Sozialgericht Lüneburg
Urt. v. 22.07.2020, Az.: S 32 SO 57/18

Anrechnung von Ausbildungsgeld gem. der Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben (SGB III) auf die Leistungen in einer stationären Einrichtung (SGB XII)

Bibliographie

Gericht
SG Lüneburg
Datum
22.07.2020
Aktenzeichen
S 32 SO 57/18
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2020, 39128
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Fundstelle

  • SAR 2020, 122-125

Tenor:

  1. 1.

    Der Bescheid vom 7.12.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.5.2018 wird aufgehoben.

  2. 2.
  3. 3.

    Es wird festgestellt, dass das an den Kläger nach den Vorschriften des SGB III zur Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben gezahlte Ausbildungsgeld anrechnungsfrei bleibt.

  4. 4.
  5. 5.

    Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

  6. 6.

Tatbestand

Die Bundesagentur für Arbeit zahlt dem Kläger Ausbildungsgeld nach den Vorschriften zur Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben des Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III). Die Beteiligten streiten nun über die Anrechnung dessen auf die Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) in einer stationären Einrichtung.

Der 1997 geborene Kläger leidet an einer intellektuellen Minderbegabung leichten Ausmaßes (Oligophrenie Grad I, Debilität: ICD 10 F70) und wohnt seit dem 1.12.2015 in einer stationären Einrichtung für Menschen mit Behinderung. Er steht im laufenden Bezug von Leistungen nach dem SGB XII.

Zum 1.11.2017 begann der Kläger eine Ausbildungsmaßnahme bei der G. und erhielt Ausbildungsgeld von der Bundesagentur für Arbeit nach den Vorschriften des SGB III zur Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben (§ 104 Abs. 1 Nr. 1 SGB III a. F., § 122 Abs. 1 Nr. 1 SGB III in der Fassung vom 23.12.2016).

Mit Bescheid vom 7.12.2017 setzte der Beklagte einen Kostenbeitrag ab 1.11.2017 für die Unterbringung in der stationären Einrichtung in Höhe des Einkommens aus dem Ausbildungsgeld auf zum damaligen Zeitpunkt monatlich 111 EUR fest. Er begründete dies damit, dass nach § 88 Abs. 1 Satz 2 SGB XII die Aufbringung der Mittel verlangt werden könne, soweit Aufwendungen für den häuslichen Lebensunterhalt erspart würden. Darüber hinaus solle die Aufbringung der Mittel in angemessenem Umfange verlangt werden, wenn voraussichtlich längere Zeit Pflege in einer Einrichtung benötigt werde. Gleichzeitig setzte er mit Leistungsbescheid vom 22.12.2017 entsprechend niedrigere Leistungen fest.

Der Kläger legte gegen den Leistungsbescheid Widerspruch ein und verwies unter anderem auf Ziffer 88.01.01.02 der niedersächsischen Ausführungsbestimmungen zum SGB XII, wonach Ausbildungsgeld im Eingangsverfahren und Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen allenfalls zur Hälfte anzurechnen sei.

Den hier eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25.5.2018 als unbegründet zurück. Er begründete dies damit, dass mit Bescheid vom 7.12.2017 ein Kostenbeitrag festgesetzt worden sei und sich der Widerspruch hiergegen richte. Gemäß § 19 Abs. 3 SGB XII könne Eingliederungshilfe nur soweit gewährt werde, wie dem Leistungsberechtigten die Aufbringung der Mittel aus dem eigenen Einkommen nicht zuzumuten sei. Der Kläger erhalte Ausbildungsgeld in Höhe von 111 EUR von der Agentur für Arbeit. Gemäß § 82 Abs. 1 SGB XII gehörten alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert zum Einkommen. Das Ausbildungsgeld stelle somit Einkommen dar. Nach den §§ 92a, 92 Abs. 1 und 88 Abs. 1 Satz 2 SGB XII solle bei einer stationären Leistung die Aufbringung der Mittel in angemessenem Umfang verlangt werden, wenn dies zumutbar sei und die Person voraussichtlich für eine längere Zeit Leistungen einer stationären Einrichtung bedürfe. Das Ausbildungsgeld stelle eine unterhaltssichernde Leistung dar. Es seien keine Gründe ersichtlich, die einer vollen Anrechnung entgegenstünden. Die niedersächsischen Ausführungsbestimmungen zum SGB XII fänden im Falle des Klägers keine Anwendung, da dieser seine Ausbildung nicht in einer Werkstatt für behinderte Menschen mache.

Sozial erfahrene Dritte wurden bei der Entscheidung über den Widerspruch nicht beteiligt.

Mit der am 13.6.2013 bei Gericht eingegangenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er verweist darauf, dass er quasi umsonst arbeiten gehen müsse, wenn der Beklagte das Ausbildungsgeld vollständig anrechne. Dies könne wegen Verstoßes gegen den Inklusionsgedanken nicht richtig sein. Zudem fühle er sich auch nicht gleichbehandelt, da ein bei einer Werkstatt für behinderte Menschen erzieltes Einkommen nur zu 50 % angerechnet werden würde.

Der Kläger beantragt,

wie erkannt.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verweist darauf, dass der Kläger seine Ausbildung nicht in einer Werkstatt für behinderte Menschen mache und die für diese Konstellation entwickelten Grundsätze daher nicht übertragbar seien. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet. Bereits die formelle Rechtmäßigkeit des Widerspruchsbescheides ist zweifelhaft, da sich der Widerspruch ursprünglich gegen die Leistungsbewilligung mit Bescheid vom 22.12.2017 richtete, der Beklagte diesen jedoch als Widerspruch gegen die Festsetzung des Kostenbeitrags auslegte. Bei einem Widerspruch gegen die Festsetzung eines Kostenbeitrags sind nach § 20 des niedersächsischen Gesetzes zur Ausführung des Neunten und des Zwölften Buchs des Sozialgesetzbuchs entgegen § 116 Abs. 2 SGB XII sozial erfahrene Dritte nicht zu beteiligen. Der Beklagte hat durch die Auslegung des Widerspruchs das Erfordernis der Beteiligung sozial erfahrener Dritte umgangen. Im Ergebnis ist dies unerheblich, da der Bescheid auch materiell rechtswidrig ist. Die Entscheidung des Beklagten ist materiell rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Sie war daher aufzuheben. Das durch die Ausbildung bei der Deutschen Angestellten Akademie erzielte Ausbildungsgeld bleibt in voller Höhe anrechnungsfrei. Denn eine Anrechnung kann nur erfolgen, soweit es sich bei dem Ausbildungsgeld um Einkommen i. S. d. handelt und keine Privilegierung durch den Gesetzgeber erfolgt ist. Der Einkommensbegriff nach dem SGB XII ist in § 82 SGB XII definiert. Nach § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB XII gehören zum Einkommen alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert mit Ausnahme der Leistungen nach diesem Buch, der Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz und nach den Gesetzen, die eine entsprechende Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes vorsehen, und der Renten oder Beihilfen nach dem Bundesentschädigungsgesetz für Schäden an Leben sowie an Körper oder Gesundheit bis zur Höhe der vergleichbaren Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz. Grundsätzlich ist das dem Kläger von der Bundesagentur für Arbeit nach den Vorschriften zur Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben nach dem SGB III gezahlte Ausbildungsgeld damit Einkommen, da es zu den Einkünften gehört und nicht einer der in § 82 SGB XII genannten Ausnahmen unterliegt. Eine weitere Privilegierung findet sich jedoch in Abschnitt 7 des 3. Kapitels des SGB III ("aktive Arbeitsförderung"). Im 7. Abschnitt wird die Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben geregelt. Nach § 126 Abs. 1 SGB III (in der Fassung vom 8.7.2019; § 108 SGB III in der damals gültigen Fassung) wird Einkommen, dass ein behinderter Mensch während einer Maßnahme in einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen oder bei einem anderen Leistungsanbieter nach § 60 des Neunten Buches erzielt, nicht auf den Bedarf angerechnet. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 23.3.2010, Aktenzeichen B 8 SO 17/09 R, nach juris) ist die Privilegierung des Einkommens von Menschen mit Behinderung im Arbeitsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen auf den Ausbildungsbereich in einer Werkstatt für behinderte Menschen zu übertragen. Der Entscheidung liegt ein Fall zu Grunde, in dem das Ausbildungsgeld nach § 104 Abs. 1 Nr. 3 SGB III a. F. (§ 122 Abs. 1 Nr. 3 SGB III in der Fassung vom 23.12.2016) gezahlt wurde. Nach dieser Vorschrift haben behinderte Menschen Anspruch auf Ausbildungsgeld während einer Maßnahme im Eingangsverfahren oder Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen oder bei einem anderen Leistungsanbieter nach § 60 des Neunten Buches. Das Bundessozialgericht begründet dies damit, dass dem Ausbildungsgeld, ebenso wie dem Werkstatteinkommen, Anreizfunktion zukomme (Rz. 35). Denn - soweit ein leistungsunabhängiger Grundbetrag gezahlt werde - handele es sich nicht um ein Entgelt, das den Marktwert einer erbrachten Leistung widerspiegele (Rz. 34). Die Privilegierung sei insbesondere deswegen in das SGB XII zu übertragen, da der Gesetzgeber in § 82 Abs. 3 Satz 3 SGB XII die Möglichkeit geschaffen habe, in begründeten Fällen einen anderen Betrag vom Einkommen abzusetzen (Rz. 29, 30 ff). Das Ausbildungsgeld nach müsse wegen seiner sozialpolitischen Funktion in voller Höhe anrechnungsfrei bleiben. Um einen solchen Fall handelt es sich nach einhelliger Auffassung der Kammer auch, wenn die Ausbildung nicht in einer Werkstatt für behinderte Menschen absolviert wird, dass Ausbildungsgeld aber - wie vorliegend -gleichermaßen nach den Vorschriften zur Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben gezahlt wird, nämlich § 104 Abs. 1 Nr. 1 SGB III a. F., § 122 Abs. 1 Nr. 1 III in der Fassung vom 23.12.2016. Nach dieser Vorschrift haben behinderte Menschen Anspruch auf Ausbildungsgeld während einer Berufsausbildung oder berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme einschließlich einer Grundausbildung. Es ist kein Grund ersichtlich, diese Situation anders zu bewerten als die Situation eine Ausbildung in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Vielmehr muss es erklärtes Ziel der Gesellschaft sein, die Ausbildung behinderter Menschen unabhängig von der Ausbildungseinrichtung gleichermaßen zu fördern, zu unterstützen und entsprechende Anreize zu setzen. Ersichtlich hat das Bundessozialgericht in der eingangs zitierten Entscheidung auf die sozialpolitische Funktion des gezahlten Ausbildungsgeldes als Anreizfunktion abgestellt und nicht auf die Art des Ausbildungsbetriebes. Wegen der gleichen Zielsetzung bei Gewährung des Ausbildungsgeldes und aus Gründen der Gleichbehandlung ist die Anrechnungsfreiheit auch auf die vorliegende Konstellation zu übertragen. Eine andere Entscheidung ließe sich nicht mit dem Gedanken der Gleichbehandlung, Art. 3 Grundgesetz, vereinbaren. Lediglich ergänzend wird insoweit auch auf Ziffer 82.03.01.00 der niedersächsischen Ausführungsbestimmungen zum SGB XII in der Fassung vom 18.2.2010 (niedersächsisches Ministerialblatt 2010, 280) Bezug genommen. Nach Satz 3 handelt es sich nach dem Willen des niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit bei Leistungen nach dem SGB III - insbesondere Ausbildungsgeld gemäß § 104 SGB III (!) - nicht um Einkommen. Da die niedersächsischen Ausführungsbestimmungen zum SGB XII lediglich Gegenstand und nicht Maßstab richterlicher Entscheidung sind, können sie nicht als Rechtsgrundlage herangezogen werden. Jedoch ist der Beklagte allein hierdurch daran gebunden, dass vom Kläger bei seiner Ausbildung bei der Deutschen Angestellten Akademie erzielte Einkommen anrechnungsfrei zu belassen, denn es wird nach den Vorschriften des SGB III (§ 104 SGB III a. F., § 122 SGB III n. F.) geleistet. Die Entscheidung zu den Kosten folgt aus § 193 SGG.