Oberlandesgericht Braunschweig
Beschl. v. 16.12.2019, Az.: 1 Ws 299/19

Aufhebung eines Haftbefehls wegen rechtswidriger Anordnung; Verbot zum Verlassen von Räumen nur auf Grundlage des § 126a StPO

Bibliographie

Gericht
OLG Braunschweig
Datum
16.12.2019
Aktenzeichen
1 Ws 299/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 67050
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG Braunschweig - AZ: 1 KLs 111 Js 52118/17 (34/19)

Redaktioneller Leitsatz

Der Haftbefehl ist aufzuheben, weil die Anordnung, die Räume der forensischen Psychatrie nicht zu verlassen, nur nach § 126a StPO und nicht nach § 116 Abs. 1 StPO erfolgen kann und auch andere geeignete Ersatzmittel nicht zur Verfügung stehen.

Tenor:

Auf die Beschwerde des Angeklagten werden der Haftbefehl des Amtsgerichts Braunschweig vom 21. März 2019, der durch Haftfortdauerbeschluss desselben Gerichts vom 2. April 2019 außer Vollzug gesetzt worden ist, und die nachfolgenden Haftfortdauerbeschlüsse (zuletzt vom 4. Oktober 2019) aufgehoben.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt die Landeskasse.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Braunschweig hat gegen den Angeklagten am 21. März 2019 Haftbefehl wegen des Vorwurfs des Betrugs in 14 Fällen (Gesamtschaden: 42.280,79 €) erlassen. Den Vollzug dieses Haftbefehls, der noch immer auf den Haftgrund der Flucht (§ 112 Abs. 2 Nr.1 StPO) gestützt ist, hat das Amtsgericht durch Beschluss vom 2. April 2019 gemäß § 116 Abs. 1 StPO ausgesetzt. Das Amtsgericht hat dem Angeklagten als weniger einschneidende Maßnahme aufgegeben, die "Räumlichkeiten der forensischen Psychiatrie des Landeskrankenhauses Bernburg nicht (zu) verlassen". Im Landeskrankenhaus Bernburg befindet sich der Angeklagte bereits seit dem 12. März 2019 zur Vollstreckung einer Unterbringung in der Entziehungsanstalt (§ 64 StGB), die durch Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 6. April 2018 angeordnet wurde, das ihn zugleich wegen Betruges in 16 Fällen mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 10 Monaten belegte.

Nachdem die Staatsanwaltschaft Braunschweig in der vorliegenden Sache unter dem 12. Juni 2019 Anklage erhoben hatte, hat es die 1. Strafkammer des Landgerichts Braunschweig am 26. August 2019 abgelehnt, den Haftbefehl vom 21. März 2019 aufzuheben. Durch Beschluss vom 4. Oktober 2019 hat dieselbe Kammer die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen, das Hauptverfahren eröffnet und die Fortdauer der Untersuchungshaft nach Maßgabe des Außervollzugsetzungsbeschlusses vom 2. April 2019 angeordnet. Eine Anpassung des Haftbefehls an die Anklage, die nur noch von einem Schaden in Höhe von 12.549,07 € ausgeht und bei der Tat Nr. 5 überhaupt keinen Schaden ausweist, ist nicht erfolgt.

Gegen diesen Haftfortdauerbeschluss hat der Angeklagte mit Schriftsatz vom 21. November 2019 Beschwerde eingelegt. Er rügt einen Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz und beantragt, den Haftbefehl aufzuheben.

Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt demgegenüber, die Beschwerde mit der Maßgabe zu verwerfen, dass der Haftgrund der Flucht entfalle, sowie den Haftbefehl nach Maßgabe der Anklageschrift vom 12. Juni 2019 und des Außervollzugsetzungsbeschlusses vom 2. April 2019 neu zu fassen. Bei der Auflage handele es sich um eine zulässige Aufenthaltsbeschränkung im Sinne des § 116 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StPO, die gegenüber der Untersuchungshaft milder sei, weil sie den haftgrundbezogenen Beschränkungen des § 119 StPO nicht gleichstehe. Der Haftgrund der Flucht sei durch jenen der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) zu ersetzen. Subsidiär bestehe auch Wiederholungsgefahr im Sinne des §112 a StPO.

II.

Die Beschwerde ist statthaft (§ 304 StPO), formgerecht angebracht (§ 306 Abs. 1 StPO) und auch sonst zulässig. Sie hat zudem in der Sache Erfolg und führt zur Aufhebung des Haftbefehls.

Der Haftbefehl ist aufzuheben, weil die Auflage, die Räumlichkeiten der forensischen Psychiatrie des Landeskrankenhauses Bernburg nicht zu verlassen, keine Grundlage in § 116 Abs. 1 StPO findet und weitere sinnvolle Maßnahmen als Ersatzmittel zur Vermeidung der Untersuchungshaft nicht in Betracht kommen (zum Erfordernis der Aufhebung in solchen Fällen: Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 116 StPO, Rn. 5).

Im Gegensatz zur Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft ist die Auflage rechtswidrig. Das Verbot, die Räumlichkeiten der forensischen Psychiatrie des Landeskrankenhauses Bernburg zu verlassen, kann schon deshalb nicht mit § 116 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StPO begründet werden, weil für die Anordnung, in den Räumen einer forensischen Psychiatrie zu verbleiben, spezielle Vorschriften zur Verfügung stehen. Eine solche Anordnung ist, sofern sie nicht auf einem rechtskräftigen Urteil beruht, nur unter den Voraussetzungen des § 126 a StPO zulässig. Diese Vorschrift ist das maßgebliche förmliche Gesetz im Sinne des Art 104 Abs. 1 S. 1 GG und verdrängt für Fälle der genannten Freiheitsentziehungen § 116 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StPO.

Durch die Außervollzugsetzung hat sich die Situation des Angeklagten auch nicht maßgeblich geändert. Wäre der Haftbefehl in Vollzug, würde die Unterbringung gemäß § 116 b StPO vorrangig vollstreckt (Graf in Karlsruher Kommentar, StPO, 8. Aufl., § 116 b, Rn. 9). Die Untersuchungshaft wäre als Überhaft zu notieren und führte zur Versagung von Lockerungen (vgl. KG, Beschluss vom 07.03.2014, 4 Ws 21/14, juris, Rn. 16). Nichts anderes, nämlich die Versagung von Lockerungen im Maßregelvollzug, sucht das Amtsgericht und ihm folgend die Kammer auf dem Umweg über die Auflage zu erreichen. Letztlich wird dadurch die Freiheitsentziehung, die mit der Untersuchungshaft verbunden ist, durch eine ebenfalls freiheitsentziehende Maßnahme ersetzt. Es handelt sich im konkreten Fall gerade nicht bloß um "Hausarrest" in seiner allgemeinen Form, der gegebenenfalls als mildere Maßnahme eingestuft werden könnte (vgl. BGH, Beschluss vom 25.11.1997, 1 StR 465/97, juris), sondern um eine vor Rechtskraft (danach gilt § 64 StGB) nur durch einen Unterbringungsbefehl gemäß § 126 a StPO zu rechtfertigende Freiheitsentziehung (zur Annahme einer Freiheitsentziehung bei der Unterbringung gemäß § 64 StGB: Mehde in Maunz/Dürig, 86. Lieferung, GG, Art. 104, Rn. 69). Eine Freiheitsentziehung, für die auch die Ausübung psychischen Zwangs genügen kann (Mehde in Maunz/Dürig, a.a.O., Rn. 67), liegt vor, wenn - wie hier - Druck auf einen Angeklagten ausgeübt wird, von etwaigen Lockerungen der Maßregel zur Vermeidung der nach erneuter Invollzugsetzung sonst drohenden Untersuchungshaft keinen Gebrauch zu machen.

Der Senat sieht ferner keinen Anlass für eine andere Maßnahme im Sinne des § 116 Abs. 1 StPO, um den Zweck der Untersuchungshaft zu erreichen. Ob eine nachträgliche Änderung von Maßnahmen im Beschwerdeverfahren überhaupt zulässig wäre (zur grundsätzlichen Zulässigkeit einer Änderung: Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 116, Rn. 21; Graf in Karlsruher Kommentar, StPO, 8. Aufl. § 116, Rn. 24 ["bei Veränderung der Umstände"]), kann dahinstehen. Weil der Angeklagte im Rahmen der Unterbringung im Landeskrankenhaus Bernburg bereits ein erhebliches Maß an Kontrolle erfährt, sind sinnvolle Ersatzmaßnahmen, die der Senat anstelle der rechtswidrigen Auflage gemäß § 116 Abs. 1 StPO anordnen könnte, jedenfalls aktuell nicht erkennbar.

Schließlich scheidet auch eine erneute Invollzugsetzung des Haftbefehls aus Anlass der Beschwerde des Angeklagten aus. Eine reformatio in peius wäre allenfalls unter den Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO gestattet (BVerfG, Beschluss vom 26.10.2005, 2 BvR, 1618/05, juris, Rn. 21; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 24.05.1993, 1 Ws 456/93, juris). Dass sich die vermeintlich mildere Maßnahme, mit der der Zweck der Untersuchungshaft erreicht werden sollte, als rechtswidrig erweist, ist aber kein neu hervorgetretener Umstand i. S. d. § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO, auf den der Widerruf der Haftverschonung zum Nachteil des Angeklagten gestützt werden könnte.

III.

Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 467 Abs. 1 StPO.

Neef
Welkerling
Dr. Puruckherr