Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 24.08.2016, Az.: L 3 KA 120/11

Verordnungsfähigkeit des Arzneimittels "Leukonorm Cytochemia" i.R.d. Versorgung mit Arzneimitteln; Arzneikostenregresse wegen unwirtschaftlicher Verordnungsweise

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
24.08.2016
Aktenzeichen
L 3 KA 120/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2016, 36295
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - 25.08.2011 - AZ: S 24 KA 193/09

Tenor:

Die Berufung der Kläger gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hannover vom 25. August 2011 wird zurückgewiesen. Die Kläger tragen auch die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen zu 1. bis 7., die diese selbst tragen. Die Revision wird nicht zugelassen. Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 10.928 Euro festgesetzt.

Tatbestand

Im Streit stehen Arzneikostenregresse für die Quartale I und II/2005.

Die Kläger waren in diesen Quartalen als Fachärzte für Frauenheilkunde und Geburtshilfe zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen und übten ihre Tätigkeit gemeinsam in Berufsausübungsgemeinschaft in F. aus. Am 29. März 2005 und 22. April 2005 verordnete der Kläger zu 1. das Präparat Leukonorm Cytochemia für die bei der IKK G. versicherte Patientin H ... Eine weitere Verordnung des Arzneimittels erfolgte am 16. Juni 2005 für die bei derselben Krankenkasse versicherte I ... Das Arzneimittel war in der DDR entwickelt und zugelassen worden. Aufgrund des Einigungsvertrages galt es zunächst auch im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland als zugelassen. Die Verlängerung der fiktiven Zulassung wurde im Dezember 2006 abgelehnt; die dagegen vom Hersteller erhobene Klage blieb ohne Erfolg.

Im Hinblick auf die Verordnung im Quartal I/2005 beantragte die Vereinigte IKK (vormals IKK G.) im März 2006 bei dem Prüfungsausschuss, gegen die Kläger einen Regress wegen unwirtschaftlicher Verordnungsweise festzusetzen. Einen weiteren Regressantrag stellte sie im Juni 2006 wegen der Verordnungen im Quartal II/2005. Zur Begründung ihrer Anträge führte sie an, dass es sich bei dem verordneten Arzneimittel um ein Organpräparat handele, das nach Maßgabe der Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Arzneimittel-Richtlinien (AM-RL)) nicht verordnungsfähig sei.

Dagegen wandten die Kläger ein, sie hätten das fiktiv zugelassene humane Leukozytenultrafiltrat Leukonorm Cytochemia indikationsgerecht nach entsprechender Diagnostik aufgrund habitueller Aborte eingesetzt. Die 1972 geborene Patientin J. habe Ende 2004 einen Abort in der 10. Schwangerschaftswoche (SSW) erlitten. Die im Anschluss erfolgte Immundiagnostik habe eine geringe Immundefizienz gezeigt. Im März 2005 habe sich die Patientin mit einer frühen Schwangerschaft in der 5. SSW vorgestellt. Dopplersonographisch seien beidseits erhöhte Widerstände in der Arteria uterina nachgewiesen worden, sodass wiederum von einem sehr hohen Abortrisiko habe ausgegangen werden müssen. Aufgrund der nachgewiesenen Immundefizienz und der starken Ängste der Patientin vor einem neuen Abort sei mit einer Calciparin- und Leukonorm-Therapie begonnen worden. Ende Mai 2005 hätten sich der Immunstatus und die uterinen Dopplerwerte deutlich verbessert gezeigt, sodass die Leukonorm-Therapie eingestellt worden sei. Die Schwangerschaft habe sich im weiteren Verlauf regelmäßig entwickelt und die Patientin sei von einem gesunden Kind entbunden worden. Die 1982 geborene Patientin K. habe sich erstmalig im Mai 2005 bei Zustand nach Abort an die Kläger gewandt und sei in der 6. SSW schwanger gewesen. Auch sie habe starke Ängste vor einem erneuten Abort gehabt. Bei den durchgeführten dopplersonographischen Untersuchungen habe sich ein erheblich erhöhter Widerstand in beiden uterinen Gefäßen gezeigt, der sich auch unter einer Calciparin-Therapie nicht gebessert habe. Es habe daher von einem sehr hohen Abortrisiko ausgegangen werden müssen. Die Überprüfung des Immunstatus habe eine geringgradige Immundefizienz gezeigt. Mit der daraufhin eingeleiteten zusätzlichen Therapie mit Leukonorm Cytochemia sei es zu einem deutlichen Absinken der Gefäßwiderstände und damit einer deutlichen Verbesserung der uterinen Durchblutung gekommen. Auch in diesem Fall habe ein Abort verhindert werden können; die Patientin sei von einem gesunden Kind entbunden worden. Zur Ergänzung ihrer Ausführungen haben die Kläger ein vom Kläger zu 1. verfasstes Behandlungskonzept vorgelegt.

Mit Bescheid vom 26. März 2009 setzte die beklagte Prüfungsstelle gegen die Kläger einen Regress wegen Verstoßes gegen die AM-RL im Quartal I/2005 in Höhe von 3.657,36 Euro fest. Mit weiterem Bescheid vom selben Tag setzte sie wegen der Verordnungen im Quartal II/2005 einen Regress in Höhe von 7.271,09 Euro fest. Zur Begründung ihrer Entscheidungen führte sie aus, mit den Verordnungen von Leukonorm Cytochemia sei gegen Nr 3 i.V.m. Nr 20.2 Buchst f AM-RL verstoßen worden. Das Arzneimittel sei ein Umstimmungsmittel (Immunstimulans) gemäß Nr 20.2 Buchst f AM-RL, das grundsätzlich nicht zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) verordnungsfähig sei, es sei denn, dass zuvor allgemeine, nicht medikamentöse Maßnahmen genutzt wurden, hierdurch das Behandlungsziel nicht erreicht werden konnte und eine medikamentöse Behandlung mit diesem Arzneimittel zusätzlich erforderlich ist. Diese Ausnahmeregelung für eine Verordnungsfähigkeit zulasten der GKV liege unter Beachtung des Arztvortrages nicht vor. Die Diagnose (habitueller Abort, dh mindestens drei Aborte) sei nicht gesichert und der Vortrag erscheine unzureichend.

Gegen die Bescheide der Beklagten vom 26. März 2009 haben die Kläger am 27. April 2009 Klage bei dem Sozialgericht (SG) Hannover erhoben. Eine Klagebegründung haben sie im erstinstanzlichen Verfahren nicht vorgelegt.

Mit Gerichtsbescheid vom 25. August 2011 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Kammer sehe keinen Anlass, die Ausführungen der Beklagten in den angefochtenen Bescheiden in Zweifel zu ziehen, zumal die Kläger selbst hiergegen im Klageverfahren trotz mehrfacher Erinnerungen keine begründeten Einwände erhoben hätten.

Gegen den ihren Prozessbevollmächtigten am 31. August 2011 zugestellten Gerichtsbescheid haben die Kläger am 7. September 2011 bei dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen Berufung eingelegt. Sie sind der Auffassung, dass zunächst ein Vorverfahren vor dem Beschwerdeausschuss durchzuführen sei. Soweit die Beklagte annehme, die Diagnose habitueller Abort sei nicht gesichert und der Vortrag der Kläger sei unzureichend gewesen, habe sie es im Rahmen der Amtsermittlung pflichtwidrig unterlassen, den Klägern Hinweise zu erteilen und ihnen Gelegenheit zur Ergänzung ihres Vorbringens zu geben. Inhaltlich seien die Verordnungen von Leukonorm Cytochemia nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 6. Dezember 2005 (1 BvR 347/98) gerechtfertigt gewesen. Dafür sei maßgebend, dass das Leben des jeweils ungeborenen Kindes nach ärztlicher Beurteilung von der konkreten Gefahr einer Fehlgeburt bedroht gewesen sei. Eine andere Behandlungsmöglichkeit habe nicht bestanden, und in medizinischen Fachkreisen habe über die Anwendung des Arzneimittels in derartigen Fällen Konsens bestanden. Im Übrigen habe der Beschwerdeausschuss für andere als die hier betroffenen Quartale die Anwendung des Präparats bei der Diagnose habitueller Abort gebilligt und die Verordnungen zulasten der GKV bestätigt.

Auf Nachfrage des Senats haben die Kläger ergänzend zu den bei den Patientinnen erhobenen Befunden vorgetragen und die Behandlungsdokumentationen vorgelegt.

Die Kläger beantragen,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hannover vom 25. August 2011 und die Bescheide der Beklagten vom 26. März 2009 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die Durchführung eines Vorverfahrens vor dem Beschwerdeausschuss für ausgeschlossen, da sich der Verordnungsausschluss unmittelbar aus den AM-RL ergebe. Im Hinblick auf den erstmaligen Vortrag der Kläger im Berufungsverfahren sei an eine Präklusion zu denken. Jedenfalls lasse sich den von den Klägern vorgelegten Unterlagen keine konkrete Gefahr für das Leben der ungeborenen Kinder entnehmen.

Die zum Verfahren beigeladene Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) Niedersachsen unterstützt das Vorbringen der Kläger, ohne einen Antrag zu stellen.

Auch die übrigen Beigeladenen stellen keinen Antrag.

Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts hat der Senat den Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Prof. Dr. Dr. L. gutachtlich gehört. Der Sachverständige ist zu dem Ergebnis gelangt, dass keine konkrete Gefährdung des Lebens des jeweils ungeborenen Kindes vorgelegen habe. Hierzu hat er ausgeführt, dass es für die von den Klägern durchgeführten dopplersonographischen Untersuchungen keine Indikation gegeben habe und mit diesen auch kein drohender Abort erkannt werden könne. Die zusätzlich veranlassten immunologischen Untersuchungen hätten keine klinisch relevanten Auffälligkeiten ergeben (Gutachten vom 14. März 2016).

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakte und der Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen; die angefochtenen Bescheide der Beklagten vom 26. März 2009 sind rechtmäßig und verletzen die Kläger nicht in ihren Rechten.

1. Die Klage ist als Anfechtungsklage gem § 54 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere bedurfte es vor Erhebung der Klage keiner Durchführung eines Vorverfahrens vor dem Beschwerdeausschuss.

a) Gem § 78 Abs 1 S 1 SGG sind Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts vor Erhebung der Anfechtungsklage grundsätzlich in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Eines Vorverfahrens bedarf es ausnahmsweise dann nicht, wenn ein Gesetz dies für besondere Fälle bestimmt (§ 78 Abs 1 S 2 Nr 1 SGG).

Gegen die im Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung getroffenen Entscheidungen der Prüfungsstelle können die betroffenen Ärzte grundsätzlich die Beschwerdeausschüsse anrufen; das Verfahren vor dem Beschwerdeausschuss gilt als Vorverfahren (§ 106 Abs 5 S 3 und 6 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V)). Nach § 106 Abs 5 S 8 SGB V findet allerdings in Fällen der Festsetzung einer Ausgleichspflicht für den Mehraufwand bei Leistungen, die durch das Gesetz oder durch die Richtlinien nach § 92 ausgeschlossen sind, ein Vorverfahren nicht statt. Diese (Ausnahme-)Regelung gilt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) aber nur dann, wenn sich die Unzulässigkeit einer Verordnung unmittelbar und eindeutig aus dem Gesetz selbst oder aus den Richtlinien ergibt; dabei muss sich der Ausschluss aus spezifischen Regelungen des Krankenversicherungsrechts ergeben (BSG, Urteil vom 2. Juli 2014 - B 6 KA 25/13 R, Rn 19 ff - SozR 4-2500 § 106 Nr 45; Urteil vom 11. Mai 2011 - B 6 KA 13/10 R, Rn 19 ff - SozR 4-2500 § 106 Nr 32).

b) Diese Voraussetzungen eines Ausschlusses des Vorverfahrens liegen hier im Hinblick auf die streitbefangenen Verordnungen des Arzneimittels Leukonorm Cytochemia vor.

Dabei kommt es entgegen der Auffassung der Beklagten nicht auf einen Ausschluss der Verordnungsfähigkeit aufgrund der AM-RL an, denn Leukonorm Cytochemia war schon nach gesetzlichen und damit höherrangigen krankenversicherungsrechtlichen Bestimmungen grundsätzlich nicht verordnungsfähig (vgl BSG, Beschluss vom 28. August 2013 - B 6 KA 27/13 B, Rn 5 f). Ein Anspruch auf Versorgung mit Arzneimitteln besteht im Rahmen der GKV nur nach Maßgabe des § 27 Abs 1 S 2 Nr 3 i.V.m. § 31 Abs 1 SGB V. Diesen Bestimmungen ist im Kontext mit den allgemeinen Regelungen der §§ 2 Abs 1 S 3, 12 Abs 1 SGB V zu entnehmen, dass im Rahmen der GKV nur solche Verordnungen zulässig sind, die die Gewähr für Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit jeweils nach Maßgabe des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse bieten. Dafür sind zuverlässige wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen über das Arzneimittel in dem Sinne erforderlich, dass der Erfolg der Behandlung mit ihm durch eine ausreichende Anzahl von Behandlungsfällen belegt ist (BSG, Urteil vom 5. November 2008 - B 6 KA 63/07 R, Rn 17 - SozR 4-2500 § 106 Nr 21 mwN). Davon kann im Arzneimittelbereich ausgegangen werden, wenn es sich um ein Fertigarzneimittel handelt, das nach Überprüfung von Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nach dem AMG zum Verkehr zugelassen wurde (BSG aaO, Rn 19). Versicherte können eine Versorgung mit vertragsärztlich verordneten Fertigarzneimitteln, die nach den Regelungen des Arzneimittelrechts einer Zulassung bedürfen, daher regelmäßig nur beanspruchen, wenn für das Arzneimittel eine für das jeweilige Indikationsgebiet betreffende Zulassung vorliegt (BSG, Urteil vom 18. Mai 2004 - B 1 KR 21/02 R, Rn 14 - SozR 4-2500 § 31 Nr 1; Urteil vom 8. November 2011 - B 1 KR 19/10 R, Rn 11 - SozR 4-2500 § 31 Nr 19). Dies war im Hinblick auf das hier streitige Arzneimittel nicht der Fall.

Dass das Medikament Leukonorm Cytochemia früher in der DDR zugelassen war, aufgrund des Einigungsvertrages auch im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zunächst weiterhin als zugelassen galt und insoweit die Verkehrsfähigkeit des Arzneimittels arzneimittelrechtlich fingiert wurde, steht einer Zulassung nach dem AMG nicht gleich. Eine Überprüfung wie im Arzneimittelzulassungsverfahren nach dem AMG hatte Leukonorm Cytochemia zum Zeitpunkt der streitigen Verordnungen nicht erfolgreich durchlaufen (BSG, Beschluss vom 28. August 2013 - B 6 KA 27/13 B, Rn 6 nach ). Der sich daraus ergebende Verordnungsausschluss gilt allgemein und lässt sich unmittelbar und eindeutig aus dem SGB V heraus bestimmen (im Ergebnis ebenso SG Marburg, Gerichtsbescheid vom 31. Mai 2013 - S 12 KA 462/11, Rn 17 ff - NZS 2013, 788 [BGH 05.06.2013 - XII ZB 101/09]). Der Sachverhalt ist insoweit auch leicht überprüfbar; insbesondere bedarf es dabei nicht der Klärung medizinischer Fragestellungen, sondern allein der Umsetzung normativer Vorgaben. Demzufolge erscheint eine Vorbefassung des mit Vertretern von Ärzten und Krankenkassen fachkundig besetzten Beschwerdeausschusses nach der Intention des Gesetzgebers auch nicht geboten (vgl dazu BSG, Urteil vom 11. Mai 2011 aaO, Rn 28; Urteil vom 12. Dezember 2012 - B 6 KA 50/11 R, Rn 10 - SozR 4-2500 § 106 Nr 38).

c) Soweit sich die Klägerin erstmals im Berufungsverfahren auf den Beschluss des BVerfG vom 6. Dezember 2005 (1 BvR 347/98) stützt, wonach im Einzelfall aufgrund einer verfassungskonformen Auslegung der Regelungen des Leistungsrechts der GKV zur Arzneimittelversorgung eine Verordnung nicht zugelassener Arzneimittel in Betracht kommen kann, berührt dies den generellen gesetzlichen Ausschluss der Verordnungsfähigkeit des Arzneimittels nicht. Im Hinblick auf die Anwendung des § 106 Abs 5 S 8 SGB V ist jedoch allein dieser generelle Verordnungsausschluss maßgebend.

Über das Eingreifen eines Ausschlusses des Vorverfahrens muss spätestens mit dem Erlass des Bescheides der Prüfungsstelle Klarheit bestehen. Alle Beteiligten müssen wissen, ob gegen die Entscheidung der Prüfungsstelle unmittelbar Klage zu erheben ist oder ob es zur Durchführung eines Verwaltungsverfahrens in zweiter Instanz kommt. Die Prüfungsstelle muss eine Rechtsbehelfsbelehrung erteilen, auf deren Richtigkeit sich der Arzt verlassen können muss. Deshalb kann es für die Frage, ob gegen einen Regressbescheid der Beschwerdeausschuss angerufen werden muss oder unmittelbar Klage erhoben werden kann, nicht darauf ankommen, wie der Arzt seinen Rechtsbehelf begründet, insbesondere, ob er einen Ausnahmefall geltend macht, ob er diesen ausreichend begründet, ob ein Ausnahmefall sich jedenfalls aufdrängt oder auch nur als möglich erscheint (BSG, Urteil vom 2. Juli 2014 - B 6 KA 25/13 R, Rn 27 nach = SozR 4-2500 § 106 Nr 45). Das BSG hat insoweit herausgestellt, dass sich der Rechtsbehelfszug und damit die Anwendbarkeit des § 106 Abs 5 S 8 SGB V nur nach dem "typischen Fall" richten kann. Im "typischen Fall" erfülle der Verstoß eines Arztes gegen Vorgaben der AM-RL die Voraussetzungen, unter denen nach dieser Vorschrift eine Anrufung des Beschwerdeausschusses ausgeschlossen sein soll, aber auch dann, wenn in bestimmten Fällen eine ausnahmsweise Verordnung in Betracht kommt (BSG aaO, Rn 26). Nichts anderes kann für einen unmittelbar aus dem Gesetz folgenden Verordnungsausschluss gelten, wenn aufgrund richterrechtlicher Rechtsfortbildung Ausnahmen von dem generellen Verordnungsausschluss in Betracht kommen (Beschluss des erkennenden Senats vom 5. November 2015 - L 3 KA 69/15 B). Dass es in diesem Zusammenhang Konstellationen geben kann, bei denen der Ermittlungsaufwand und die notwendige medizinische Fachkunde dem entsprechen, was auch bei einem Off-Label-Use anfällt - für den die Ausschlussregelung des § 106 Abs 5 S 8 SGB V nicht greift (BSG, Urteil vom 11. Mai 2011 aaO) - muss dabei im Hinblick auf die Notwendigkeit einer klaren Bestimmung des zulässigen Rechtsbehelfs hingenommen werden (BSG, Urteil vom 2. Juli 2014 aaO).

2. Die Klage ist aber unbegründet. Die Bescheide der Beklagten vom 26. März 2009 sind rechtmäßig.

a) Rechtsgrundlage für die durch die Beklagte festgesetzten Arzneikostenregresse wegen unwirtschaftlicher Verordnungsweise ist § 106 Abs 2 S 4, Abs 3 S 3 SGB V i.V.m. §§ 33 S 1, 8 Abs 1 und 3 der Vereinbarung zur Prüfung der Wirtschaftlichkeit in der vertragsärztlichen Versorgung gemäß § 106 SGB V ab dem Jahr 2008 (PrüfV).

Gem § 106 Abs 2 S 4 SGB V können die Landesverbände der Krankenkassen und die Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich mit den KÄVen über die in S 1 vorgesehenen Prüfungen hinaus andere arztbezogene Prüfungsarten vereinbaren. Dabei ist festzulegen, unter welchen Voraussetzungen Einzelfallprüfungen durchgeführt werden und dass die Prüfungsstelle auf Antrag der KÄV, der Krankenkasse oder ihres Verbandes Einzelfallprüfungen durchführt (§ 106 Abs 3 S 3 SGB V).

Nach § 33 S 1 der auf dieser Grundlage zwischen der Beigeladenen zu 1. und den Beigeladenen zu 2. bis 7. (bzw deren Rechtsvorgängern) getroffenen PrüfV prüft die Prüfungsstelle auf Antrag einer Krankenkasse oder eines Vertragspartners in begründeten Fällen, ob der Vertragsarzt unwirtschaftliche Arzneimittelanwendungen veranlasst hat. Als Ergebnis ihrer Prüfung entscheidet sie gem § 8 Abs 1 Buchst c PrüfV, ob und ggf in welcher Höhe ein Regress festzusetzen ist und setzt diesen ggf nach § 8 Abs 3 PrüfV fest.

b) Bedenken an der formellen Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide sind von den Klägern nicht geäußert worden und bestehen auch von Amts wegen nicht.

c) Die Regressbescheide sind auch materiell rechtmäßig.

aa) Das zum Zeitpunkt der Verordnungen lediglich fiktiv zugelassene Arzneimittel Leukonorm Cytochemia durfte grundsätzlich nicht zu Lasten der GKV verordnet werden (vgl dazu bereits die Ausführungen unter 1. b). Dies gilt unabhängig davon, ob bei den Versicherten die in der Fachinformation genannte Indikation "Habituelle Aborte (immunologisch bedingt)" vorgelegen hat (was allerdings nicht der Fall war, vgl dazu nachstehend unter cc).

Waren die Verordnungen demnach schon nach dem Gesetz ausgeschlossen, kann es nicht darauf ankommen, ob sich ein Verordnungsausschluss (zusätzlich) aus den auf der Grundlage des § 92 Abs 1 S 2 Nr 6 SGB V vom Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) beschlossenen AM-RL ergab.

bb) Eine Verordnungsfähigkeit kann sich nicht ausnahmsweise aus Nr 20.2 Buchst f AM-RL ergeben, weil dies im Widerspruch zu dem generellen Verordnungsausschluss stünde, der unmittelbar aus dem Gesetz und damit aus höherrangigem Recht folgt. Insoweit bestünde auch keine Ermächtigung des GBA, in den Richtlinien nach § 92 Abs 1 S 2 Nr 6 SGB V Ausnahmen von dem gesetzlichen Ausschluss zu regeln.

cc) Die Verordnungen von Leukonorm Cytochemia waren ferner auch nicht ausnahmsweise aufgrund einer verfassungskonformen Auslegung der Regelungen des Leistungsrechts der GKV zur Arzneimittelversorgung zulässig.

Nach dem Beschluss des BVerfG vom 6. Dezember 2005 (1 BvR 347/98 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5) verpflichten die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Artikel 2 Abs 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) die Gerichte in besonders gelagerten Fällen zu einer grundrechtsorientierten Auslegung der maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts. Danach darf eine in der GKV versicherte Person, die an einer lebensbedrohlichen oder sogar regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, für die schulmedizinische Behandlungsmethoden nicht vorliegen, nicht von der Leistung einer bestimmten Behandlungsmethode durch die Krankenkasse ausgeschlossen werden, wenn diese Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf verspricht (BVerfG aaO, Rn 64 nach ). Liegen diese engen Voraussetzungen vor und besteht danach ein Anspruch des Versicherten auf Versorgung mit einem bestimmten Arzneimittel, so darf nicht wegen der Verordnung dieses Medikaments ein Regress gegen den verordnenden Arzt festgesetzt werden (BSG, Urteil vom 13. Oktober 2010 - B 6 KA 48/09 R, Rn 31 nach = SozR 4-2500 § 106 Nr 30).

Vorliegend fehlt es schon an einer lebensbedrohlichen oder gar regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung der Patientinnen J. und K., und es liegt auch keine damit gleichzustellende Sachlage vor. Insoweit kann zwar in Betracht zu ziehen sein, eine Gefahr für das Leben des ungeborenen Kindes mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung der werdenden Mutter gleichzusetzen (vgl LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10. März 2011 - L 5 KR 177/10, Rn 34 mit Hinweis auf BSG, Urteil vom 24. Januar 1990 - 3 RK 18/88 - SozR 3-2200 § 182 Nr 1). Ein Anspruch der Versicherten auf der Grundlage der Rechtsprechung des BVerfG setzt aber stets eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik voraus. Das bedeutet, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird (BVerfG, Beschluss vom 10. November 2015 - 1 BvR 2056/12, Rn 18 - NZS 2016, 20 [BVerfG 10.11.2015 - 1 BvR 2056/12] mwN). Nichts anderes kann für die Verordnung eines Arzneimittels zum Schutz des Lebens eines ungeborenen Kindes gelten. Vorliegend bestand aber zum Zeitpunkt der jeweiligen Verordnungen im Hinblick auf das Leben des jeweils ungeborenen Kindes der Patientinnen keine derartige notstandsähnliche Situation.

Der Senat folgt bei dieser Beurteilung dem überzeugenden Gutachten von Prof. Dr. Dr. M. der mit nachvollziehbarer Begründung zu dem Ergebnis gelangt ist, dass zum Zeitpunkt der Verordnungen keine konkrete Gefährdung des Lebens des jeweils ungeborenen Kindes vorgelegen hat. Dazu hat er zunächst unter Hinweis auf die Ergebnisse von Studien aus den Jahren 2000 und 2001 dargelegt, dass drohende Fehlgeburten nicht durch die von den Klägern vorgenommenen Doppleruntersuchungen der uterinen Gefäße erkannt werden können. Dem ist der Kläger zu 1. in seiner Stellungnahme zu dem Gutachten letztlich auch nicht entgegen getreten. Wenn er hierzu nun vorträgt, er habe nicht allein aus den Ergebnissen der Doppleruntersuchungen eine Indikation zur Immuntherapie abgeleitet, vermag dies schon deshalb weder zu überzeugen noch Anlass zu weitergehenden Ermittlungen zu geben, weil insoweit nur allgemeine Annahmen zur Indikation der Verordnungen des Arzneimittels geäußert, nicht aber konkrete weitere Befunde im Einzelfall benannt und dokumentiert worden sind.

Die zusätzlich veranlassten immunologischen Untersuchungen haben nach dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. L. keine klinischen Auffälligkeiten ergeben. Das ist nicht nur anhand der dem Senat vorliegenden Befundunterlagen nachvollziehbar, sondern deckt sich auch mit der Einschätzung der Kläger, die schon im Verwaltungsverfahren lediglich von einer geringen Immundefizienz berichtet hatten. Soweit sie die Aufnahme der Leukonorm-Therapie bei der Patientin J. mit starken Ängsten der Patientin vor einem erneuten Abort begründet haben, ist offensichtlich, dass sich aus diesem Umstand für sich genommen keine konkrete Gefahr einer erneuten Fehlgeburt herleiten lässt.

Die Einschätzung des Sachverständigen ist auch im Übrigen unter Berücksichtigung des Inhalts der von den Klägern vorgelegten Befundunterlagen nachvollziehbar. Insofern ist hinsichtlich der Patientin J. zunächst von Bedeutung, dass die Schwangerschaftsdokumentation mit einem Bericht über eine Ultraschalluntersuchung vom 1. April 2005 beginnt; etwaige vor diesem Zeitpunkt erhobenen Befunde sind weder konkret dargelegt worden noch erkennbar. Die erste Verordnung war jedoch schon vor diesem Zeitpunkt, nämlich am 29. März 2005 ausgestellt worden. Nach den im Übrigen vorgelegten Befundunterlagen und Arztbriefen hatte die Patientin J. im Oktober 2002 einen gesunden Sohn geboren. Im Dezember 2004 war es - offenbar erst- und einmalig - zu einem Abort gekommen. Auch bei der Patientin K. war es vor der hier maßgebenden Schwangerschaft einmalig (im Februar 2003) zu einem Abort gekommen. Diese vorangegangenen Fehlgeburten lassen für die hier maßgebenden Schwangerschaften ebenfalls nicht auf eine zum Zeitpunkt der jeweiligen Verordnung bestehende konkrete Gefahr für das Leben des jeweils ungeborenen Kindes schließen. Prof. Dr. Dr. L. weist in diesem Zusammenhang überzeugend darauf hin, dass sich die Wahrscheinlichkeit für erneute Aborte nach nur einer vorausgegangenen Fehlgeburt allenfalls geringfügig erhöht; demgegenüber ist die Annahme habitueller Aborte mit deutlich erhöhtem Risiko für weitere Fehlgeburten erst nach drei Aborten gerechtfertigt.

dd) Die Festsetzung der Regresse ist auch nicht aus anderen Gründen rechtswidrig.

Verordnungsregresse nach § 106 SGB V setzen kein Verschulden des Vertragsarztes voraus (BSG, Urteil vom 3. Februar 2010 - B 6 KA 37/08 R, Rn 42 nach = SozR 4-2500 § 106 Nr 26 mwN).

Zudem bieten sie generell keinen Raum für eine Ermessensausübung. Bei Regressen, denen unzulässige Verordnungen zugrunde liegen, wie dies beim Fehlen der Arzneimittelzulassung des verordneten Medikaments, bei einem unzulässigen Off-Label-Use, bei Verordnung entgegen einem in den Arzneimittelrichtlinien bestimmten Verordnungsausschluss oder bei Unvereinbarkeit einer Verordnung mit den Vorgaben des § 135 Abs 1 SGB V der Fall ist, liegt ein sogenannter Basismangel vor. In solchen Fällen kann eine Unwirtschaftlichkeit nur bejaht oder verneint werden (BSG aaO, Rn 43). Ist einem Vertragsarzt - wie hier - eine unwirtschaftliche Verordnungsweise anzulasten, so ist der Regress in Höhe des der Krankenkasse entstandenen Schadens festzusetzen.

Insoweit bestehen auch keine Bedenken an der Höhe der festgesetzten Regressforderungen. Die Beklagte hat dabei Einsparungen der antragstellenden Krankenkasse aufgrund von Apothekenrabatten berücksichtigt und die Regresse lediglich in Höhe der um die Rabatte geminderten Apothekenabgabepreise festgesetzt.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs 1 S 1 SGG i.V.m. § 154 Abs 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs 2 SGG), liegen nicht vor.

Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus der Anwendung von § 197a Abs 1 S 1 SGG i.V.m. §§ 47 Abs 1 S 1, 52 Abs 1 und 3 S 1 Gerichtskostengesetz (GKG).