Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 21.02.2024, Az.: L 3/6 U 55/23
Nachweis beruflicher Einwirkungen im Vollbeweis für die Anerkennung einer Berufskrankheit
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 21.02.2024
- Aktenzeichen
- L 3/6 U 55/23
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2024, 13049
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2024:0221.3U55.23.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Osnabrück - 16.02.2023 - AZ: S 19 U 37/19
Rechtsgrundlage
- § 9 Abs. 1 SGB VII
Amtlicher Leitsatz
Die Falkensteiner Empfehlung ist eine medizinisch-wissenschaftliche Begutachtungsempfehlung und kann die durch Gesetz und Rechtsprechung vorgegebenen Beweisanforderungen zu den Tatbestandsmerkmalen einer Berufskrankheit - hier: Nachweis beruflicher Einwirkungen im Vollbeweis - nicht verändern.
In dem Rechtsstreit
B.
- Klägerin und Berufungsklägerin -
Prozessbevollmächtigte:
C.
gegen
D.
- Beklagte und Berufungsbeklagte -
beigeladen:
E.
hat der 3. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen auf die mündliche Verhandlung vom 21. Februar 2024 in Celle durch den Richter F. - Vorsitzender -, den Richter G. und die Richterin Dr. H. sowie die ehrenamtliche Richterin I. und den ehrenamtlichen Richter J. für Recht erkannt:
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 16. Februar 2023 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) nach Nr 4105 (durch Asbest verursachtes Mesotheliom des Rippenfells, des Bauchfells oder des Perikards) der Anl 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV).
Die 1943 geborene Klägerin ist gelernte Näherin. In diesem Beruf arbeitete sie mit Unterbrechungen ca 28 Jahre bei der Firma K. International, L. (im Folgenden: K.; vom 2. Mai 1960 bis 27. April 1962, 1. November 1964 bis 6. März 1967 und vom 1. August 1969 bis 4. Dezember 1992). Nach ihren Angaben war sie dort ausschließlich für die Herstellung von Herrenkonfektion tätig. Vom 2. Mai 1962 bis 11. Mai 1962 arbeitete die Klägerin als Näherin bei der Firma M., N.. Dort war sie ausschließlich für die Herstellung von Damenkleidern zuständig. Vom 15. Mai 1962 bis 10. April 1963 arbeitete die Klägerin ebenfalls als Näherin bei einem Betrieb der O. AG, N., der Mitgliedsbetrieb der Beigeladenen ist und dem die P. GmbH & Co KG, Q., nachfolgte. Vom 12. März 1991 bis 4. Dezember 1992 arbeitete die Klägerin bei der Firma R., S., wo sie für das Sortieren von Kartoffeln eingesetzt war. Zudem war sie selbstständig tätig im Hotel-/Gaststättengewerbe. Seit Juli 2008 ist die Klägerin Altersrentnerin.
Unter dem 16. Februar 2018 zeigte Dr. T., U. V., den Verdacht auf eine BK Nr 4105 bei der Beklagten an wegen des Nachweises eines malignen epitheloiden initialen Pleuramesothelioms mit langsträngig papillärem Mesothelioma in situ bei der Klägerin (ICD-10: C45.09; Bericht vom 8. Februar 2018; beigefügt waren Berichte von Prof. Dr. W. vom 9. Februar 2018 und von Dr. X. vom 13. Februar 2018). Erste Symptome bestanden seit April 2016. Dr. T. gab als Ursache Asbestkontakt als Näherin an. Die Klägerin beantragte unter dem 8. März 2018 - Eingang bei der Beklagten am 13. März 2018 - die Gewährung einer Verletztenrente aufgrund einer BK. Als Näherin habe sie durch Nähmaschinen und Stoffe an ihrem Arbeitsplatz, aber auch an benachbarten Arbeitsplätzen Kontakt zu Asbest gehabt. Andere Asbestkontakte habe es nicht gegeben. Sie benannte eine bereits verstorbene Vorgesetzte als Ansprechpartnerin.
Der Präventionsdienst der Beklagten und der Beigeladenen verneinte eine beruflich bedingte Einwirkung durch Asbest während der Tätigkeit bei den Firmen K., M. und O. (Stellungnahmen Arbeitsplatzexposition vom 27. April 2018, 25. Juni 2018, 13. September 2018). Telefonisch gab die Klägerin am 6. Juni 2018 und 14. August 2018 an, dass sie einen eventuellen Asbestkontakt während ihrer Beschäftigung bei der O. AG vermute. Sie habe oftmals durch das gesamte Werk laufen müssen. Sie erinnere sich an sehr viel Staub. Während ihrer Beschäftigung habe sie für sämtliche Abteilungen genäht, für die Feuerwehr vermutlich auch. Sie habe meistens bereits gewaschene Wäsche verarbeitet. Es seien Nummern und Namen aus den Kleidungen entfernt oder neu eingenäht worden. Weiter gab die Klägerin an, dass sie nicht wisse, mit welchen Stoffen sie gearbeitet habe. Die Stoffe seien meistens gereinigt und total neu gewesen. Sie verstehe nicht, warum in den Stoffen kein Asbest gewesen sei. Als ihre Ärzte hörten, dass sie als Näherin gearbeitet habe, hätten alle Alarmglocken geläutet.
Hinsichtlich der Beschäftigung bei der O. AG lagen der P. GmbH keine Informationen über Beschäftigungszeiten, Tätigkeiten oder einen möglichen Asbestkontakt der Klägerin vor (Schreiben vom 19. Juni 2019). Der Präventionsdienst verblieb bei seiner bisherigen Stellungnahme (E-Mail Herr Y. vom 8. August 2018).
Mit Bescheid vom 23. Oktober 2018 lehnte die Beklagte eine BK nach Nr 4105 ab; Ansprüche auf Leistungen bestünden nicht. Während der Berufstätigkeit bei K., der O. AG und der Firma R. sei die Klägerin keinen Einwirkungen ausgesetzt gewesen, die geeignet gewesen seien, eine BK zu verursachen. Den dagegen eingelegten, nicht begründeten Widerspruch wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 29. Januar 2019 - Zugang am 30. Januar 2019 - unter Verweis darauf zurück, dass sich ein Kontakt mit Asbestfeinstäuben während der Beschäftigungen der Klägerin nicht habe nachweisen lassen.
Am 18. Februar 2019 hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht (SG) Osnabrück erhoben und die Aufhebung der Bescheide sowie die Feststellung einer BK Nr 4105 beantragt.
Hinsichtlich der Frage, ob das bei der Klägerin unstreitig vorliegende Pleuramesotheliom durch Asbest verursacht wurde, hat die Beklagte auf Hinweis des SG eine leitliniengerechte native, BMI-adaptierte Niedrig-Dosis-HR-CT des Thorax durch den Radiologen Dr. von Z. veranlasst (Bericht vom 14. Mai 2021). Zudem hat das SG den Sachverhalt sachverständig durch Einholung eines fachradiologischen Gutachtens bei PD Dr. AA. aufgeklärt (Gutachten vom 3. Januar 2022).
Anlässlich der zwischen den Beteiligten im Streit stehenden beruflichen Asbeststaubexposition der Klägerin während ihrer Beschäftigungen bei K. und der O. AG hat das SG unter dem 2. Mai 2022 zur Aufklärung des Sachverhalts das Institut für Arbeitsschutz (IFA) der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) zu dort vorliegenden Erkenntnissen befragt (Stellungnahme Dr. AB. vom 17. August 2022). Daraufhin hat die Klägerin vorgetragen, dass sie bei der Firma K. häufig als Springerin genähte Textilien zur Bügelei gebracht habe. Sie gehe davon aus, dass sie dort in Kontakt mit asbesthaltigen Bügeleisen gekommen sei. Im Übrigen hat die Klägerin unter Berufung auf eine Stellungnahme Dr. AC. vom 16. Juli 2019 vorgetragen, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen ihrer langjährigen Tätigkeit in der Textilindustrie und dem Pleuramesotheliom anzunehmen sei. Im O. -Werk sei sie gegenüber Asbest exponiert gewesen, denn sie habe dort die gesamte Arbeitsbekleidung der Beschäftigten bearbeitet. Diese Kleidung sei nur oberflächlich gereinigt und auch nicht immer gewaschen gewesen. Es sei davon auszugehen, dass unter den von ihr bearbeiteten Nummern und Namensschildern Asbestfasern vorhanden gewesen seien. Die Beklagte ist dem unter Hinweis darauf entgegengetreten, dass ein beruflich bedingter Asbestkontakt auch nach der Stellungnahme Dr. AD. nicht im Vollbeweis gesichert sei.
Das SG hat die Klage im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil vom 16. Februar 2023 - den Beteiligten am 1. März 2023 zugestellt - abgewiesen. Im Vollbeweis habe sich unter Berücksichtigung der Stellungnahmen der Präventionsdienste sowie Dr. AD. nicht feststellen lassen, dass während der beruflichen Tätigkeit der Klägerin eine Asbestbelastung bestanden habe. Ein solcher Kontakt sei lediglich möglich, stehe aber nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest. Dass die Klägerin gegenüber Asbeststaub exponiert gewesen sei, lasse sich nicht röntgenologisch sichern, denn es fehlten nach dem Gutachten von PD Dr. AE. in Übereinstimmung mit dem Radiologen Dr. von Z. hyaline oder verkalkte Pleuraplaquebildungen beidseits. Es liege auch kein pathologisch-anatomischer Nachweis vor, dass neben dem Mesotheliom ein wesentlich erhöhter Anteil nadelförmiger Partikel im Lungenstaub gesichert sei, weil für eine Lungenstaubanalyse kein Gewebematerial zur Verfügung gestanden habe und dieses auch nicht ohne klinische Indikation nur für den Nachweis einer BK habe entnommen werden dürfen. Schließlich spreche gegen einen beruflichen Kausalzusammenhang, dass die Erkrankung erst 2018 nach einer Latenzzeit von 53 Jahren diagnostiziert worden sei, wobei die mittlere Latenzzeit bei 38 Jahren liege.
Am 28. März 2023 hat die Klägerin bei dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen gegen die Entscheidung des SG Berufung eingelegt. Sie beruft sich darauf, dass das SG die Anforderungen an den Nachweis einer beruflichen Asbestexposition überspannt habe. Es sei unstreitig, dass die Klägerin Näharbeiten an Arbeitskleidung von Technikern/Schlossern ausgeführt habe, die zuvor Kontakt zu Asbestmaterialien gehabt haben. Unbestritten sei, dass die Klägerin an teilweise ungewaschener Arbeitsbekleidung Näharbeiten durchgeführt habe. Andere Ursachen für das Pleuramesotheliom lägen nicht vor. Zudem sei der medizinische Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt, eine anstelle der Lungenstaubanalyse mögliche bronchoalveoläre Lavage zur Feststellung von Anteilen nadelförmiger Asbestpartikel im Lungenstaub habe das SG nicht veranlasst. Die Klägerin sei nach ihrem Ableben mit einer Obduktion einverstanden. Eine erhöhte Konzentration von Asbestkörpern oder -fasern im Lungengewebe könne so den Nachweis einer beruflichen Asbesteinwirkung erbringen, wenn anderweitig kein Nachweis möglich sei. Nicht für jedes Mesotheliom müsse für die Anerkennung einer BK eine arbeitsbedingte Asbestbelastung im Vollbeweis nachgewiesen sein. Ziffer 8.4.3 Abs 2 der "Falkensteiner Empfehlungen" lasse Ausnahmen vom Vorliegen eines Vollbeweises zu. Zudem könne die Herkunft der mittels Obduktion und Lungenstaubanalyse möglicherweise festgestellten Asbestfasern durch rasterelektronenmikroskopische Untersuchung in Verbindung mit einer energiedispersiven Röntgenmikroanalyse qualitativ darauf untersucht werden, ob es sich um industriell verwendete Asbestfasern handele. Dementsprechend seien nach ihrem Tod weitere Sachermittlungen zum pathologisch-anatomischen bzw lungenstaubanalytischen Beweis erhöhter Konzentrationen von Asbestkörpern im Lungengewebe und/oder charakteristischer Lungen- oder Pleuraveränderungen und zur Verursachung des Todes durch ein asbestassoziiertes Pleuramesotheliom durchzuführen (Schriftsatz vom 19. Februar 2024).
Die Klägerin beantragt,
- 1.
das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 16. Februar 2023 und den Bescheid der Beklagten vom 23. Oktober 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. Januar 2019 aufzuheben,
- 2.
festzustellen, dass bei ihr eine Berufskrankheit nach Nr 4105 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung besteht,
- 3.
hilfsweise, weitere Ermittlungen anzustellen nach dem Beweisantrag im Schriftsatz vom 19. Februar 2024.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie wiederholt und vertieft ihr bisheriges Vorbingen.
Die Beigeladene (LSG, Beschluss vom 29. Juni 2023) beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie beruft sich unter Verweis auf eine weitere Stellungnahme ihres Präventionsdienstes vom 18. Oktober 2023 auf den fehlenden Nachweis einer Asbestexposition im gesamten Erwerbsleben der Klägerin.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Osnabrück vom 16. Februar 2023 hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig, aber unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.
A. Gegenstand des Verfahrens (§ 95 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) ist der Bescheid der Beklagten vom 23. Oktober 2018 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 29. Januar 2019, mit denen die Beklagte es abgelehnt hat, das bei der Klägerin diagnostizierte Pleuramesotheliom als BK Nr 4105 der Anl 1 zur BKV anzuerkennen. Die Beklagte hat zwar auch nach Ziffer 2 des Bescheids erklärt, dass Ansprüche auf Leistungen nicht bestünden und dass dies auch für Leistungen oder Maßnahmen gelte, die geeignet seien, dem Entstehen einer BK entgegenzuwirken. Nach Maßgabe des für die Auslegung von Willenserklärungen zu beachtenden Empfängerhorizonts eines verständigen Beteiligten (§§ 133, 157 Bürgerliches Gesetzbuch <BGB>) hat die Beklagte in den angegriffenen Bescheiden aber keine Entscheidung über die Ablehnung einer konkreten Leistung getroffen. Dem steht nicht entgegen, dass die Klägerin unter dem 8. März 2018 eine Verletztenrente wegen einer BK beantragt hat. Denn konkrete Leistungsansprüche hat die Beklagte weder erwogen noch geprüft. Im Übrigen durfte die Beklagte bis zum Eintritt einer bestandskräftigen Entscheidung über das Vorliegen eines Versicherungsfalls - hier der BK Nr 4105 - nicht über Leistungsansprüche endgültig entscheiden, die von dieser materiell-rechtlichen Vorfrage abhängen. Aus diesem Grund durfte sie auch nicht die entsprechenden Verwaltungsverfahren durch Verwaltungsakt beenden. Deshalb ist es auch ausreichend, dass sich die Klägerin mit ihrer Klage nur gegen die Ablehnung der BK wendet, um deren Anerkennung zu erreichen und um darauf aufbauend später uneingeschränkt Leistungen beanspruchen zu können (vgl Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 16. März 2021 - B 2 U 17/19 R, SozR 4-1500 § 55 Nr 28, juris, Rn 23, 27 f).
B. Die auf Anerkennung der BK Nr 4105 gerichtete Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (§ 54 Abs 1 S 1, §§ 55 Abs 1 Nr 1, 56 SGG) zulässig (vgl BSG, Urteil vom 16. März 2021 - B 2 U 11/19 R, SozR 4-2700 § 9 Nr 30, juris Rn 9), aber unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 23. Oktober 2018 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 29. Januar 2019 ist rechtmäßig. Eine BK nach der Nr 4105 der Anl 1 zur BKV kann nicht festgestellt werden.
I. Rechtsgrundlage für die Anerkennung der BK ist § 9 Abs 1 S 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch(SGB VII, idF des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes <UVEG> vom 7. August 1996, BGBl I 1254, mWv 1. Januar 1997). BKen sind danach Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats als BKen bezeichnet (sog Listen-BKen) und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Insoweit ist die Bundesregierung ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als BKen zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind (§ 9 Abs 1 S 2 SGB VII).
Aus diesen Vorgaben lassen sich bei einer Listen-BK im Regelfall folgende Tatbestandsmerkmale ableiten, die ggf bei einzelnen BKen einer Modifikation bedürfen: Die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) muss zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt (Einwirkungskausalität) haben und die Einwirkungen müssen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Dabei müssen die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" iSd Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegen. Dies hat das BSG auch ausdrücklich für die BK Nr 4105 gefordert (vgl BSG, Urteil vom 16. März 2021 - B 2 U 17/19 R, aaO, juris, Rn 43). Für den Beweisgrad des Vollbeweises ist zwar keine absolute Gewissheit erforderlich; verbliebene Restzweifel sind jedoch nur solange unschädlich, wie sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (vgl BSG, Urteil vom 24. November 2010 - B 11 AL 35/09 R, juris, Rn 21).
Für den Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkung und Erkrankung gilt im BKen-Recht wie auch sonst in der gesetzlichen Unfallversicherung die Theorie der wesentlichen Bedingung. Der Ursachenzusammenhang muss hinreichend wahrscheinlich sein, das heißt es muss mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang sprechen und ernste Zweifel müssen ausscheiden. Die bloße Möglichkeit genügt nicht (vgl BSG, Urteil vom 16. März 2021 - B 2 U 11/19 R, aaO, juris, Rn 26; Urteil vom 27. Juni 2017 - B 2 U 17/15 R, SozR 4-2700 § 9 Nr 28, juris, Rn 13). Die Frage, welche Voraussetzungen zur Annahme eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung einer BK vorliegen müssen, ist unter Zuhilfenahme medizinischer, naturwissenschaftlicher und technischer Sachkunde nach dem im Entscheidungszeitpunkt aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu beantworten. Dazu können einschlägige Publikationen, beispielsweise die Merkblätter des zuständigen Bundesministeriums und die wissenschaftliche Begründung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats - Sektion Berufskrankheiten - zu der betreffenden BK oder Konsensusempfehlungen der mit der Fragestellung befassten Fachmediziner, uU auch die Begründung des Verordnungsgebers zur Einführung der BK, herangezogen werden, sofern sie zeitnah erstellt oder aktualisiert worden sind und sich auf dem neuesten Stand befinden (vgl BSG, Urteil vom 27. Juni 2006 - B 2 U 5/05 R, BSGE 96, 297 = SozR 4-5671 § 6 Nr 2, juris, Rn 16 f).
II. Nach diesen Maßgaben ist bei der Klägerin eine BK nach Nr 4105 nicht feststellbar.
1. Während ihrer Beschäftigungen als Näherin bei den Firmen K. und M. sowie der O. AG und bei der Firma R. im Zeitraum von Anfang Mai 1962 bis Anfang Dezember 1992 war die Klägerin zwar als Beschäftigte gemäß § 539 Abs 1 Nr 1 Reichsversicherungsordnung(RVO idF von Art 1, Art 4 § 16 Abs 1 Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz <UVNG> vom 30. April 1963 mWv 1. Juli 1963, BGBl I 241; davor § 537 Nr 1 RVO, vgl Lauterbach, UV, 3. Aufl, 4 Lfg April 1964, 22/7) in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert.
2. Im Vollbeweis steht auch fest, dass die Klägerin an einem Mesotheliom der Pleura erkrankt ist, das von der BK Nr 4105 vorausgesetzt wird (vgl BSG, Urteil vom 16. März 2021 - B 2 U 17/19 R, aaO, Rn 43; Merkblatt zur BK-Nr 4105, BArbBl 1/1994, S 67; DGUV, Empfehlungen für die Begutachtung asbestbedingter Berufskrankheiten - Falkensteiner Empfehlung, 5/2011, S 51 ff). Dies ergibt sich aus dem der BK-Anzeige Dr. AC. vom 16. Februar 2018 beigefügten Bericht der Pathologin Prof. Dr. W. vom 9. Februar 2018, die ein malignes epitheloides initiales Pleuramesotheliom mit langsträngig papillären Mesothelioma in situ (ICD-10: C45.09) bei der Klägerin diagnostiziert hat. Zwischen den Beteiligten steht dies auch nicht im Streit.
3. Es lässt sich aber nicht mit der dafür notwendigen an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit zur Überzeugung des Senats (§ 128 Abs 1 SGG) feststellen, dass die Klägerin bei einer ihrer versicherten Tätigkeiten als Näherin der Einwirkung von Asbest ausgesetzt war. Hinsichtlich ihrer Beschäftigung bei der Firma R. behauptet dies die Klägerin schon nicht und es liegen auch insoweit keine weiteren Angaben oder Anhaltspunkte zu einer Asbesteinwirkung beim Sortieren von Kartoffeln vor.
a) In Bezug auf die Beschäftigung der Klägerin bei der Firma K. ergibt sich zur Überzeugung des Senats keine im Vollbeweis gesicherte Asbesteinwirkung. Der Senat stützt sich dabei auf die Stellungnahme der Präventionsabteilung der Beklagten vom 27. April 2018 sowie auf die Stellungnahme Dr. AD., AF., vom 17. August 2022. Diese legen plausibel dar, dass ein Asbestkontakt lediglich möglich ist. Daraus folgt aber nicht, dass ein Asbestkontakt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellbar ist.
aa) Der Präventionsdienst hat bei der Aufklärung der Arbeitsplatzexposition berücksichtigt, dass die Klägerin als Näherin zusammen mit ca 300 bis 400 weiteren Näherinnen in einem Nähsaal gearbeitet hat, in dem auch der Zuschnitt und die Bügelei untergebracht waren. Nach den Angaben der Klägerin hat sie dort keine Berufs- oder Hitzeschutzkleidung, sondern ausschließlich Herrenanzüge und teilweise Herrenhosen bearbeitet. Dazu hat die Klägerin Stoffe aus Baumwolle, Wolle, Synthetik sowie deren Mischungen verwendet. Nach den Feststellungen des Präventionsdienstes ergeben sich daraus keine Anhaltspunkte darauf, dass die Klägerin mit asbesthaltigen Textilien gearbeitet hat (zu asbesthaltigen Textilien vgl die konsensbasierte S2k-Leitlinie "Diagnostik und Begutachtung asbestbedingter Berufskrankheiten" der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften <AWMF>, 11. November 2020, Registernr 002-038, S 51). Der Präventionsdienst weist in seiner Stellungnahme zutreffend darauf hin, dass solche Textilien etwa bei der Herstellung von Hitzeschutzkleidung für Stahlkocher oder für die Feuerwehr verarbeitet wurden (vgl dazu auch BK-Report 1/2013 Faserjahre, herausgegeben von der DGUV eV, April 2013, S 96), denn Asbesttextilien sowie -fäden sind thermisch beständig, besonders flexibel, reißfest und stabil (vgl Dr. AB., AF., Stellungnahme vom 17. August 2022, S 2). Bei normaler Kleidung - wie bei der Herstellung von Herrenanzügen und -hosen - oder Berufskleidung kamen sie nicht zum Einsatz. Denn wie Dr. AB. nachvollziehbar darlegt, können Asbesttextilien nicht durch Waschen gereinigt werden, weil der Waschvorgang zu einem völligen Verfilzen des Asbestgewebes und zu einem Funktionsverlust der Nähte führt (Dr. AB., aaO). Im Übrigen kann die Klägerin zu den von ihr konkret verarbeiteten Textilien keine weiteren Angaben machen. Dass diese Asbest enthalten haben, lässt sich unter Berücksichtigung ihrer Angaben, den Feststellungen des Präventionsdienstes und nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand (vgl BK-Report 1/2013, ebd) deshalb nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zur Überzeugung des Senats feststellen.
Der Präventionsdienst hat auch die weitere Vermutung der Klägerin, dass die eingesetzten Nähnadeln und die Nähmaschinen neben den verarbeiteten Stoffen asbesthaltig gewesen sein könnten, plausibel widerlegt. Denn die Nähnadeln selbst bestehen aus Stahl und enthalten herstellungsbedingt kein Asbest. Dies gilt auch für die Nähmaschinenoberflächen, die aus blanken oder lackierten Metallen bestehen. Weitergehende Anhaltspunkte dazu ergeben sich auch nicht aus den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen der AWMF-Leitlinie und des BK/Reports 1/2013 "Faserjahre" (jeweils aaO) sowie aus der Stellungnahme Dr. AD.. Ein Asbestkontakt konnte sich hier - auch zur Überzeugung des Senats - durch das Berühren dieser Oberflächen nicht ergeben.
bb) Der Senat ist nach Maßgabe der auch insoweit schlüssigen und überzeugenden Darlegungen des Präventionsdienstes nicht davon überzeugt, dass die Klägerin aufgrund der von ihr beschriebenen Stäube in Kontakt zu Asbest gekommen ist. Unzweifelhaft war die Klägerin bei ihrer Arbeit zwar Textil- und Faserstäuben ausgesetzt. Insoweit hat der Präventionsdienst in seiner Stellungnahme vom 27. April 2018 berücksichtigt, dass beim Nadelstich durch mechanischen Abrieb Textilstäube der verarbeiteten Materialien entstehen. Konkrete Anhaltspunkte auf asbesthaltige Materialien haben sich aber gerade - wie vorangestellt - nicht ergeben.
cc) Es verbleiben für den Senat auch gewichtige Zweifel, soweit sich die Klägerin im Schriftsatz vom 7. Oktober 2022 - und damit erst im Nachgang zu Dr. AD. Stellungnahme - darauf beruft, dass sie als Springerin genähte Textilien zur Bügelei gebracht habe und davon ausgehe, dass sie dort - als Bystander - in Kontakt mit asbesthaltigen Bügeleisen gekommen sei. Zutreffend ist, dass Asbesttextilprodukte zur Abdeckung von Bügelbrettern bzw als Hitzeschutzunterlage eingesetzt wurden (vgl AWMF-Leitlinie, aaO, S 51; BK-Report 1/2013, aaO, S 50, 96). Ebenso wurde die Verwendung von Asbest für bestimmte Bügeleisen, Bügelanlagen bzw Mangeln in Form von Unterlegplatten bzw textilen Unterschichten beschrieben (vgl BK-Report 1/2013, aaO, S 145, 153). Darauf hat Dr. AB. (Stellungnahme vom 17. August 2022, S 3) erstmals im Verfahren hingewiesen. Ob dies auch auf die Bügelei bei der Firma K. zutrifft, konnte Dr. AB. jedoch nicht verifizieren. Er hält solche Expositionen lediglich für möglich (ebd, S 4). Auch der weitere Vortrag der Klägerin mit Schriftsatz vom 7. Oktober 2022 liefert diesbezüglich keine konkreten Anhaltspunkte. Sie behauptet nun abweichend zu ihrer bisher geschilderten Tätigkeit als Näherin einen regelmäßigen Kontakt zum Bereich Bügelei. Zudem gibt sie an, zusammen mit ca 500 Personen in der Halle ohne ein Lüftungssystem gearbeitet zu haben, wobei die Bügelmaschinen und Mangeln große Hitze und Feuchtigkeit verursacht hätten. Und sie unterstellt, dass bei der Firma K. asbesthaltige Bügeleisen zum Einsatz kamen. Ungeachtet dessen, dass auch hier konkrete Anhaltspunkte fehlen und die Klägerin ihren Vortrag inhaltlich an die Stellungnahme Dr. AD. angepasst hat, was für sich betrachtet an der Glaubhaftigkeit der Aussagen zweifeln lässt, hat die Beklagte bereits vor Dr. AD. Stellungnahme erklärt, dass hinsichtlich der Firma K. asbestbedingte Erkrankungen weder gemeldet noch entschädigt worden seien (Schriftsatz vom 6. September 2019). In der Gesamtschau lässt sich daher auch insoweit keine Einwirkung durch Asbest mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellen.
dd) Dies gilt zur Überzeugung des Senats auch, soweit sich die Klägerin darauf beruft, dass sie Nähte mit einer speziellen Schneiderkreide zunächst auf den zu nähenden Stoff aufgetragen hat. Der Präventionsdienst erklärt dazu in seiner Stellungnahme vom 13. September 2018 plausibel, dass die in dem hier streitigen Beschäftigungszeitraum auf dem Gebiet der damaligen BRD und ab 1990 auf dem Gebiet der alten Bundesländer eingesetzte Sublimierkreide nach den Angaben der Kreidehersteller frei von asbesthaltigem Talkum (vgl BK-Report 1/2013, S 122 f) wie Wachskreide oder Tonkreide, gewesen ist.
b) In Bezug auf die Beschäftigung bei der Firma M. ergeben sich keine Abweichungen. Dort hat die Klägerin ausschließlich Damenkleider genäht. Auch insoweit legen die Präventionsabteilung der Beklagten vom 27. April 2018 sowie Dr. AB., AF., vom 17. August 2022 plausibel und schlüssig dar, dass - wie bei der Verarbeitung von Herrenanzügen und -hosen - ein Asbestkontakt nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellbar ist. Denn auch insoweit haben sich keine Anhaltspunkte darauf ergeben, dass die Klägerin asbesthaltige Textilien verarbeitet hat oder durch die eingesetzten Nähnadeln und -maschinen sowie durch Textil- bzw Faserstäube Asbest ausgesetzt war (Dr. AB., ebd, S 2). Weitergehende Angaben zu ihrem Arbeitsumfeld bei der Firma M. hat die Klägerin schließlich nicht gemacht.
c) Auch während der Beschäftigung bei der O. -AG ist ein Asbestkontakt nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festzustellen. Die Klägerin hat hierzu mehrfach die Angaben zum Umfang ihrer beruflichen Tätigkeit angepasst.
Nach den ersten Angaben der Klägerin hat sie dort in Fußballtrikots kleine Etiketten eingenäht. Der Präventionsdienst der Beklagten hat daraus plausibel geschlossen, dass sich keine konkreten Anhaltspunkte auf einen Asbestkontakt ergeben (Stellungnahmen vom 27. April 2018).
In Kenntnis dieser Stellungnahme des Präventionsdienstes der Beklagten, die auch ihre Tätigkeit bei der Firma K. und Ausführungen zu asbesthaltigen Textilien in Hitzeschutzkleidung insbesondere bei der Feuerwehr zum Gegenstand hatte, hat sich die Klägerin telefonisch darauf berufen, dass sie bei der O. AG für verschiedene Abteilungen genäht habe, vermutlich auch für die Feuerwehr. Der Präventionsdienst hat insoweit aber plausibel festgestellt, dass die Klägerin von Näharbeiten mit Asbeststoffen und Asbesttextilien nicht berichtet hat. Auch für den Senat ergibt sich daraus, dass die Klägerin vermutlich für die Feuerwehr genäht habe, nicht im Vollbeweis, dass sie solche Näharbeiten unternommen und Einwirkungen von asbesthaltigen Textilien ausgesetzt war.
Soweit der Präventionsdienst der Beigeladenen in seiner Stellungnahme vom 25. Juni 2018 und wiederholend am 18. Oktober 2023 erklärt, dass im Werk N. im Zeitraum der Beschäftigung der Klägerin Asbest ua in Form von Dichtungen und Isolierungen eingesetzt wurde, Berufsgruppen wie Chemiekanten und Schlosser gegenüber Asbeststaub exponiert und Berufskleidung mit Asbest verunreinigt gewesen sei, ergeben sich daraus keine konkreten Anhaltspunkte auf asbestbezogene Einwirkungen auf die Klägerin. Für den Vortrag, dass sie Kleidung im ungewaschenen Zustand bearbeitet habe, liegt kein Nachweis vor. Zudem hat die Klägerin selbst angegeben, dass die von ihr bearbeitete Kleidung meist im gewaschenen Zustand angeliefert worden sei. Diese Kleidungsstücke können nach Überzeugung des Senats nicht durch Asbest belastet oder kontaminiert gewesen sein. Nach den nachvollziehbaren und schlüssigen Ausführungen Dr. AD. (Stellungnahme vom 17. August 2022, S 2) werden asbesthaltige Materialien gerade nicht gewaschen, damit sie ihre ursprüngliche Textur beibehalten. Dafür, dass solche gewaschene Wäsche noch mit Asbest verunreinigt gewesen ist, ergeben sich ebenso wenig konkrete Anhaltspunkte. Die von der Klägerin benannte Arbeitskollegin, die hier möglicherweise hätte Auskunft geben können, lebt nicht mehr. Auch die P. GmbH hat dazu keine Erkenntnisse. Dass die Klägerin mit Asbest verunreinigte Wäsche bearbeitet haben will, ist - worauf bereits Dr. AB. (ebd, S 3) hingewiesen hat - daher lediglich spekulativ und nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellbar.
Soweit die Klägerin wiederum in Kenntnis der Stellungnahme des Präventionsdienstes der Beklagten vom 27. April 2018 ergänzt hat, sie sei zu Fuß im Werk unterwegs und Staub ausgesetzt gewesen, hat Dr. AB. nachvollziehbar darauf hingewiesen, dass Asbestmaterialien typischerweise - wie bei den im Werk N. beschriebenen Dichtungen und Isolierungen - nicht offen zugänglich, sondern in Maschinen und Anlagen verbaut gewesen seien (ebd, S 3). Dass die Klägerin bei Wartungs- oder Reparaturarbeiten ähnlich den Beschäftigten bei Ausführung dieser Arbeiten asbesthaltigen Stäuben ausgesetzt gewesen wäre oder sich in Produktionsbereichen aufgehalten hat, während Arbeiten an asbesthaltigen Bauteilen und Anlagen erfolgten, bezeichnet Dr. AB. als eher unwahrscheinlich (ebd, S 3). Die Klägerin hat auch erst im Nachgang zu dieser Stellungnahme mit Schriftsatz vom 7. Oktober 2022 behauptet, auf ihren Botengängen in den Produktionshallen, in denen Arbeiten mit Asbest durchgeführt worden seien, mit Asbeststäuben in Kontakt gekommen sei. Das ist für den Senat nicht glaubhaft. Denn die Klägerin passt ihren Vortrag zum wiederholten Mal an, ohne ihrerseits konkretisierende Angaben für einen Asbestkontakt zu machen. Auch vor diesem Hintergrund ist es für den Senat plausibel, dass weder Dr. AB. noch der Präventionsdienst der Beigeladenen einen Asbestkontakt im Vollbeweis feststellen können (Stellungnahmen Arbeitsplatzexposition vom 25. Juni 2018, 18. Oktober 2023).
4. Etwas Anderes folgt nicht aus der von der Klägerin vertretenen Auffassung, der Nachweis einer beruflichen Asbesteinwirkung bei unstreitig vorliegendem Mesotheliom ergebe sich auch dann, wenn in ihrem Lungengewebe Asbestfasern festgestellt werden. Auf eine von der Klägerin beantragte Beweiserhebung (Schriftsatz vom 19. Februar 2024) nach späterer Anordnung einer Obduktion kommt es für den Nachweis der beruflichen Asbesteinwirkung nicht an, weil als wahr unterstellt werden kann, dass das Lungengewebe in erheblichem Umfang mit industriellem Asbest belastet ist, ohne dass dies am vorliegenden Ergebnis etwas ändern würde.
Denn entgegen der Klägerin ergibt sich aus der von der DGUV herausgegebenen Falkensteiner Empfehlung (aaO) gerade keine Modifikation des von der Rechtsprechung des BSG auch für die BK Nr 4105 geforderten Vollbeweises für die berufliche Einwirkung (vgl BSG, Urteil vom 16. März 2021 - B 2 U 17/19 R, aaO, juris Rn 43). Die Falkensteiner Empfehlung ist eine medizinisch-wissenschaftliche Begutachtungsempfehlung und ersetzt nicht die gemäß § 9 SGB VII i.V.m. der BKV bestimmten rechtlichen Regelungen. Sie selbst stellt den Beweismaßstab des Vollbeweises hinsichtlich der beruflichen Einwirkung auch nicht in Frage, sondern setzt diesen in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BSG und der S2k-Leitlinie der AWMF (aaO, S 9, 63) ausdrücklich voraus (Falkensteiner Empfehlung, aaO, S 19). Zudem stellt die Empfehlung unter Abschnitt 8.2.3 Abs 3 klar, dass auch ein pathologisch-anatomischer Nachweis erhöhter Konzentrationen von Asbestkörpern oder Asbestfasern im Lungengewebe keine Informationen darüber liefert, ob eine berufliche oder außerberufliche Asbesteinwirkung vorliegt (ebd, S 74). Das heißt, die von der Klägerin geforderte Obduktion kann - selbst im Falle des Nachweises von Asbestfasern - keine Informationen darüber liefern, ob in ihrem Fall eine berufliche oder eine außerberufliche Asbesteinwirkung vorgelegen hat.
Abweichendes ergibt sich nicht aus der von der Klägerin eingewandten Ziffer 4.6.5 und 8.4.3 Abs 3 der Falkensteiner Empfehlung.
Ziffer 4.6.5 ist dem Kapitel "Feststellung und Beurteilung der beruflichen Belastung" zugeordnet und führt Kriterien für die Durchführung von Lungenstaubanalysen auf. Danach werden Lungenstaubanalysen unter der Voraussetzung, dass geeignetes Material, zB aus Operation und Obduktion, zur Verfügung steht, durchgeführt, wenn eine berufliche Asbestexposition mit anderen Mitteln nicht ausreichend zu sichern ist und eine BK der Nummern 4103 - 4104 und ggf 4105 zur Diskussion steht. Im letzten Satz, S 45, wird klargestellt, dass für die BK Nr 4105 der Nachweis einer hinreichenden Asbestexposition in der Regel durch arbeitstechnische und arbeitsmedizinische Ermittlungen zu führen ist. Weitere Angaben dazu, wann ein Fall außerhalb dieser Regel gegeben sein soll, macht die Falkensteiner Empfehlung nicht.
Die Ziffer 8.4.3 verhält sich nicht zur beruflichen "Einwirkung", sondern nach dem Wortlaut der Überschrift des Kapitels 8.4 zur "Beurteilung der Kausalität". Dementsprechend geht Ziffer 8.4.3 Abs 1 S 1 davon aus, dass bei gesichertem Nachweis eines malignen Mesothelioms dieses mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch die berufliche Tätigkeit verursacht wurde, wenn eine arbeitsbedingte Asbestbelastung vorlag. Abs 1 S 1 geht also davon aus, dass die arbeitsbedingte Asbestbelastung im Vollbeweis gesichert ist. Abs 2 S 1 geht dann weiter davon aus, dass bei unklaren Expositionsverhältnissen und einem erschwerten Vollbeweis ggf eine BK Nr 4105 hinreichend wahrscheinlich sein kann, wenn röntgenologisch charakteristische asbestbedingte Pleura- oder Lungenveränderungen oder pathologisch-anatomisch bzw lungenstaubanalytisch ein erhöhter pulmonaler Asbestgehalt und/oder asbestbedingte Lungenveränderungen nachweisbar sind (S 82). Dass es sich hierbei um eine Ausnahme zu der im Vollbeweis zu fordernden Einwirkung handelt, wird daraus gerade nicht ersichtlich, denn die Ziffer betrifft den Ursachenzusammenhang "hinreichend wahrscheinlich sein kann" und nicht die berufliche "Einwirkung".
Die Auslegung der Ziffer 8.4.3 Abs 2 durch die Klägerin, dass aus einer Pleura- oder Lungenveränderung bereits auf das Vorliegen der BK geschlossen werden könne, widerspricht zudem grundlegend den in § 9 Abs 1 S 1 SGB VII bestimmten Voraussetzungen des BK-Rechts, wonach eine Krankheit nur dann BK sein kann, wenn sie auf einer beruflichen Tätigkeit beruht. Diese - arbeitsplatzbezogene Voraussetzung - wird nicht bereits durch das bloße Vorliegen der Erkrankung indiziert. Vielmehr verbleibt es bei Ziffer 8.2.3 Abs 3, wonach erhöhte Konzentrationen von Asbest im Lungengewebe Anlass zu einer Re-Evaluierung der arbeitstechnischen Ermittlungen geben sollte, ohne dass die Feststellung einer erhöhten Asbestkonzentration Informationen darüber liefert, ob eine berufliche oder außerberufliche Asbesteinwirkung vorlag. Im Fall der Klägerin gibt es aber in Ermangelung weiterer Erkenntnisquellen wie Zeugen und in Anbetracht der Mitteilung der P. GmbH vom 19. Juni 2019, über keine Informationen zu Beschäftigungszeiten, Tätigkeiten oder einen möglichen Asbestkontakt der Klägerin zu verfügen, keine weiteren Möglichkeiten für eine solche Re-Evaluierung der arbeitstechnischen Ermittlungen.
Im Übrigen würde auch ein durch Obduktion gewonnener Asbestnachweis in der Lunge der Klägerin und eine anschließende qualitative elektronenmikroskopische Untersuchung der Asbestfasern auf ihre mögliche industrielle Herkunft - worauf die Klägerin im Schriftsatz vom 9. Februar 2024 unter Verweis auf den Internetauftritt des Instituts für Pathologie der AG. hinweist - keine Informationen dazu liefern, dass die Klägerin im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit als Näherin entweder bei der Firma K. oder bei der Firma M. oder im Werk der O. AG Kontakt zu Asbest hatte. Hierfür bestehen auch sonst keine Anhaltspunkte. Hinsichtlich der Firma K. hat die Beklagte mitgeteilt, dass asbestbedingte Erkrankungen weder gemeldet noch entschädigt worden seien (Schriftsatz vom 6. September 2019). Und die P. GmbH verfügt als Nachfolgeunternehmen zu dem damaligen Betrieb der O. AG über keine Informationen über Beschäftigungszeiten, Tätigkeiten oder einen möglichen Asbestkontakt der Klägerin (Schreiben vom 19. Juni 2019). Schließlich ergibt sich auch kein weiterer Anhaltspunkt aus dem Schriftsatz der Klägerin vom 19. Februar 2024. In dem dort in Bezug genommenen Aufsatz von Neumann ua, Wertigkeit von pathologisch-anatomischen und staubanalytischen Untersuchungen bei asbestassoziierten Berufskrankheiten am Beispiel der BK 4104, Pneumologie 2009, S 588 ff werden Fallbeispiele erläutert, in denen eine berufliche Einwirkung durch Asbest feststand (Fallberichte 1 und 2) oder nach den Ermittlungen der Präventionsabteilung angenommen wurde (Fallbericht 3). Der Aufsatz diskutiert die Grenzen der radiologischen Diagnostik bei der Bewertung asbestassoziierter Pleuraveränderungen im Vergleich zu durch eine Obduktion und Lungenstaubanalyse gewonnenen Ergebnissen. Im Fall der Klägerin steht eine berufliche Asbestexposition aber bereits nicht fest. Hinzu kommt, dass selbst im Falle eines Nachweises von Asbestfasern durch Obduktion und eines Nachweises, dass diese Asbestfasern industrieller Herkunft wären, nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit belegbar ist, dass diese Asbestfasern auf einer asbestbezogenen beruflichen Einwirkung beruhen. Denn eine solche Exposition gegenüber industriellen Asbestfasern kann - worauf die Beklagte mit Schriftsatz vom 13. Februar 2024 hingewiesen hat - ebenso im privaten Umfeld, zB in dort verwendeten Bügelunterlagen oder Bügeleisen, auftreten. Das ist für eine Reihe von Haushaltsgeräten auch durch zwischenzeitliche Untersuchungen belegt (vgl ABAG-itm GmbH, Untersuchung "Umweltrelevanz von asbesthaltigen Geräten in Abfällen aus elektro- und elektronischen Altgeräten" für das Umweltministerium Baden-Württemberg, Oktober 2006, S 8 f, abrufbar unter: https://um.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/m-um/intern/Dateien/Dokumente/2_Presse_und_Service/Publikationen/Umwelt/Umweltrelevanz_asbesthaltiger_Geraete.pdf).
5. Liegt schon keine im Vollbeweis gesicherte berufliche Einwirkung von Asbest vor, kommt es auch nicht darauf an, ob ein haftungsbegründender Kausalzusammenhang zwischen einer - nicht im Vollbeweis gesicherten - schädigenden Einwirkung und der Erkrankung - hier dem Pleuramesotheliom - hinreichend wahrscheinlich ist. Einen derartigen Kausalzusammenhang hat das SG nach Maßgabe des fachradiologischen Sachverständigengutachtens von PD Dr AA. vom 3. Januar 2022 (§ 118 Abs 1 S 1 SGG i.V.m. §§ 402 ff Zivilprozessordnung <ZPO>) wegen fehlenden Nachweises von Pleuraplaquebildungen (vgl Falkensteiner-Empfehlung, aaO, S 27; AWMF S2k-Leitlinie, aaO, S 11) auf Basis verschiedener Computertomographie-Untersuchungen des Thorax der Klägerin aus den Jahren 2016 bis 2021 sowie dem Niedrig-Dosis-HR-CT des Thorax vom 28. April 2021 nachvollziehbar verneint (PD Dr. AH., Gutachten vom 3. Januar 2022, S 11,16). Auf eine von der Klägerin mit Schriftsatz vom 19. Februar 2024, S 1 Buchstabe a) und b) sowie auf eine in der mündlichen Verhandlung am 21. Februar 2024 beantragte Sachverhaltsaufklärung durch Lungenstaubanalyse oder Obduktion kam es jedoch wegen der bereits nicht im Vollbeweis gesicherten asbestbezogenen beruflichen Einwirkung nicht an.
6. Soweit die Klägerin schließlich mit Schriftsatz vom 19. Februar 2024, S 1 Buchstabe c) für den Fall ihres Ablebens beantragt hat, durch eine Obduktion aufzuklären, dass die BK ihren Tod verursacht hat, betrifft dies nicht den Streitgegenstand des vorliegenden Rechtsstreits, sondern mögliche Leistungen an Hinterbliebene gemäß § 63 Abs 1 S 1 Nr 1, 2 und 3, S 2 SGB VII. Darüber liegt aber keine Entscheidung der Beklagten vor, die Gegenstand dieses Verfahrens geworden ist.
C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs 2 SGG), liegen nicht vor.