Sozialgericht Lüneburg
Beschl. v. 06.03.2023, Az.: S 26 AY 2/23 ER
Dauerhafter Aufenthalt; Kurzaufenthalt; Visumfreie Einreise; vollziehbar ausreisepflichtig; Leistungen nach dem AsylbLG bei visumsfreier Einreise
Bibliographie
- Gericht
- SG Lüneburg
- Datum
- 06.03.2023
- Aktenzeichen
- S 26 AY 2/23 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2023, 14477
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE::2023:0306.26AY2.23.00
Rechtsgrundlagen
- AsylbLG § 1
- EU-VisaVO
Fundstelle
- SAR 2023, 69-72
In dem Rechtsstreit
A.,
B.
- Antragstellerin -
Prozessbevollmächtigter:
C.,
D.
gegen
Landkreis Heidekreis,
vertreten durch den Landrat,
Vogteistaße 17, 29683 Bad Fallingbostel
- Antragsgegner -
hat die 26. Kammer des Sozialgerichts Lüneburg am 6. März 2023 durch den Richter am Sozialgericht E. beschlossen:
Tenor:
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der zulässige Antrag ist unbegründet.
Nach § 86b Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies ist der Fall, wenn ohne den vorläufigen Rechtsschutz dem Betroffenen eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 mwN). Die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs - die Rechtsposition, deren Durchsetzung im Hauptsacheverfahren beabsichtigt ist - sowie des Anordnungsgrundes - die Eilbedürftigkeit für eine Entscheidung durch einstweiligen Rechtsschutz - sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Zivilprozessordnung).
Hiervon ausgehend ist der Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) im einstweiligen Rechtsschutz abzulehnen, weil ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft dargelegt ist. Die Antragstellerin gehört nicht den Leistungsberechtigten, die Anspruch auf Leistungen nach diesem Gesetz haben.
Nach § 1 Abs. 1 AsylbLG sind leistungsberechtigt Ausländer, die sich tatsächlich im Bundesgebiet aufhalten und die
1. | eine Aufenthaltsgestattung nach dem Asylgesetz (AsylG) besitzen, |
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1a. | ein Asylgesuch geäußert haben und nicht die in den Nummern 1, 2 bis 5 und 7 genannten Voraussetzungen erfüllen, |
2. | über einen Flughafen einreisen wollen und denen die Einreise nicht oder noch nicht gestattet ist, |
3. | eine Aufenthaltserlaubnis besitzen |
a) wegen des Krieges in ihrem Heimatland nach § 23 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes, | |
b) nach § 25 Absatz 4 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) oder | |
c) nach § 25 Absatz 5 AufenthG, sofern die Entscheidung über die Aussetzung ihrer Abschiebung noch nicht 18 Monate zurückliegt, | |
4. | eine Duldung nach § 60a AufenthG besitzen, |
5. | vollziehbar ausreisepflichtig sind, auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar ist, |
6. | Ehegatten, Lebenspartner oder minderjährige Kinder der in den Nummern 1 bis 5 genannten Personen sind, ohne dass sie selbst die dort genannten Voraussetzungen erfüllen, |
7. | einen Folgeantrag nach § 71 AsylG oder einen Zweitantrag nach § 71a AsylG stellen oder |
8. | |
a) eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Absatz 1 AufenthG besitzen, die ihnen nach dem 24. Februar 2022 und vor dem 1. Juni 2022 erteilt wurde, oder | |
b) eine entsprechende Fiktionsbescheinigung nach § 81 Absatz 5 in Verbindung mit Absatz 3 oder Absatz 4 AufenthG besitzen, die nach dem 24. Februar 2022 und vor dem 1. Juni 2022 ausgestellt wurde, |
und bei denen weder eine erkennungsdienstliche Behandlung nach § 49 AufenthG oder nach § 16 des Asylgesetzes durchgeführt worden ist, noch deren Daten nach § 3 Absatz 1 des AZR-Gesetzes gespeichert wurden; das Erfordernis einer erkennungsdienstlichen Behandlung gilt nicht, soweit eine erkennungsdienstliche Behandlung nach § 49 AufenthG nicht vorgesehen ist.
Die Antragstellerin ist als Staatsangehörige der Republik Serbien Ausländerin im Sinne der Vorschrift und hält sich ihren Angaben zufolge in der Bundesrepublik Deutschland bei ihrem Bruder auf. Sie verfügt jedoch über keinen in § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 8 AsylbLG aufgeführten Aufenthaltsstatus, der ihr eine Leistungsberechtigung verschafft. Sie besitzt keine Aufenthaltsgestattung, hat ein Asylgesuch nicht geäußert und einen Asyl- bzw. Asylfolgeantrag nicht gestellt. Mit Schreiben ihrer Bevollmächtigten vom 09. November 2022 hat sie zwar die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, hilfsweise einer Duldung beantragt, doch reicht nach dem klaren Wortlaut der Vorschriften § 1 Abs. 1 Nr. 3 und 4 AsylbLG die bloße Beantragung für eine Leistungsberechtigung nicht aus und verfügt sie über Duldung bzw. Aufenthaltserlaubnis bislang nicht; vielmehr ist nach den Ausführungen des Antragsgegners deren Ablehnung beabsichtigt.
Ein Leistungsanspruch ergibt sich weiterhin nicht aus § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG. Die letzte Einreise in die Bundesrepublik Deutschland erfolgte offenbar als sog. Drittstaatsangehörige nach Art. 4 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2018/1806 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 14. November 2018 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind (EU-VisaVO) i.V.m. Anhang II der EU-VisaVO. Danach bedurfte sie als serbische Staatsangehörige für die Einreise nach Deutschland und den weiteren Aufenthalt keinen Titel bzw. Visum, wenn der bei Einreise beabsichtigte Aufenthaltszweck auf einen Kurzaufenthalt von 90 Tagen im Zeitraum von je 180 Tagen gerichtet war. Auch wenn sich der genaue Zeitpunkt ihrer Einreise nicht feststellen lässt, ist der Zeitraum von 90 Tagen verstrichen und ist sie nunmehr zur Ausreise verpflichtet, jedoch ist die Ausreiseverpflichtung zzt. nicht vollziehbar.
Etwas anderes würde gelten, wenn ein dauerhafter Aufenthalt schon bei der Einreise beabsichtigt war; für diesen Fall ist die Ausreisepflicht kraft Gesetzes vollziehbar, § 58 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Eine titel- bzw. visumfreie Einreise ist nur dann als erlaubt anzusehen, wenn der beabsichtigte Aufenthaltszweck auf einen Kurzaufenthalt gerichtet ist (vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 11. November 2015, Az.: 18 B 387/15 -, Rn. 5, juris; Verwaltungsgericht (VG) Aachen, Beschluss vom 15. Dezember 2022, Az.: 8 L 530/22 -, Rn. 15, juris). Für die Befreiung von der Visumpflicht nach Art. 1 Abs. 2 EU-VisaVO ist nicht allein in objektiver Sicht die Angehörigkeit der betroffenen Person zu einem der in der Liste des Anhangs II der EU-VisaVO aufgeführten Staaten maßgeblich, sondern auch die mit dem Aufenthalt in Deutschland verbundenen Absichten bzw. Vorstellungen im Zeitpunkt der Einreise. Beabsichtigt der Ausländer schon bei der Einreise einen längerfristigen Aufenthalt, der wegen der Überschreitung des zeitlichen Rahmens eines Visums bedurft hätte, ist bereits die Einreise unerlaubt und besteht für die Anwendbarkeit der Befreiungsvorschrift des Art. 1 Abs. 2 EU-VisaVO kein Raum (vgl. VG Aachen a.a.O.; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28. August 2014, Az.: L 8 AY 53/14 B ER -, Rn. 16, juris). Vorliegend bestehen durchaus Zweifel, ob sich die Antragstellerin auf die Befreiungsvorschrift berufen kann, da sie ihren Angaben zufolge eingereist ist, um bei ihrem Bruder zu wohnen und ihn und seine Frau zu unterstützen. Daraus ergibt sich aber nicht zwingend, dass ein Daueraufenthalt schon bei der Einreise beabsichtigt war; dagegen spricht, dass sie im Heimatland über eigene Rentenansprüche verfügt und sich am 12. Dezember 2023, also erst ca. 4 Monate nach der behaupteten Einreise im August 2023, bei der Meldebehörde der Stadt Munster angemeldet hat.
Ein Anordnungsanspruch aus einer analogen Anwendung der Vorschrift kommt ebenfalls nicht in Betracht, da es sich bei § 1 AsylbLG um eine abschließende Regelung handelt, die wegen ihres Ausnahmecharakters auf weitere, nicht in Abs.?1 genannte Ausländergruppen nicht analog anwendbar ist (Birk in LPK-SGB XII, 12. Aufl. 2020, AsylbLG § 1 Rn. 1; Leopold in Grube/Wahrendorf/Flint/Leopold, 7. Aufl. 2020, AsylbLG § 1 Rn. 15).
Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) stehen der Antragstellerin schon deswegen nicht zu, da sie nach § 7 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB II von den Leistungen ausgenommen ist und zudem über keine Erlaubnis zur Aufnahme einer Beschäftigung verfügt (§ 8 Abs. 2 SGB II), die nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II Leistungsvoraussetzung ist. Ferner besteht für sie auch kein Anspruch auf Sozialhilfe für Ausländerinnen und Ausländer gemäß § 23 Sozialgesetzbuch, Zwölftes Buch (SGB XII), da sie kein Aufenthaltsrecht hat und daher von der Leistungsberechtigung ausgeschlossen ist, § 23 Abs. 3 Nr. 2 SGB XII.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von §§ 183, 193 SGG.