Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 11.03.2009, Az.: 7 B 868/09
Geltendmachung eines Anspruchs eines 20-jährigen libanesischen Schülers der 11. Klasse der Fachoberschule auf Aussetzung seiner Abschiebung im Wege des einstweiligen Rechtschutzes
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 11.03.2009
- Aktenzeichen
- 7 B 868/09
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2009, 13237
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGHANNO:2009:0311.7B868.09.0A
Rechtsgrundlagen
- § 123 VwGO
- § 5 Abs. 3 AufenthG
- § 23 Abs. 1 S. 1 AufenthG
- § 104a Abs. 2 S. 1 AufenthG
Verfahrensgegenstand
Aussetzung der Abschiebung
- Antrag nach § 123 VwGO -
Redaktioneller Leitsatz
Die Dauer des Aufenthalts, die Sprachkenntnisse des Ausländers und sein Schulabschluss sind gewichtige Punkte, die im Rahmen der nach § 104a Abs. 2 S. 1 AufenthG durchzuführenden Integrationsprognose von der Ausländerbehörde in jedem Fall zu berücksichtigen sind. Daneben sind aber auch die Erteilungsvoraussetzungen des § 104a Abs. 1 S. 1 Nr. 4 bis 6 AufenthG von entscheidungserheblicher Bedeutung.
In der Verwaltungsrechtssache
...
hat das Verwaltungsgericht Hannover - 7. Kammer -
am 11. März 2009
beschlossen:
Tenor:
Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung untersagt, den Antragsteller vor Ablauf eines Monats nach Bescheidung seines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104a AufenthG vom 24.02.2009 abzuschieben; insoweit wird dem Antragsteller auf seinen Antrag Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt Plitt, Peine, beigeordnet.
Im Übrigen werden der weitergehende Sachantrag und der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens tragen der Antragsteller und die Antragsgegnerin je zu 1/2.
Der Streitwert wird auf 2.500 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Der eigenen Angaben nach 1989 in B. /Libanon geborene Antragsteller ist libanesischer Staatsangehöriger. Er reiste 1999 zusammen mit seiner Mutter und seinen Geschwistern zu seinem bereits 1996 eingereisten Vater in das Bundesgebiet ein.
Die Eltern gaben sich und ihre Kinder zunächst unter falschem Namen als staatenlose Beduinen aus dem Libanon aus und betrieben erfolglos ein Asylverfahren; ihre Klage wies das Verwaltungsgericht Braunschweig mit Urteil vom 17.05.2000 - 1 A 197/99 - ab. Ihr Aufenthalt wird seitdem geduldet. Seit 2006 ist die Antragsgegnerin im Besitz von Registerauszügen für die Familie des Antragstellers, die die libanesische Staatsangehörigkeit belegen.
Der jetzt 20-jährige Antragsteller besuchte zunächst die Grundschule und anschließend den Realschulzweig der kooperativen Gesamtschule in C.. Er ist jetzt Schüler der 11. Klasse der Fachoberschule D., Schwerpunkt E. an der F. in Hannover. In der zur Gerichtsakte gereichten Schulbescheinigung vom 04.03.2009 heißt es u.a.:
"... Seine Leistungen entsprechen den Anforderungen der Fachoberschule, so dass wir davon ausgehen, dass er den Schulabschluss erreichen wird.
Die Leistungen im Arbeits- und Sozialverhalten liegen über dem normalen Fachoberschulniveau.
Herr A. nimmt regelmäßig am Unterricht teil, erscheint pünktlich zum Unterricht und ist ein sehr angenehmer Schüler.
Wir freuen uns, wenn Herr A. die Fachhochschulreife an unserer Schule erwerben könnte."
An 3 Tagen in der Woche absolviert der Antragsteller das erforderliche schulbegleitende Praktikum bei einer Versicherung in Hannover, das im Juli 2009 endet; hieran schließt sich der Schulbesuch der 12. Klasse an der F. an, wo der Antragsteller seine Fachhochschulreife erwerben könnte.
Die Antragsgegnerin ist seit Februar 2009 im Besitz von Passersatzpapieren (Laissez Passer) für den Antragsteller und betreibt seine Abschiebung; für die übrigen Familienmitglieder liegen keine Ausreisedokumente vor. Der Versuch, den Antragsteller am 24.02.2009 abzuschieben, scheiterte, weil er an diesem Tag nicht in der elterlichen Wohnung angetroffen wurde. Am selben Tag stellte der Antragsteller einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104 a AufenthG, über den noch nicht entschieden ist.
In seinem ebenfalls am 24.02.2009 beim Verwaltungsgericht Hannover eingegangenen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebung macht der Antragsteller geltend, die Abschiebung sei angesichts des laufenden Schulbesuchs unverhältnismäßig; zudem lebe er seit 10 Jahren in Deutschland und sei als faktischer Inländer zu betrachten.
Der Antragsteller beantragt,
die Abschiebung bis zum Abschluss seiner schulischen Laufbahn an der F. in Hannover auszusetzen und ihm Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Plitt, Peine, zu bewilligen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Sie erwidert mit einem am 09.03.2009 eingegangenen Schriftsatz, dass der Antragsteller den Schulabschluss voraussichtlich erst im Sommer 2010 erreichen werde. Eine Aufenthaltserlaubnis könne nach § 104 a Abs. 2 AufenthG nur erteilt werden, wenn gewährleistet erscheine, dass der Antragsteller sich auf Grund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen könne. Voraussetzung hierfür sei u.a., dass der Ausländer sich rechtstreu verhalten habe.
Hieran bestünden jedoch Zweifel, weil der Antragsteller in einem vorangegangenen Antragsverfahren auf Erteilung eines Staatenlosenausweises Bescheinigungen der libanesischen Botschaft in Berlin vom 30.04.2007 und - gleichlautend - 08.06.2007 vorgelegt habe, wonach er weder die libanesische Staatsangehörigkeit besitze noch im Libanon registriert sei und kein entsprechender Nationalpass oder ein anderes Identitätsdokument ausgestellt werden könne. Diese Bescheinigungen habe die ZAAB in Oldenburg auf Echtheit geprüft und sei nach Rücksprache mit der libanesischen Botschaft zu dem Ergebnis gelangt, dass beide gefälscht seien.
Wegen der übrigen Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser Gerichtsakte und der Gerichtsakte 7 A 5336/06 sowie der Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin, die dem Gericht zur Einsicht vorgelegen haben, Bezug genommen.
II.
1.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO ist zulässig, nachdem der Antragsteller mit Schriftsatz vom 09.03.2009 erklärt hat, dass er sich wieder zu Hause aufhalte; der Antrag hat aber nur zum Teil Erfolg.
a)
Bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur gebotenen summarischen Prüfung ist die Aussetzung der Abschiebung geboten, um die Vereitelung eines Rechts des Antragstellers zu verhindern. Zur Abwendung wesentlicher Nachteile ist die Antragsgegnerin zu verpflichten, seinen Aufenthalt einstweilen zu dulden, um eine Entscheidung über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu ermöglichen.
Nach dem derzeitigen Erkenntnisstand gehört der Antragsteller zu dem von § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG begünstigten Personenkreis, weil er die zeitlichen Voraussetzungen der Altfallregelung erfüllt; hiervon geht auch die Antragsgegnerin aus. Danach kann dem mittlerweile volljährigen Antragsteller eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erteilt werden, wenn gewährleistet erscheint, dass er sich auf Grund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann. § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG verlangt eine "positive Integrationsprognose" (Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16/5065, S. 201). Nach dem Wortlaut des Gesetzes muss gewährleistet "erscheinen", dass sich der Ausländer "aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann". Ob damit ein Prognosemaßstab aufgestellt werden soll, der gegenüber der Regelung in § 104 Abs. 4 Satz 1 AufenthG, ("eine Integration zu erwarten ist") abgesenkt ist, bedarf hier keiner abschließenden Klärung. In jedem Fall sind die Dauer des Aufenthalts, die Sprachkenntnisse des Ausländers und sein Schulabschluss gewichtige Punkte, die im Rahmen der Integrationsprognose von der Ausländerbehörde zu berücksichtigen sind. Daneben sind die Erteilungsvoraussetzungen des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 bis 6 AufenthG von entscheidungserheblicher Bedeutung, insbesondere ob der Ausländer sich rechtstreu verhalten hat.
Unstreitig hält der Antragsteller sich seit 10 Jahren in Deutschland auf, beherrscht die deutsche Sprache und hat einen Realschulabschluss erworben. Ein solcher Abschluss ist nicht selbstverständlich angesichts der Tatsache, dass im Jahre 2005 fast 60% der ausländischen Jugendlichen das allgemeinbildende Schulsystem ohne oder nur mit dem Hauptschulabschluss verließen (vgl. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, 2007, S. 43 [www.bundesregierung.de]).
Diese Umstände wird die Antragsgegnerin in ihre Ermessensentscheidung ebenso einfließen lassen müssen wie den Umstand, dass der Antragsteller sowohl im Verwaltungsals auch im gerichtlichen Verfahren 7 A 5336/06 Bescheinigungen der libanesischen Botschaft vorgelegt hat, deren Echtheit mindestens in Frage steht. Andererseits wird die Antragsgegnerin auch zu berücksichtigen haben, dass das von ihr eingeleitete Ermittlungsverfahren wegen mittelbarer Falschbeurkundung - § 271 StGB - und unrichtiger Angaben zwecks Beschaffung eines Aufenthaltstitels - § 92 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG - von der Staatsanwaltschaft Hildesheim wegen Geringfügigkeit eingestellt worden ist.
Da nach § 5 Abs. 3 AufenthG bei der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 Satz 1 AufenthG von der Erfüllung der Passpflicht abgesehen werden kann, ist hier eine Ermessensentscheidung der Antragsgegnerin erforderlich, deren Ergebnis gegenwärtig nicht vorweggenommen werden kann. Bei dieser Sachlage gebietet die Abwägung der widerstreitenden Interessen sowie der bedrohten Rechtsgüter, vorliegend der Ausländerbehörde zu untersagen, den Antragsteller vor Ablauf eines Monats nach Bescheidung seines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104a AufenthG vom 24.02.2009 abzuschieben.
b)
Der darüber hinaus gehende Antrag, die Abschiebung des Antragstellers bis zum Abschluss seiner schulischen Laufbahn an der F. in Hannover auszusetzen, wird abgelehnt.
Erforderlich ist lediglich die unter 1.) getroffene Regelung. Sollte die Antragsgegnerin den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104a AufenthG ablehnen, steht es dem Antragsteller frei, das Gericht erneut anzurufen und um vorläufigen Rechtsschutz nachzusuchen.
2.
Die Streitwertfestsetzung findet ihre Rechtsgrundlage in den §§ 53 Abs. 3 Nr. 2, 52 G KG, wobei 1/2 des Auffangwerts anzusetzen ist.
3.
Prozesskostenhilfe war gemäß § 166 VwGO in Verbindung mit §§ 114, 121 ZPO aus den vorstehenden Gründen zu 1b) wegen fehlender hinreichender Erfolgsaussicht des Antrags nach § 123 VwGO abzulehnen, im Übrigen aber zu bewilligen.
Schulz-Wenzel
Gonschior