Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 26.08.2019, Az.: 1 Ws 154/19

Prüfung des Spezialitätsgrundsatzes bei Hinderung der Haftvollstreckung; Verlust des Spezialitätsschutzes bei Ausreise

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
26.08.2019
Aktenzeichen
1 Ws 154/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 61640
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGBS:2019:0826.1WS154.19.00

Verfahrensgang

vorgehend
LG Braunschweig - 11.06.2019

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Der Regelungsbereich des § 83h Abs. 2 Nr. 1 IRG endet mit der Ausreise des Ausgelieferten aus dem ersuchenden Staat und steht seiner Festnahme auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls im Ausland nicht entgegen.

  2. 2.

    Die Vorschrift des § 83h Abs. 2 Nr. 1 IRG entspricht derjenigen des Art. 14 Abs. 1 lit b) EUAlÜbk, so dass beide Vorschriften gleich auszulegen sind.

  3. 3.

    Der Erlass eines Haftbefehls vor Zustimmung des ersuchten Staates verstößt nicht gegen den Spezialitätsgrundsatz. Die Zustimmung muss erst dann vorliegen, wenn die Freiheit des Verfolgten durch den Haftbefehls beschränkt wird.

Tenor:

Die weitere Beschwerde des Beschuldigten gegen den Beschluss des Landgerichts Braunschweig vom 11. Juni 2019 wird auf seine Kosten als unbegründet verworfen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Braunschweig erließ gegen den Beschwerdeführer (nachfolgend auch: Beschuldigten) am 05. Dezember 2018 einen Haftbefehl wegen des dringenden Verdachtes der schweren Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung sowie der räuberischen Erpressung, gestützt auf den Haftgrund der Fluchtgefahr (...).

[...]

Das Amtsgericht begründete das Vorliegen der Fluchtgefahr damit, dass der Beschuldigte - auch vor dem Hintergrund zahlreicher Vorstrafen (der Bundeszentralregisterauszug enthalte 16 Eintragungen) - eine hohe Strafe zu erwarten habe und weder über einen festen Wohnsitz noch eine Arbeitsstelle oder familiäre Bindungen verfüge. Er habe sich jahrelang im Ausland aufgehalten und habe sich bereits nach einer Haftentlassung aus der Justizvollzugsanstalt W. im August 2018 wieder über die Niederlande nach Italien abgesetzt, wo er für das Verfahren der Staatsanwaltschaft Flensburg mit dem Aktenzeichen 108 Js 6272/10 festgenommen worden sei.

In der Vergangenheit ist der Beschuldigte strafrechtlich bereits erheblich in Erscheinung getreten. U.a. wurde er mit Urteil des Amtsgerichts Niebüll vom 06. Oktober 2011 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 10 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zunächst zur Bewährung ausgesetzt wurde. Am 22. Juni 2017 wurde der Beschuldigte aufgrund eines Europäischen Haftbefehls der Staatsanwaltschaft Hannover vom 23. August 2016 (...) zum Zwecke der Strafverfolgung in einem Verfahren der Staatsanwaltschaft Hannover wegen Besitzes kinderpornografischer Schriften aus Portugal nach Deutschland ausgeliefert. Mit Entscheidung vom 12. Juni 2017 hatte das Tribunal de Relacao de Evora in Portugal die Übergabe des Beschuldigten an die deutschen Justizbehörden bewilligt, wobei der Beschuldigte nicht auf die Einhaltung des Spezialitätsgrundsatzes verzichtet hatte. Der Beschuldigte wurde in jenem Verfahren mit Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 27. September 2017 wegen Besitzes kinderpornografischer Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten verurteilt, die er bis zum 31. August 2018 vollständig verbüßte. Im Anschluss daran trat Führungsaufsicht ein.

Während seiner Inhaftierung widerrief das Landgericht Braunschweig mit Beschluss vom 15. März 2018, rechtskräftig seit dem 21. Juni 2018, die Strafaussetzung zur Bewährung aus dem Urteil des Amtsgerichts Niebüll vom 06. Oktober 2011. Dem Beschuldigten wurde mit Schreiben des Landgerichts Braunschweig vom 02. Juli 2018 unter Hinweis auf § 11 IRG mitgeteilt, dass eine unmittelbare Anschlussvollstreckung wegen des Spezialitätsgrundsatzes nur aufgrund eines Nachtragsersuchens oder des Verzichts des Beschuldigten auf die Spezialität möglich sei. Da der Beschuldigte einer Anschlussvollstreckung widersprach und die portugiesischen Behörden trotz eines entsprechenden Antrages der Staatsanwaltschaft Flensburg bisher nicht auf die Anwendung des Spezialitätsgrundsatzes verzichtet und der Strafvollstreckung nicht zugestimmt hatten, wurde der Beschuldigte am 31. August 2018 aus der Haft entlassen. Spätestens 19 Tage nach seiner Haftentlassung, mithin am 18. oder 19. September 2018, reiste der Beschuldigte in die Niederlande und in der Folgezeit nach Italien. Am 19. September 2018 erließ die Staatsanwaltschaft Flensburg im Verfahren 108 VRs 6272/10 einen Vollstreckungshaftbefehl, auf dessen Grundlage sie am 26. September 2018 einen Europäischen Haftbefehl erließ. Aufgrund dessen wurde der Beschuldigte am 27. September 2018 in Mailand festgenommen. Bei Eröffnung des Haftbefehls durch die italienischen Behörden stimmte der Beschuldigte seiner Übergabe zu, ohne auf den Spezialitätsgrundsatz zu verzichten.

Seit dem 18. Oktober 2018 verbüßte er die Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Niebüll vom 06. Oktober 2011. Mit Beschluss vom 13. März 2019 stellte das Landgericht Kiel auf Antrag des Beschuldigten fest, dass die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Niebüll vom 06. Oktober 2011 derzeit unzulässig sei, da die Vollstreckung gegen den Spezialitätsgrundsatz verstoße (Bl. 209 Bd. VI d. Zweitakte). Die Unterbrechung der Vollstreckung wurde angeordnet. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Flensburg hat das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgerichts mit Beschluss vom 18. Juli 2019 (2 Ws 77/18) als unbegründet verworfen. Wegen der Einzelheiten wird auf den Beschluss vom 18. Juli 2019 Bezug genommen (Bl. 35 Bd. VIII d. Zweitakte).

Im vorliegenden Verfahren hat die Staatsanwaltschaft Braunschweig, basierend auf dem Haftbefehl des Amtsgerichts Braunschweig vom 05. Dezember 2018, am 12. Dezember 2018 einen Europäischen Haftbefehl erlassen und ein Nachtragsersuchen an die italienischen Behörden gestellt.

Das Berufungsgericht Mailand hat mit Beschluss vom 22. März 2019 die Auslieferung des Beschuldigten auch zur strafrechtlichen Verfolgung im vorliegenden Verfahren bewilligt. Daraufhin wurde der Haftbefehl des Amtsgerichts Braunschweig vom 05. Dezember 2018 dem - in Haft befindlichen - Beschuldigten verkündet. Vom 03. Mai 2019 bis zum Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgericht am 18. Juli 2019 war für das vorliegende Verfahren Überhaft notiert. Seitdem wird der Haftbefehl des Amtsgerichts Braunschweig vom 05. Dezember 2018 vollstreckt.

Mit Schriftsatz vom 30. April hat der damalige Verteidiger des Beschuldigten Beschwerde gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Braunschweig vom 05. Dezember 2018 eingelegt, diese jedoch nicht näher begründet. Mit eigenhändigem Schreiben vom 04. Mai 2019 hat auch der Beschuldigte "sofortige Beschwerde" gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Braunschweig "als solchen" eingelegt und dabei geltend gemacht, der Grundsatz der Spezialität sei verletzt. Es fehlten die für die vorliegende Strafverfolgung erforderlichen Nachtragsersuchen der portugiesischen und italienischen Behörden.

Das Landgericht Braunschweig hat die Beschwerde mit Beschluss vom 11. Juni 2019 als unbegründet verworfen (Bl. 240 Bd. VI Zweitakte).

Dagegen wendet sich der Beschuldigte mit Schreiben vom 16. Juni 2019 (Bl. 33 VII) und 23./26. Juni 2019 (Bl. 10ff. VIII). Der Beschluss enthalte widersprüchliche Aussagen und einige Verdrehungen der Tatsachen. Die Befugnis der Deutschen Strafbehörden zur Strafverfolgung beschränke sich auf Taten nach Juli 2017. Die Voraussetzungen des § 112 StPO lägen nicht vor.

Daneben hat er einen Befangenheitsantrag gegen die Richterinnen und Richter der 9. Strafkammer gestellt.

Das Landgericht hat die Eingaben des Beschuldigten als weitere Beschwerde gegen den Beschluss vom 11. Juni 2019 ausgelegt und dieser mit Beschluss vom 31. Juli 2019 nicht abgeholfen.

Die Befangenheitsgesuche hat das Landgericht mit einem weiteren Beschluss vom 31. Juli 2019 verworfen (Bl. 95 Bd. VII)

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, wie erkannt.

Der Beschuldigte hat mit Schreiben vom 24. Juli 2019 (Bl. 105 Bd. VII d. Zweitakte), 25./26. Juli 2019 (Bl. 53ff. Bd. VIII d. Zweitakte), 30. Juli 2019 (Bl. 88ff. Bd. VIII d. Zweitakte), 01. August 2019 (Bl. 107 Bd. VII d. Zweitakte), 02. August 2019 (Bl. 149ff. Bd. VII d. Zweitakte), 07. August 2019 (Bl. 133ff. Bd. VIII d. Zweitakte) und 08. August 2019 (Bl. 129ff. Bd. VIII d. Zweitakte) gegenüber den verschiedensten Justizbehörden (Amtsgericht, Landgericht, Oberlandesgericht) - teilweise doppelt - weiter vorgetragen. Wegen der Einzelheiten wird auf die verschiedenen Schreiben Bezug genommen. Im Wesentlichen trägt der Beschuldigte vor, die Strafverfolgung in diesem Verfahren sei unzulässig, da er im Rahmen seiner Auslieferung von Portugal nach Deutschland im Jahre 2017 nicht auf den Spezialitätsgrundsatz verzichtet habe. Wegen der noch andauernden Führungsaufsicht sei das Verfahren der Staatsanwaltschaft Hannover, das der Auslieferung seinerzeit zugrunde gelegen habe, noch nicht beendet, so dass der Spezialitätsgrundsatz nach wie vor zu beachten sei. Im von der Staatsanwaltschaft Flensburg betriebenen Verfahren sei er unrechtmäßig festgenommen worden, was durch das Landgericht Kiel und das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht festgestellt worden sei. Die Begründung jener Beschlüsse gölte auch im vorliegenden Verfahren. Durch seinen Urlaubsaufenthalt im Jahre 2018 in Italien sei der Spezialitätsgrundsatz im Verhältnis zu Portugal nicht entfallen. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig beriefe sich zu Unrecht auf das Nachtragsersuchen (gemeint: die Bewilligung) der italienischen Behörden. Maßgeblich sei ein Nachtragsersuchen (gemeint: eine Bewilligung) der portugiesischen Behörden, welches indessen nicht vorliege. Auch sei die Strafverfolgung in diesem Verfahren bereits vor der nachträglichen Bewilligung der italienischen Behörden betrieben worden. Unabhängig davon hätte die Staatsanwaltschaft Braunschweig den Europäischen Haftbefehl nicht ausstellen dürfen. Im Übrigen seien die ihm zur Last gelegten Taten verjährt.

Mit dem Schreiben vom 07. August 2019, das als "sofortige Beschwerde gegen den Beschluss 9 Qs 126/19 vom 31.07.2019" bezeichnet ist, wendet sich der Beschuldigte inhaltlich ausschließlich gegen den Beschluss des Landgerichts vom 31. Juli 2019, mit dem die Befangenheitsgesuche verworfen worden sind (Bl. 133 Bd. VIII d. Zweitakte). Er beantragt, die Befangenheit der zuständigen Richterinnen und Richter festzustellen und das Verfahren 213 Js 15297/18 einem anderen Gericht zu übertragen.

Mit Schriftsatz vom 06. August 2019 hat der Verteidiger F. erneut "Haftbeschwerde gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Braunschweig vom 05. Dezember 2018" eingelegt (Bl. 109 Bd. VII d. Zweitakte) und beantragt, den Haftbefehl aufzuheben.

Mit Schriftsatz vom 06. August 2019 hat Rechtsanwalt K., der dann jedoch mit Schriftsatz vom 08. August 2019 mitgeteilt hat, dass das Mandat nicht mehr bestehe, Beschwerde gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Braunschweig gegenüber dem Landgericht Braunschweig eingelegt (Bl. 141 Bd. VIII der Zweitakte) und ebenfalls beantragt, den Haftbefehl aufzuheben.

Die Schreiben des Beschuldigten vom 07. und 08. August 2019 hat der Senat dem Verteidiger zur Kenntnis übersandt und darauf hingewiesen, dass der Senat davon ausgehe, dass es sich bei dem anhängigen Rechtsbehelf allein um eine weitere Beschwerde gem. § 310 Nr. 1 StPO handele.

Mit Schriftsatz vom 16. August 2019 hat der Verteidiger F. die Beschwerde weiter begründet und auf die Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft erwidert. Zum einen sei der Spezialitätsgrundsatz nicht entfallen, zum anderen bestreite der Beschuldigte die Tat. Wegen der Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 16. August 2019 Bezug genommen (Bl. 143 ff. Bd. VIII d. Zweitakte))

II.

Der Senat legt die verschiedenen Eingaben des Beschuldigten als weitere Beschwerde gem. § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO aus (§ 300 StPO). Als solche ist sie statthaft und formgerecht angebracht (§ 306 Abs. 1 StPO).

Die weitere Beschwerde hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

1. Der Angeklagte ist der ihm im Haftbefehl des Amtsgericht Braunschweig vom 05. Dezember 2018 vorgeworfenen Taten dringend verdächtig.

[...].

Entgegen der Ansicht des Beschuldigten ist die Strafverfolgung bezüglich der Taten vom 02. September 2005 auch noch nicht verjährt. Sowohl die schwere Vergewaltigung gem. §§ 177 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 2 StGB in der Fassung vom 13. November 1998 als auch die räuberische Erpressung gem. §§ 253 Abs. 1 und 2, 255 StGB sind im Höchstmaß jeweils mit einer Freiheitsstrafe von mehr als 10 Jahren bedroht, so dass die Verjährungsfrist für die Verfolgung beider Taten 20 Jahre beträgt (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 StGB)

2. Es besteht weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO).

Fluchtgefahr besteht, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen und einer objektiven Betrachtung mehr für die Annahme spricht, dass sich der Angeklagte dem Strafverfahren entziehen und weniger dafür, dass er sich ihm stellen werde. In die gebotene Gesamtabwägung sind alle entscheidungserheblichen Umstände des Einzelfalls, vor allem aber die persönlichen Verhältnisse des Täters einzubeziehen. Die Erwartung, dass es zu einer deutlichen Bestrafung kommen wird, kann die Fluchtgefahr zwar allein nicht begründen, jedoch ist die Straferwartung der Ausgangspunkt für die Erwägung, ob ein aus den zu erwartenden Rechtsfolgen folgender Fluchtanreiz unter Berücksichtigung aller Umstände zu der Annahme führt, der Beschuldigte werde dem Fluchtanreiz wahrscheinlich nachgeben und flüchtig werden (Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen, Beschl. vom 24. April 2019, 1 Ws 44/19, Rn.25, zitiert nach juris).

Gemessen an diesen Maßstäben trifft die vom Landgericht getroffene Annahme von Fluchtgefahr, der nicht durch mildere Mittel begegnet werden kann, zu. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat auf die Ausführungen in dem angefochtenen Beschluss sowie auf die in Bezug genommenen Ausführungen im Haftbefehl vom 05. Dezember 2018 Bezug.

3. Durch den Erlass des Haftbefehls ist der Grundsatz der Spezialität nicht verletzt.

Ob der Spezialitätsgrundsatz eine Vollstreckung der Haftentscheidung hindert, ist im Rahmen der weiteren Haftbeschwerde zu prüfen (vgl. OLG Stuttgart, Beschlüsse vom 04. März 2015, 2 Ws 14/15 und vom 13. Januar 2012, 5 Ws 45/11, juris).

Der das Auslieferungsrecht beherrschende Grundsatz der Spezialität ist für die Verfolgung von Personen, die von einem Mitgliedstaat der Europäischen Union aufgrund eines Europäischen Haftbefehls ausgeliefert worden sind, durch Art. 27 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (RB-EUHb) konkretisiert und in § 83h IRG innerstaatlich umgesetzt worden. Diese Vorschriften verbieten es grundsätzlich, ohne Zustimmung der zuständigen Behörde des ersuchten Mitgliedstaates der Europäischen Union eine übergebene Person wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Tat als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, zu verfolgen, zu verurteilen oder einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme zu unterwerfen, wenn nicht eine der in § 83h Abs. 2 IRG, Art. 27 Abs. 3 RB-EUHb genannten Ausnahmen vorliegen (OLG Stuttgart, Beschl. vom 04. März 2015, 2 Ws 14/15, Rn. 13, zitiert nach juris).

Dass der Haftbefehl bereits am 05. Dezember 2018 und damit vor der Zustimmung der italienischen Behörden erlassen worden ist, verstößt nicht gegen den Spezialitätsgrundsatz. Denn gem. § 83h Abs. 2 Nr. 3 IRG, Art. 27 Abs. 3 lit. c) RB-EUHb kann die Strafverfolgung ohne Zustimmungsverfahren durchgeführt werden, wenn die Strafverfolgung nicht zur Anwendung einer die persönliche Freiheit beschränkenden Maßnahme führt. Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes vom 01. Dezember 2008 (Rs. C-388/08, Leymann und Pustovarov, zitiert nach juris) ist Art. 27 Abs. 3 lit. c) RB-EUHb dahin auszulegen, dass die Zustimmung des Mitgliedstaates erst dann vorliegen muss, wenn die wegen der "anderen Handlung" im Sinne von Art. 27 Abs. 2 RB-EUHb angeordnete Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßnahme zu vollstrecken ist. Die übergebene Person kann wegen einer solchen Handlung verfolgt und verurteilt werden, bevor die Zustimmung erteilt worden ist, sofern während des diese Handlung betreffenden Ermittlungs- und Strafverfahrens keine freiheitsbeschränkende Maßnahme angewandt wird. Der Bundesgerichtshof ist dieser Auslegung des Spezialitätsgrundsatzes nach Art. 27 Abs. 2 RB-EUHb als eines (reinen) Vollstreckungshindernisses gefolgt (u.a. BGH, Beschl. vom 16. November 2016, 2 StR 246/16, Rn. 2, m.w.N., zitiert nach juris).

Der Erlass des Haftbefehls ist in diesem Sinne keine Vollstreckung. Denn der Erlass führt noch nicht unmittelbar zu einer Beschränkung der persönlichen Freiheit des Ausgelieferten. Vielmehr bildet er nur die Grundlage für die Vollstreckung von Untersuchungshaft, für die es dann weiterer Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden bedarf (OLG Stuttgart, a.a.O., Rn. 17).

Zwar wurde der Haftbefehl des Amtsgerichts Braunschweig vom 05. Dezember 2018 ab dem 03. Mai 2019, als die Untersuchungshaft als Überhaft notiert wurde, vollzogen. Zu diesem Zeitpunkt lag jedoch die erforderliche Zustimmung des Berufungsgerichts Mailand vom 22. März 2019 vor, so dass die Voraussetzung des § 83h Abs. 2 Nr. 5, 1. Alt. IRG im Verhältnis zu Italien vorliegt.

Entgegen der Ansicht des Beschuldigten kommt es auf einen Verzicht auch der portugiesischen Behörden auf die Beachtung des Spezialitätsgrundsatzes nicht an. Denn der Beschuldigte hat seinen aus der vorangegangenen Auslieferung aus Portugal nach Deutschland herrührenden Spezialitätsschutz dadurch verloren, dass er sich kurz nach seiner Haftentlassung im August 2018 über die Niederlande nach Italien begeben hat.

Im Auslieferungsverkehr gilt grundsätzlich, dass das Verlassen des ersuchenden Staates die Spezialitätsbindung im Verhältnis zu dem ersuchten Staat ebenso entfallen lässt wie die erneute Auslieferung eines Verfolgten aus einem dritten Staat (Vogler/Walter in: Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Aufl., Loseblatt [Stand: Juli 2019], IRG, § 72, Rn. 10). Eine Fernwirkung kommt der Spezialitätsbindung nur in Weiterlieferungsfällen zu (vgl. § 83h Abs. 1 Nr. 2 IRG, Art. 15 EuAlÜbk).

Der Regelungsbereich des § 83h Abs. 2 Nr. 1 IRG endet mit der Ausreise des Ausgelieferten. Er steht einer Festnahme auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls im Ausland nicht entgegen. Das zeigt die 2. Alternative des § 83h Abs. 2 Nr. 1 IRG, die eine Festnahme nach Wiedereinreise auch vor Ablauf der Schutzfrist von 45 Tagen (§ 83h Abs.2 Nr. 1 1. Alt. IRG) erlaubt.

Dass mit dem Verlassen des ersuchenden Staates der Spezialitätsschutz erlischt, war und ist auch im Anwendungsbereich des Art. 14 Abs. 1 lit. b) EuAlÜbk anerkannt. In der Denkschrift zu Art. 14 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens aus dem Jahr 1957 (EuAlÜbk) wird dazu ausgeführt:

"Die dem Ausgelieferten gewährte Schutzfrist endet nach [Art. 14] Abs. 1 b) 45 Tage nach seiner endgültigen Freilassung, vorausgesetzt, dass er innerhalb dieser Zeit das Hoheitsgebiet des Staates, dem er ausgeliefert worden ist, verlassen konnte. Sobald er das Gebiet verlässt, hört jede Schutzverpflichtung des ersuchenden Staates aus. Sie lebt auch dann nicht wieder auf, wenn der Ausgelieferte innerhalb von 45 Tagen zurückkehrt." (BT-Drs. IV/382, S. 23)

Die Vorschrift des § 83h Abs. 2 Nr. 1 IRG entspricht Art. 14 Abs. 1 lit. b) EuAlÜbk (BT-Drs. 15/1718, S. 25; Hackner, a.a.O, IRG, § 83h, Rn. 5), so dass beide Vorschriften gleich auszulegen sind. Denn das Ziel des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, den Auslieferungsverkehr zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zu vereinfachen und zu erleichtern, könnte nicht erreicht werden, wenn § 83h Abs. 2 Nr. 1 IRG unter engeren Voraussetzungen ein Erlöschen der Spezialitätsbindung zuließe als Art. 14 Abs. 1 lit. b) EuAlÜbk.

Nach Verlassen des Hoheitsgebietes des ersuchten Staates nach Art. 14 Abs. 1 lit. b), 2. Alt. EuAlÜbk kommt es weder darauf an, ob die 45-tägige Schonfrist abgelaufen ist, noch ob zuvor eine endgültige Freilassung des Verfolgten in der Sache, für die er zuvor ausgeliefert worden war, erfolgt ist. Der Grund für den Entfall der Spezialitätsbindung liegt darin, dass der nach Verlassen des Bundesgebietes und anschließender Rückkehr des Verfolgten bestehende Aufenthalt nicht mehr auf die Auslieferung (des ursprünglich ersuchten Staates) zurückzuführen ist (OLG Hamm, Beschl. vom 10. Mai 1999, 2 Ws 142/99, OS, zitiert nach juris). Nichts Anderes kann im Anwendungsbereich des § 83h Abs. 2 Nr. 1 IRG gelten.

Ein Fall der Festnahme in Deutschland liegt hier aber schon gar nicht vor, denn der Beschuldigte wurde - in anderer Sache - in Italien festgenommen, mithin in einem Land, in das er sich nach seiner Haftentlassung freiwillig begeben hat.

Die Staatsanwaltschaft Braunschweig hat in ihrer Stellungnahme vom 28. Juli 2019 zutreffend darauf hingewiesen, dass die Auffassung des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichtes eine wenig verständliche Folge hätte:

"Ein irgendwann an Deutschland Ausgelieferter könnte sich nach seiner Ausreise viele Jahre in einem anderen Land aufhalten und dort den Spezialitätenschutz dauerhaft genießen, ohne dass ein Aufenthalt in jenem Land noch in irgendeinem Zusammenhang mit der vor Jahren mal erfolgten Auslieferung stünde. Solange sein Aufenthalt in dem anderen Land nicht bekannt ist, könnte auch ein Nachtragsersuchen an den ursprünglich ersuchten Staat (hier: Portugal) nicht mit Aussicht auf Erfolg gestellt werden. Denn der ursprünglich ersuchte Staat hätte keine Möglichkeit, den Betroffenen hierzu anzuhören. Im Ergebnis wäre es praktisch nicht möglich, nach einer Auslieferung wie der vorliegenden den Spezialitätenschutz durch Herantreten an den ersuchten Staat zwecks Einholung einer nachträglichen Zustimmung partiell aufzuheben. Der ersuchende Staat (hier: Deutschland) müsste vielmehr darauf warten, dass der Ausgelieferte sich irgendwann freiwillig dem Risiko aussetzt, auch für andere Straftaten in dem ersuchenden Staat verfolgt zu werden, indem er sich in diesen zurückbegibt."

Dem gegenüber bringt die hier vertretene Auslegung praktische Bedürfnisse und den Spezialitätenschutz in ein ausgewogenes Verhältnis.

Zudem fordert § 83 h Abs. 2 Nr. 1 IRG keine freiwillige Rückkehr. Ein solch ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal müsste in die Vorschrift hineininterpretiert werden, ohne dass sich dafür in der Vorschrift selbst oder in Art. 14 Abs. 1 lit. b) EuAlÜbk ein Anhaltspunkt findet.

Auch aus dem Wortlaut des § 11 IRG ergibt sich kein Bedürfnis für die vom Landgericht Kiel - und ihm folgend das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht - getroffene Auslegung. Es trifft zwar zu, dass § 11 IRG den Spezialitätsschutz in einem geringeren Umfang gewährt als § 83h IRG, indem er eine kürzere Schutzfrist (1 Monat statt 45 Tage) gewährt. Jedoch regelt § 11 IRG die Auslieferung aus der Bundesrepublik Deutschland an andere Staaten und ist schon deshalb hier nicht direkt anzuwenden. Zudem zieht das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht nach hiesiger Auffassung den falschen Schluss, wenn es davon ausgeht, dass der Umstand, dass in § 11 Abs. 2 Nr. 3 S. 1 3. Alt. IRG der Spezialitätsschutz auch bei Zurücküberstellung von einem dritten Staat entfällt, dies in § 83h Abs. 2 Nr. 1 IRG aber nicht geregelt ist, bedeutet, dass dann nur die freiwillige Rückkehr den Spezialitätsschutz entfallen lässt. Vielmehr entfällt der ursprüngliche Spezialitätsschutz auch bei einer unfreiwilligen Rückkehr, er ist dann aber gegenüber dem nunmehr ersuchten Staat - hier Italien - zu beachten.

Soweit der Beschuldigte geltend macht, dass sowohl der Europäische Haftbefehl vom 26. September 2018 als auch der vom 12. Dezember 2018 von Staatsanwaltschaften erlassen worden seien, die dafür nicht zuständig seien, gilt folgendes: Zwar hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 27. Mai 2019 (C-509/18) entschieden, dass der Begriff "ausstellende Justizbehörde" im Sinne von Art. 6 Abs. 1 RB-EUHb dahin auszulegen ist, dass darunter nicht die Staatsanwaltschaften eines Mitgliedsstaates fallen, jedoch betrifft dies nicht das vorliegende Verfahren. Die italienischen Behörden haben die jeweiligen Europäischen Haftbefehle als Grundlage für die Bewilligung der Auslieferung bzw. für die Erweiterung der Bewilligung anerkannt. Das auf den Europäischen Haftbefehlen beruhende Auslieferungsverfahren ist beendet. Das vorliegende Beschwerdeverfahren befasst sich ausschließlich mit dem Haftbefehl des Amtsgerichts Braunschweig vom 05. Dezember 2018, auf dem der Europäische Haftbefehl vom 12. Dezember 2018 basierte und der von einem Richter ausgestellt worden ist.

4. Mildere Maßnahmen (§ 116 Abs. 1 StPO) als der Vollzug der Untersuchungshaft kommen nicht in Betracht.

5. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft ist angesichts der Schwere der dem Beschuldigten zur Last gelegten Taten und im Hinblick auf die erst seit 18. Juli 2019, vollzogene Untersuchungshaft noch nicht unverhältnismäßig (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.