Oberlandesgericht Oldenburg
Beschl. v. 01.11.2004, Az.: 13 W 79/04
Grenzkontrolle bei einer Ausreise von Deutschland in die Niederlande; Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Inhaftierung; Unerreichbarkeit eines Richters
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 01.11.2004
- Aktenzeichen
- 13 W 79/04
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2004, 37223
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:2004:1101.13W79.04.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Aurich - 22.09.2004 - AZ: 1 T 380/04
Rechtsgrundlagen
- § 57 Abs. 1 AuslG
- § 18 Abs. 1 Nr. 2a Nds. SOG
- Art. 104 Abs. 2 GG
Fundstelle
- InfAuslR 2005, 61-62 (Volltext mit red. LS)
In dem Freiheitsentziehungsverfahren
hat der 13. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg
am 01. November 2004
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ...,
die Richterin am Oberlandesgericht ... und
den Richter am Oberlandesgericht ...
beschlossen:
Tenor:
Auf die sofortige weitere Beschwerde des Betroffenen werden unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels der Beschluß des Amtsgerichts Leer vom 10. August 2004 und der des Landgerichts Aurich vom 22. September 2004 wie folgt geändert:
Es wird festgestellt, daß die Freiheitsentziehung des Betroffenen in der Zeit vom 18. Januar 2004, 19.00 Uhr, bis zu dessen Vorführung vor den Richter am 19. Januar 2004 rechtswidrig gewesen ist.
Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei. Die zur zweckentsprechen- den Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen werden dem Antragsteller auferlegt.
Dem Betroffenen wird für das Rechtsbeschwerdeverfahren Prozeßkosten- hilfe gewährt. Ihm wird Rechtsanwalt F..., H..., beigeordnet.
Wert der weiteren Beschwerde: 800,00 EUR.
Gründe
Am 18. Januar 2004 wurde der Betroffene im Rahmen einer Grenzkontrolle bei seiner Ausreise von Deutschland in die Niederlande im Zug gegen 15.00 Uhr überprüft. Da er sich nur mit einem schwedischen Migrationsverket ausweisen konnte, das ihn nicht zur Einreise in die Bundesrepublik Deutschland berechtigte, wurde er wegen des Verdachts einer unerlaubten Einreise zur Dienststelle der Bundesgrenzschutzdi-rektion in Bunde gebracht. Um 16.45 Uhr teilte die Bundesgrenzschutzdirektion in Lübeck auf Nachfrage mit, daß es sich bei dem Betroffenen um einen Asylbewerber aus Schweden handle, dessen Asylverfahren dort noch nicht abgeschlossen sei. Eine Überprüfung im Schengener Fahndungssystem verlief negativ. Bei einer Durchsuchung waren bei ihm ferner zwei jemenitische Reisepässe mit Lichtbildern und den Personalien Dritter gefunden worden, deren rechtmäßige Inhaber im Zug nach den Niederlanden jedoch nicht hatten gefunden werden können. Nach der erkennungs-dienstlichen Behandlung des Betroffenen teilte das Bundeskriminalamt um 18.13 Uhr mit, daß dort keine identischen Fingerabdrücke vorliegen würden. Da beim zuständigen Amtsgericht Leer am 18. Januar 2004, einem Sonntag, wie üblich ein Bereitschaftsdienst nur in der Zeit von 09.45 bis 10.00 Uhr zur Verfügung stand, wurde der Betroffene um 19.00 Uhr zur Übernachtung zur Polizeiinspektion Leer gebracht, um ihn am Folgetag von dort aus nach Informierung des Ausländeramtes dem zuständigen Haftrichter beim Amtsgericht Leer vorzuführen. Unter dem 19. Januar 2004 beantragte der Beteiligte beim Amtsgericht die Anordnung von Sicherungshaft gegen den Betroffenen, die antragsgemäß nach dessen richterlicher Anhörung angeordnet wurde.
Mit Schriftsatz vom 13. April 2004 beantragte der Betroffene die Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Inhaftierung in der Zeit vom 18. Januar 2004, 18.00 Uhr, bis zum Erlaß der richterlichen Abschiebehaftanordnung am 19. Januar 2004. Es liege ein Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz vor. Eine Inhaftierung dürfe regelmäßig erst nach vorheriger richterlicher Anordnung erfolgen. Sei diese ausnahmsweise zuvor nicht einholbar, müsse diese unverzüglich nachgeholt werden, was hier nicht geschehen sei.
Mit Beschluss vom 10. August 2004, auf den wegen der Einzelheiten im übrigen Bezug genommen wird (Bl. 67 - 71 d.A.), hat das Amtsgericht Leer den Antrag als unbegründet zurückgewiesen. Die vorläufige Freiheitsentziehung des Betroffenen sei gemäß § 57 Abs. 1 AuslG i.V.m. § 18 Abs. 1 Nr. 2 a Nds SOG zulässig gewesen. Nach den rechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts sei für eine nächtliche Erreichbarkeit geklärt, daß diese von der Verfassung erst dann gefordert werde, wenn hierfür ein praktischer Bedarf bestehe. Nur ganz vereinzelt auftretende Fälle würden hierfür nicht ausreichen. Im übrigen schütze das Grundgesetzüber Art. 104 i.V.m. Art. 139 der Weimarer Reichsverfassung den Sonntag und staatliche Feiertage. Im Hinblick darauf, daß im Amtsgerichtsbezirk Leer pro Jahr nicht mehr als fünf Abschiebungen an einem Sonntag anfallen würden, sei es nicht zu beanstanden, den Bereitschaftsdienst an einem Sonntag von 09.45 Uhr bis 10.00 Uhr - wie hier geschehen - festzusetzen.
Die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde hat das Landgericht Aurich mit Beschluß vom 22. September 2004, auf den wegen der Einzelheiten verwiesen wird (Bl. 80 - 82 d.A.), als unbegründet zurückgewiesen.
Hiergegen richtet sich die sofortige weitere Beschwerde des Betroffenen, mit der er geltend macht, daß er entgegen der verfassungsrechtlichen Vorgabe nicht unverzüglich dem für ihn zuständigen Amtsrichter vorgeführt worden sei. Ein Bereitschaftsdienst beim Amtsgericht Leer von 09.45 Uhr bis 10.00 Uhr sei völlig unzureichend. Im übrigen beschränke sich ein Bereitschaftsdienst nicht allein auf Abschiebehaftverfahren, sondern erfasse auch alle sonstigen Verfahren, in denen eine Freiheitsentzieh-ung oder andere Maßnahmen anfielen, die unter einem Richtervorbehalt ständen.
Das Rechtsmittel des Betroffenen ist zulässig und auch im wesentlichen begründet.
Der Betroffene ist nach seiner am 18. Januar 2004 erfolgten Festnahme nicht unverzüglich dem Haftrichter vorgeführt worden, was noch am selben Tag bis 19.00 Uhr spätestens hätte geschehen können und müssen.
Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Mai 2002 - 2 BvR 2292/00 - folgt aus Art. 104 Abs. 2 GG die Verpflichtung, die Erreichbarkeit eines zu-ständigen Richters - jedenfalls zur Tageszeit - zu gewährleisten, wobei beim Festhalten einer Person ohne vorherige richterliche Entscheidung eine solche nachträglich unverzüglich herbeizuführen ist. Unverzüglich bedeutet, daß die richterliche Entscheidung ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen rechtfertigen lässt, nachzuholen ist, wobei Verzögerungen beispielsweise durch die erforderliche Registrierung und Protokollierung und Länge des Weges wegen eines erforderlichen Transportes unvermeidbar sind.
Dies vorausgeschickt ist festzustellen, daß die Feststellung der Person des Betroffenen nebst seinem Hintergrund mit der erkennungsdienstlichen Behandlung um 18.13 Uhr mit der Mitteilung des Bundeskriminalamtes abgeschlossen war, daß über ihn keine identischen Fingerabdrücke vorliegen würden. Die umfassende Abklärung des Betroffenen, der ohne Berechtigung in die Bundesrepublik Deutschland lediglich mit einem schwedischen Migrationsverket eingereist war und der zwei nicht auf ihn lautende jemenitische Pässe bei sich führte, war im Hinblick hierauf gerechtfertigt. Es ist nichts dafür ersichtlich und auch nichts Gegenteiliges dazu vom Beschwerdeführer vorgetragen worden, daß diese Abklärungen verzögerlich erfolgt sein könnten. Im Hinblick auf den erforderlichen Transport des Betroffenen von Bunde nach Leer wäre es auch bei zeitlich paralleler Unterrichtung der Ausländerbehörde, um ihr Gelegenheit zu geben, gegebenenfalls einen Haftantrag beim Amtsgericht zu stellen, möglich gewesen, den Betroffenen um 19.00 Uhr beim Amtsgericht seinem zuständigen Richter vorzuführen, um die unabdingbar geforderte nachträgliche richterliche Genehmigung einzuholen. Eine bereits um 18.00 Uhr erfolgte richterliche Vorführung war entgegen der Auffassung des Betroffenen wegen der erst um 18.13 Uhr erfolgten Nachricht des Bundeskriminalamtes und dem vor einer richterlichen Vorführung erforderlichen Abschluß dieser Ermittlung undurchführbar, weil nur so eine angemessene richterliche Abwägung und Entscheidung zu gewährleisten war.
Die im Hinblick auf den beim Amtsgericht Leer an Sonn- und Feiertagen geübte Praxis, einen Bereitschaftsdienst nur im Zeitraum von 09.45 Uhr bis 10.00 Uhr vorzuhalten, ist mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG unvereinbar. Die daraus resultierende Unerreichbarkeit des Richters um 19.00 Uhr stellt kein unvermeidbares Hindernis dar, das eine erst am Folgetag erfolgte Vorführung des Betroffenenen hätte rechtfertigen können. Auch der vom Amtsgericht angeführte Umstand, daß pro Jahr nur an fünf Sonntagen Festnahmen mit der Prüfung einer Abschiebung anfallen würden, ist nicht geeignet, die Notwendigkeit eines richterlichen Bereitschaftsdienstes auch noch - wie hier - um 19.00 Uhr an einem Sonntag entfallen zu lassen. Die Freiheitsentziehung ist der schwerste denkbare Eingriff in das Recht auf Freiheit der Person. Er steht unter dem Vorbehalt der richterlichen Entscheidung. Daraus folgt, wie das Bundesverfassungsgericht bereits ausgeführt hat (BVerfG a.a.O..), die Verpflichtung, die Erreichbarkeit eines zuständigen Richters - jedenfalls zur Tageszeit und unabhängig davon, ob es sich um einen Sonnabend oder Sonntag handelt - zu gewährleisten. Dies begegnet auch keinen organisatorischen oder sächlichen Schwierigkeiten. Eine Rufbereitschaft über Handy reicht bereits aus, den gesetzlichen Anforderungen zu genügen, wobei es nicht einmal der Hinzuziehung eines Protokollführers im Einzelfall bedarf. Ob für die Nachtzeit geringere Anforderungen zu stellen sind, braucht vorliegend nicht entschieden zu werden, weil die hier erforderliche Vorführung um 19.00 Uhr eindeutig noch nicht zur Nachtzeit zu rechnen ist.
Entgegen der Auffassung des Betroffenen ist die Feststellung der Rechtswidrigkeit jedoch nicht bis zum Erlaß des Abschiebehaftbeschlusses des Amtsgerichts am 19. Januar 2004 auszusprechen. Entscheidend hierfür ist nicht der Zeitpunkt des Erlasses der richterlichen Entscheidung, sondern stattdessen der Zeitpunkt der Vorführung vor den Richter. Der richterlichen Entscheidung vorgeschaltet sind notwendigerweise die richterliche Anhörung des Betroffenen und die Entscheidungsphase. Deren Dauer kann je nach Sachlage kürzer oder länger sein. Sie sind - auch im Interesse des Betroffenen an einer abgewogenen Entscheidung - in diesem Sinne unvermeidbare Verzögerungen vor einer richterlichen Entscheidung und sind deshalb im Rahmen der beantragten Rechtswidrigkeitsfeststellung auszuklammern.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 14, 16 FEVG, wobei der Zurückweisungsteil der Entscheidung derart gering ist, daß er kostenmäßig außer Ansatz zu bleiben hat.
Dem Prozeßkostenhilfeantrag des Betroffenen war aus den Gründen der Entscheidung zu entsprechen und ihm Rechtsanwalt F..., H..., beizuordnen.
Streitwertbeschluss:
Wert der weiteren Beschwerde: 800,00 EUR.