiten, denn diese Richtlinie stellt fast wortgleich mit der Regelung im Umsatzsteuerrecht darauf ab, dass die Leistungen unmittelbar mit der Ausfuhr von Gegenständen zusammenhängen. Nach der Entscheidung des BFH vom 27.02.2008 ist auch davon auszugehen, dass der Richtlinie kein weitergehender Bedeutungsgehalt als der Steuerbefreiung im nationalen Recht zukommt. Die Finanzbehörden mussten daher auch aus der Richtlinie nicht auf eine Steuerbefreiung der Leistungen der Klägerin notwendiger Weise schließen, wenn sie denn in vertretbarer Weise der Auffassung waren, dass sich dies aus dem nationalen Steuerrecht nicht ergab.
Mit zutreffenden Erwägungen hat das Landgericht auch aus dem Umstand, dass die Finanzbehörden die Frage der etwaigen Steuerfreiheit der Leistungen mit nur kurzer Begründung verneint hatten, nicht auf ein Verschulden geschlossen. Denn auf der Grundlage der bisherigen Rechtsauffassung - auch der Klägerin selbst, die diese Frage auch gar nicht in den Raum gestellt hatte - musste dies nicht notwendiger Weise eingehender begründet werden. Dies schließt aber nicht aus, dass die Behörden die Frage tatsächlich auch geprüft, aber eben verneint hatten.
Es bleibt deshalb dabei, dass eine unrichtige Auslegung nur dann vorwerfbar ist, wenn sie gegen den klar bestimmten, unzweideutigen Wortlaut einer Vorschrift oder gegen eindeutige höchstrichterliche Rechtsprechung verstößt. Dieses lässt sich hier mit Blick auf die streitige Steuerbefreiung indessen nicht feststellen.
Für die Beklagte streitet schließlich auch die sog. Kollegialgerichtsrichtlinie, denn auch das Finanzgericht hat offensichtlich in seiner Entscheidung die streitigen Leistungen als steuerbar und nicht umsatzsteuerbefreit angesehen; anderenfalls hätte es sich nicht mit der Steuerbarkeit der Nicht-Betriebsstätten-Umsätze befassen müssen. Der Anwendung der Kollegialgerichtsrichtlinie steht daher auch nicht entgegen, dass in dem Urteil des FG die Frage der Steuerbefreiung nicht ausdrücklich angesprochen worden ist, denn dies war auch zuvor im Verfahren nicht Gegenstand der streitigen Auseinandersetzung.
b) Auch zur Anwendung des § 3 a Abs. 1 Satz 2 UStG fehlt es jedenfalls an einem schuldhaften Verhalten. Das Finanzamt hatte sich aufgrund der Steuerprüfung (Anlage B 3) auf den Standpunkt gestellt, dass die durch angestellte Mitarbeiter der im Drittland unterhaltenen Betriebsstätten durchgeführten Entladekontrollen (St. P. und M.) im Rahmen der Steuerprüfung nicht hätten festgestellt werden können. Der Ort der Leistung richte sich daher nach § 3 a Abs. 1 Satz 1 UStG und sei daher umsatzsteuerbar. Auf die Frage, ob dort freie Mitarbeiter oder Angestellte die Kontrollen durchführen, kam es ersichtlich nicht an. Das Finanzamt hat darauf auch offenbar nicht abgestellt, sondern allein darauf, ob solche Umsätze feststellbar seien. Das ergibt sich auch aus dem Einspruchsbescheid (Anlage K 13). Es war ungeklärt, wie die Tätigkeit der Klägerin an ihrem Hauptsitz im Verhältnis zu den Tätigkeiten am Ort der Betriebsstätten zu gewichten war.
Diese Frage ist allerdings erst im Rahmen des finanzgerichtlichen Verfahrens zwischen den Parteien geklärt worden. Dort haben sich die Parteien auf entsprechende Hinweise des Finanzgerichts schließlich darauf geeinigt, dass 95 % der Umsätze der Betriebsstätten in M. und St. P. nicht steuerbar sind (Urteil des FG Seite 5, Anlage K 14).
Die von den Finanzbehörden danach im Rahmen des Klageverfahrens geänderte Rechtsauffassung beruhte deshalb auf erst hierdurch gewonnenen Informationen seitens der Klägerin. Das belegt zugleich, dass die zuvor eingenommene Rechtsansicht der Beklagten nicht als schuldhaft fehlerhaft angesehen werden kann. Denn der Klägerin oblag hier eine aus § 90 Abs. 2 AO folgende Sachaufklärungs- und Beweismittelbeschaffungspflicht, der sie erst im Rahmen des finanzgerichtlichen Verfahrens nachgekommen ist, so dass man sich auf die genannte Quote verständigen konnte. Diese danach geänderte Rechtsauffassung kann folglich nicht als schuldhaft bezeichnet werden.
2. Schließlich liegt auch ein unionsrechtlicher Haftungsanspruch im Ergebnis nicht vor.
Denn nach den obigen Ausführungen fehlt es bereits an einem hinreichend qualifizierten Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht. Dieser wäre nur dann anzunehmen, wenn die Finanzbehörden eine klare und eindeutige Bestimmung des Gemeinschaftsrechts übersehen oder falsch angewandt hätten. Eine offenkundige und erhebliche Überschreitung des Ermessens der Behörde liegt ersichtlich nicht vor. Dies folgt aus den obigen Ausführungen, auf die verwiesen werden kann. Dabei ist auch von Belang, dass ein Verschulden nicht feststellbar ist.
3. Zur Höhe weist der Senat vorsorglich darauf hin, dass die Klägerin auch unter dem Gesichtspunkt der Amtshaftung hinsichtlich der im Wesentlichen geltend gemachten Kosten der Rechtsverfolgung - soweit nicht bereits durch die erfolgte Kostenerstattung im finanzgerichtlichen Verfahren ausgeglichen - keine weitergehenden Ansprüche herzuleiten vermag.
Nach der Rechtsprechung des BFH (VIII R 8/07) ist für einen materiell-rechtlichen Kostenerstattungsanspruch grundsätzlich kein Raum, wenn es um Kosten geht, die durch Einleitung und Führung eines Prozesses ausgelöst werden. Deren Erstattung richtet sich ausschließlich nach prozessrechtlichen Grundsätzen. Die Kosten des finanzgerichtlichen Verfahrens können danach nicht Gegenstand eines anschließenden Schadensersatzprozesses sein. Dies gilt nach der Entscheidung des BFH auch für die Kosten des Vorverfahrens.
Für die von der Klägerin mit 118.378,03 € bezifferten Rechtsverfolgungskosten fehlt es mithin offensichtlich an einer Rechtsgrundlage.
4. Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 97, 711, ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.