Verwaltungsgericht Osnabrück
Beschl. v. 09.05.2005, Az.: 1 B 26/05
Rechtmäßigkeit der Überweisung eines Schülers an eine andere Schule derselben Schulform wegen des Konsums von Alkohol und Betäubungsmitteln während einer Klassenfahrt; Vorliegen eines milderen Mittels in Form der Überweisung in die Parallelklasse; Unverhältnismäßigkeit einer Überweisung sechs Wochen vor Ablauf des Schuljahres; Anforderungen an die Rechtmäßigkeit einer Schulordnungsmaßnahme; Voraussetzungen für die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs
Bibliographie
- Gericht
- VG Osnabrück
- Datum
- 09.05.2005
- Aktenzeichen
- 1 B 26/05
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 34463
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGOSNAB:2005:0509.1B26.05.0A
Rechtsgrundlagen
- § 61 Abs. 7 NSchG
- § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO
- § 80 Abs. 4 VwGO
- § 80 Abs. 5 S. 1 2. Alt. VwGO
Fundstellen
- NVwZ-RR 2005, VI Heft 10 (Kurzinformation)
- NVwZ-RR 2006, 124 (Volltext mit amtl. LS)
- SchuR 2006, 140 (Kurzinformation)
- SchuR 2006, 10 (Urteilsbesprechung von der Redaktion)
Verfahrensgegenstand
Schulrecht
In der Verwaltungsrechtssache
hat das Verwaltungsgericht Osnabrück -1. Kammer -
am 9. Mai 2005
beschlossen:
Tenor:
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 02.05.2005 wird wieder hergestellt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Entscheidungsgründe
I.
Der Antragsteller wendet sich gegen eine Schulordnungsmaßnahme.
Der am 19.12.1987 geborene Antragsteller besucht gegenwärtig die Klasse 10 a der Realschule der Antragsgegnerin. Er nahm mit seiner Klasse und der Parallelklasse an einer Abschlussfahrt nach München in der Zeit vom 11.04. bis 16.04.2005 teil. Ausweislich eines nicht datierten und nicht unterschriebenen Vermerks zu den "Beobachtungen vom 14. und 15.04.2005" stellten die die Abschlussfahrt begleitenden Lehrer in einem 4-Bett-Zimmer, das unter anderem vom Antragsteller genutzt wurde, fest, dass die Schüler 20 Flaschen mit Apfelschorle offensichtlich mit Wodka gemischt zum Verzehr bereithielten. Daneben wurde auf einem der Betten in dem 4-Bett-Zimmer in zwei Kleinbildfilmdosen Marihuana vorgefunden. Die Schüler gaben auf Befragen an, dass es sich um "Gras" handele, das sie aus Osnabrück mitgebracht hätten. Drogen, Alkohol und Zigaretten wurden von den Schülern ausgehändigt und von den Lehrkräften in Besitz genommen. Die befragten Schüler - unter ihnen der Antragsteller - gaben an, wer in Person mit dem Vorfall in Verbindung stehe und schlössen dabei aus, dass ein vierter Schüler involviert sei. Die Schüler wurden bis zum Ende der Abschlussfahrt bei den Klassen belassen und fuhren gemeinsam mit diesen zurück nach Bissendorf.
Unter dem 20.04.2005 wurden die Erziehungsberechtigte des Antragstellers und er selbst zur Klassenkonferenz eingeladen. Diese beschloss nach Anhörung des Antragstellers und seiner Erziehungsberechtigten in der Konferenz am 28.04.2005 mit 15 zu zwei Stimmen bei vier Enthaltungen die Überweisung an eine andere Schule derselben Schulform. Zudem beschloss die Konferenz die sofortige Vollziehung der Verfügung anzuordnen. In gleicher Weise wurden Ordnungsmittel gegen die Übrigen betroffenen Schüler verhängt.
Unter dem 29.04.2005 genehmigte die Landesschulbehörde gem. § 61 Abs. 7 NSchG die beschlossene Ordnungsmaßnahme.
Mit Bescheid vom 29.04.2005 erließ die Antragsgegnerin dem Beschluss der Konferenz entsprechend die Ordnungsmaßnahme und gab der Erziehungsberechtigten des Antragstellers die Überweisung an eine andere Schule derselben Schulform (der Ratsschule Melle) bekannt. Zugleich ordnete sie die sofortige Vollziehung des Bescheides an. Zur Begründung verwies sie auf das festgestellte Verhalten des Antragstellers und meint, eine mildere Maßnahme als die verfügte Überweisung an eine andere Schule sei keine wirksame Antwort auf sein Fehlverhalten. Eine Überweisung an eine Parallelklasse als mildere Ordnungsmaßnahme komme schon deshalb nicht in Betracht, weil die Realschule in Bissendorf zweizügig sei und die drei beteiligten Schüler aus beiden Klassen stammten. Das Interesse an der sofortigen Vollziehung sei erforderlich, um die pädagogische Wirksamkeit zu erhöhen, und diene der Prävention. Den Mitschülerinnen und Mitschülern könne nämlich nicht zugemutet werden, nach dem geschilderten Vorfall mit dem Antragsteller weiter zusammen unterrichtet zu werden. Das Interesse dieser Mitschüler an einem geordneten Schulbesuch sei höher zu bewerten, als das Interesse des Antragstellers an einer aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs.
Mit dem am 02.05.2005 erhobenen Antrag beantragt der Antragsteller,
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 02.05.2005 gegen den Schulverweis der Antragsgegnerin vom 29.04.2005 wiederherzustellen.
Er hält die Ordnungsmaßnahme im Hinblick auf die zu Grunde liegende Verfehlung für unverhältnismäßig und verweist darauf, dass das Schuljahr kurzfristig zu Ende gehe. In den verbleibenden ca. sechs Wochen, in denen noch Leistungen an einer anderen Schule erbringen könne, sei es ihm nicht möglich, sich dort einzuarbeiten. Gerade in diesen sechs Wochen gehe es aber um das Erreichen des Schulzieles. Die Antragsgegnerin habe nicht berücksichtigt, dass die Verfehlung im Rahmen einer Abschlussfahrt begangen worden sei, der mit einer Verweisung in eine Parallelklasse hinreichend begegnet werden könne.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Sie meint, die Suchtprävention sei Teil der Sozial- und Gesundheitserziehung und gehöre zum Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule. Der Antragsteller habe die während der Schulfahrt zu beachtenden Regeln in erheblichem Maße verletzt. Der Konsum von legalen und illegalen Drogen stelle neben der Gefährdung der eigenen Person, die insbesondere beim Konsum von illegalen Drogen erheblich sei, noch eine besondere Rücksichtslosigkeit dar, weil dadurch der Erfolg der Schulfahrt in ernst zu nehmender Weise gefährdet werde. Immerhin vertrauten die Erziehungsberechtigten ihre Kinder den verantwortlichen Lehrkräften in der berechtigten Erwartung an, dass die Belange der Kinder dort nicht durch negative Vorbildwirkung beeinträchtigt würden und Nachahmeffekte entstünden. Der Antragsteller habe das Marihuana gezielt besorgt, um es während der Schulfahrt zu konsumieren. Eine Überweisung in die Parallelklasse als mildeste Ordnungsmaßnahme werde dem Fehlverhalten nicht hinreichend gerecht. Unabhängig davon gebe es in beiden 10. Realschulklassen der Antragsgegnerin bereits eine latente Drogenproblematik, die das Klassenklima durch Misstrauen und Angst negativ beeinflusste. Des Weiteren stellten die Parallelklassen durch viele übergreifende Kurse und gemeinsame Veranstaltungen eine soziale Einheit dar. Die Überweisung des Antragstellers in die Parallelklasse würde daher keine geeignete Maßnahme darstellen, um den Zweck der Ordnungsmaßnahme zu erreichen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und den Verwaltungsvorgang der Antragsgegnerin Bezug genommen, sie sind in ihren wesentlichen Bestandteilen Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.
II.
Der zulässige Antrag hat Erfolg.
Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 2. Alternative VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs wiederherstellen, wenn die sofortige Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4, Abs. 4 VwGO angeordnet worden ist. Dabei prüft das Gericht die ordnungsgemäße Begründung, aus der sich das besondere Interesse an der Vollziehung des angegriffenen Verwaltungsakts ergeben muss, und wägt das Interesse des Antragstellers, zunächst von der Wirkung des angefochtenen Verwaltungsakts verschont zu bleiben, gegen das besondere Vollzugsinteresse, dass die sofortige Vollziehung des Verwaltungsakts veranlasst, auf der anderen Seite ab. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei der Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs im Hauptsacheverfahren zu. Ein besonderes Vollzugsinteresse kann es dann nicht geben, wenn sich die angegriffene Verfügung bei summarischer Prüfung als voraussichtlich rechtswidrig erweist; andererseits muss das Interesse eines Antragstellers, zunächst von den Wirkungen der Verfügung verschont zu bleiben, zurückstehen, wenn die Entscheidung, der die Anordnung beigegeben worden ist, in der Hauptsache offensichtlich rechtmäßig ist.
Grundlage der Überweisung des Antragstellers an eine andere Schule derselben Schulform ist § 61 Abs. 2, Abs. 3 Nr. 2 Niedersächsisches Schulgesetz - NSchG -. Danach kann ein Schüler an eine andere Schule derselben Schulform überwiesen werden, wenn er seine Pflichten grob verletzt, insbesondere gegen rechtliche Bestimmungen verstoßen hat, den Unterricht nachhaltig stört, die von ihm geforderten Leistungen verweigert oder dem Unterricht unentschuldigt fernbleibt.
Die für die Verhängung einer solchen Ordnungsmaßnahme einzuhaltenden formellen Zuständigkeitsverfahren und Formvorschriften, wie sie § 61 Abs. 5 Satz 1 und Abs. 6 Satz 1 und 2 NSchG vorsehen, sind beachtet worden.
In materieller Hinsicht ist mit einer im summarischen Verfahren zu gewinnenden Gewissheit jedoch nicht davon auszugehen, dass dem Antragsteller eine Pflichtverletzung zur Last zu legen ist, die es verhältnismäßig erscheinen lässt, ihn an eine andere Schule derselben Schulform zu überweisen. Dabei geht die Kammer davon aus, dass es sich beim Besitz von illegalen Drogen - gleich welcher Art - um eine grobe Pflichtverletzung im Sinne des § 61 Abs. 2 NSchG handelt (vgl. dazu Littmann in Seyderhelm/ Nagel, Niedersächsisches Schulgesetz, Stand: Juni 2004, § 61, Anm. 4.1 m.w.N.). Wie bei allen Maßnahmen ist auch die Schule bei der Verhängung von Ordnungsmitteln an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden. Eine Maßnahme nach § 61 NSchG darf daher nur dann getroffen werden, wenn der Zweck der Schule dies erforderlich macht und wenn andere pädagogische Maßnahmen, insbesondere Erziehungsmittel nicht ausreichen. Weiterreichende Maßnahmen dürfen nur dann verhängt werden, wenn weniger schwer wiegende nicht genügen. Die Überweisung an eine andere Schule derselben Schulform käme möglicherweise auch ohne eine vorherige Androhung sofort in Betracht, wenn der betreffende Schüler vor den Folgen seines Verhaltens schon in mehrfacher Weise vergeblich gewarnt worden sei oder sofortiges Handeln aus anderen Gründen geboten erscheint (Littmann, a.a.O., Rdnr. 3.2 m.w.N.).
Die Kammer erachtet eine Überweisung an eine andere Schule nach Nr. 2 in der konkreten Situation als unverhältnismäßig. Dabei lässt sie sich von folgenden Erwägungen leiten: Der Antragsteller befindet sich in der Endphase seiner schulischen Ausbildung auf der Realschule. Die noch ausstehenden Klassenarbeiten können deshalb für ihn besondere Bedeutung für den Schulabschluss insgesamt, möglicherweise jedenfalls was die Erreichung eines qualifizierten Realschulabschlusses angeht, gewinnen. Im Falle einer Überweisung an eine andere Realschule wird es in der verbleibenden Zeit zum einen für ihn kaum möglich sein, sich so in die Art der Kenntnisvermittlung durch den jeweiligen Fachlehrer und den Unterrichts- und Lehrstand der neuen Klasse einzuarbeiten, dass er, wie auf seiner bisherigen Schule, seinen Leistungstand und seine Leistungsfähigkeit entsprechend seinen Möglichkeiten dokumentieren kann. Damit gewinnt die Überweisung an eine andere Schule eine deutlich andere Qualität, als wenn sie in einem Schuljahr erfolgt, das nicht zum Abschluss führt.
Bei der Bewertung der Verfehlung geht die Kammer schon von einer groben Pflichtwidrigkeit aus. Sie berücksichtigt jedoch auch, dass die Schüler, die kurz vor der Erreichung der Volljährigkeitsgrenze stehen, die auslösenden Verfehlungen im Rahmen einer Abschlussfahrt begangen haben. Sie liegen damit zwar im Rahmen einer schulischen Veranstaltung, belasten jedoch nicht in gleicherweise das Verhältnis, wie Ereignisse im Schulalltag. Vorkommnisse während der Klassenfahrt lassen sich nicht 1 zu 1 in die übliche Schulsituation übertragen. Von einer Unzumutbarkeit der weiteren gemeinsamen Beschulung - wie die Antragsgegnerin sie zur Begründung des angeordneten Sofortvollzuges anführt - kann deshalb nicht die Rede sein; sie stünde im Übrigen im Widerspruch zum tatsächlichen Verhalten der Antragsgegnerin, die es nicht für erforderlich gehalten hat, die Betroffenen nach Aufdeckung der Verfehlung von der weiteren Durchführung der Abschlussfahrt fern zu halten, sie also aus der Situation zu entfernen, in der der Drogenbesitz festgestellt wurde und der Konsum mutmaßlich erfolgt ist.
Der Antragsteller und die Übrigen involvierten Schüler haben insbesondere auch den Drogenkonsum und -erwerb offenbar nicht mit Mitschüler öffentlich vollzogen. Dies ergibt sich für die Kammer daraus, dass der vierte Mitschüler, der während der Abschlussfahrt mit den Beteiligten auf einem Zimmer gelegen hat, von dem Drogenerwerb, -besitz oder -konsum keine Kenntnis hatte. Anders als in einem wesentlich schwerer zu bewertenden Fall der Weitergabe illegaler Rauschmittel sind Dritte nicht involviert worden. Der Besitz der illegalen Drogen hat offenbar auch die Schulveranstaltung nicht in einem solchen Maße gestört, dass die Betroffenen von der weiteren Teilnahme an der Abschlussfahrt ausgeschlossen werden mussten. Dies wäre bei einer Unzumutbarkeit durch eine vorzeitige Rückführung denkbar gewesen.
Auch der Erlass des Niedersächsischen MK, MS, MI, MJ vom 26. Mai 1992 zur Suchtprävention und Verhalten bei Suchtproblemen an niedersächsischen Schulen, auf den die Antragsgegnerin ausdrücklich als für sie ermessenssteuernd verweist, enthält unter Ziffer 4 keinen Hinweis auf eine schulordnungsrechtliche Reaktion bei festgestelltem Suchtmittelmissbrauch von Schülerinnen und Schülern. Er hebt allerdings hervor, dass bei allen Entscheidungen zunächst pädagogische Maßnahmen der Lehrkräfte im Vordergrund stehen sollten.
Aus alledem folgt nach Auffassung der Kammer, dass eine Überweisung an eine andere Realschule im konkreten Fall der festgestellten Verfehlungen nicht in verhältnismäßiger Weise gerecht wird.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Streitwertbeschluss:
Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Der Streitwertfestsetzung liegen §§ 53 Abs. 3 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG zu Grunde. Dabei reduziert die Kammer in ständiger Rechtsprechung den Streitwert nicht, weil effektiver Rechtsschutz in vergleichbaren Fällen nur über das Eilverfahren zu erlangen ist und diesem regelmäßig die Bedeutung einer abschließenden Entscheidung zukommt.
Flesner
Müller