Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 29.08.2019, Az.: 1 Ws 206/19

Keine Rechtsgrundlage für Vollstreckung von Strafen im Maßregelvollzug; Suizidgefahr eines im Strafvollzug befindlichen Inhaftierten kann nicht im Maßregelvollzug begegnet werden

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
29.08.2019
Aktenzeichen
1 Ws 206/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 47118
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG Göttingen - 22.07.2019

Amtlicher Leitsatz

§ 67 Abs. 5 S. 2 Hs.1 StGB ist auch bei der konkreten Gefahr der Selbsttötung keine Grundlage für die Vollstreckung von Strafen im Maßregelvollzug. Der Gefahr eines Suizids ist vielmehr mit den therapeutischen Möglichkeiten des Strafvollzugs und durch besondere Sicherungsmaßnahmen zu begegnen.

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Hildesheim wird der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen vom 22. Juli 2019 aufgehoben, soweit unter Ziffer 3 (Satz 2) die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Hildesheim vom 30. November 2015 (108 Ls 17 Js 32979/15) im Maßregelvollzug angeordnet wurde.

Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst.

Gründe

I.

Der Verurteilte (nachfolgend auch Beschwerdegegner) wurde am 30. November 2015 vom Amtsgericht Hildesheim wegen Diebstahls in 8 Fällen und wegen räuberischen Diebstahls in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten belegt. Zugleich wurde seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet.

Durch den angefochtenen Beschluss vom 22. Juli 2019, auf dessen Einzelheiten verwiesen wird, hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen zunächst festgestellt, dass die Maßregel mit Erreichen der verlängerten Höchstfrist (§ 67 d Abs.4 S.1 StGB) erledigt ist. Darüber hinaus hat sie es abgelehnt, den Strafrest aus der genannten Verurteilung zur Bewährung auszusetzen. Die Kammer hat schließlich bestimmt, dass die Reststrafe gemäß § 67 Abs. 5 S. 2 StGB im Maßregelvollzug zu vollstrecken sei (Ziffer 3 Satz 2 des Tenors).

Gegen diesen Beschluss, der ihr am 24. Juli 2019 zugestellt worden ist, hat die Staatsanwaltschaft Hildesheim bereits mit Verfügung vom 23. Juli 2019 - Eingang bei Gericht am 24. Juli 2019 - sofortige Beschwerde eingelegt, nachdem ihr der Beschluss schon am 23. Juli 2019 formlos übermittelt worden war.

Trotz Ablaufs der verlängerten Höchstfrist, die mit dem 8. August 2019 errechnet wurde, wird der Strafrest weiterhin im Maßregelvollzug vollstreckt, weil der Verurteilten am 7. August 2019 psychisch dekompensierte und auf die Kriseninterventionsstation aufgenommen wurde. Es habe sich - so die Stellungnahme des Maßregelvollzugszentrums M - eine akute Suizidalität ergeben, nachdem dem Beschwerdegegner in Aussicht gestellt worden sei, dass er am nächsten Tag in eine Justizvollzugsanstalt verlegt werde.

Das Maßregelvollzugszentrum M unterstützt in der aktuellen Stellungnahme vom 15. August 2019 die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer. Der Verurteilte leide an einer undifferenzierten Schizophrenie, was das Amtsgericht Hildesheim vor der Unterbringung gemäß § 64 StGB, für die der Verurteilte zu schwach sei, nicht erkannt habe. Erst die Behandlung mit Neuroleptika habe ihn einigermaßen stabilisieren können. Es sei zu befürchten, dass der Verurteilte in einer Justizvollzugsanstalt scheitern werde.

Der Verteidiger hat ebenfalls die Verwerfung des Rechtsmittels begehrt. Er vertritt in seinem Schriftsatz vom 22. August 2019 die Ansicht, dass die Vollstreckung der Reststrafe in einer Justizvollzugsanstalt eine unbillige Härte für den Verurteilten sei. Im Strafvollzug fehlten die krankheitsspezifischen Resozialisierungsmöglichkeiten; die bereits erzielten Behandlungserfolge würden gefährdet. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den genannten Schriftsatz verwiesen.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat demgegenüber beantragt wie erkannt. Sie ist der Auffassung, dass das Gesetz eine Vollstreckung von Reststrafen im Maßregelvollzug nicht vorsehe.

II.

Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Hildesheim ist gemäß §§ 463 Abs. 6 S. 1, 462 Abs. 3 S. 1 StPO statthaft und auch sonst zulässig. Das Rechtsmittel ist am 24. Juli 2019 form- und fristgerecht bei der Strafvollstreckungskammer angebracht worden.

Die Staatsanwaltschaft Hildesheim konnte die sofortige Beschwerde wirksam auf die Anfechtung von Ziffer 3 S. 2 des Beschlusses der Strafvollstreckungskammer beschränken. Die Frage, ob Reststrafen nach Erledigung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wegen Erreichens der verlängerten Höchstfrist im Maßregelvollzug vollstreckt werden können, kann losgelöst von den übrigen Teilen der Entscheidung beantwortet werden (OLG Braunschweig, Beschluss vom 03.06.2019, 1 Ws 39/19, juris, Rn.30; OLG Hamburg, Beschluss vom 07.06.2018, 2 Ws 42/18, juris, Rn. 18).

Das Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg, weil die Strafvollstreckungskammer zu Unrecht die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe im Maßregelvollzug angeordnet hat. Der Senat verweist insoweit auf den Beschluss vom 3. Juni 2019 (1 Ws 39/19, juris), in dem ausgeführt wurde, dass § 67 Abs. 5 S. 2 Hs.1 StGB keine Grundlage für die Vollstreckung von Strafen im Maßregelvollzug bietet. Die Vorschrift ermöglicht lediglich unter den Voraussetzungen des § 67 Abs. 5 StGB die Fortsetzung der Maßregelvollstreckung, deren Dauer aber durch die einzelnen Erledigungstatbestände des § 67 d StGB (hier der Ablauf der verlängerten Höchstfrist, § 67 d Abs. 4 S. 1 StGB) begrenzt wird.

Die Vollstreckung von Strafe im Maßregelvollzug mag sich in Einzelfällen als sinnvoll erweisen. Sie findet im geltenden Recht jedoch keine Grundlage. Es besteht insbesondere auch nicht die Möglichkeit, einen Erkrankten gemäß § 67 a StGB aus dem Strafvollzug in den Vollzug einer Maßregel zu überweisen (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 21.12.1990 [= MDR 1991, 892], das ebenfalls einen Fall der Schizophrenie zu beurteilen hatte und ausdrücklich von einer "Gesetzeslücke" ausgeht).

Der Erkrankung des Verurteilten wird daher vorrangig mit den therapeutischen Möglichkeiten des Strafvollzugs zu begegnen sein; erst wenn diese erschöpft sind, wird die Unterbrechung der Strafvollstreckung (§ 455 Abs. 4 S. 1 StPO) zu erwägen sein (OLG Karlsruhe, a.a.O.). Die konkrete Gefahr der Selbsttötung ist im Strafvollzug durch besondere Sicherungsmaßnahmen abzuwenden (§ 81 NJVollzG).

III.

Eine Kosten- und Auslagenentscheidung ist nicht veranlasst. Die Kosten des zu Ungunsten des Verurteilten eingelegten Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft gehören zu den Verfahrenskosten, die dieser nach § 465 Abs. 1 S. 1 StPO zu tragen hat. Von den dem Verurteilten im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen wird er nicht entlastet (vgl. BGHSt 19, 226; OLG Braunschweig, 1 Ws 39/19, juris, Rn. 32; KG, Beschluss vom 17.03.2017, 5 Ws 67/17, juris, Rn. 8, wistra 2017, 363; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 473 Rn. 15).