Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 27.02.2024, Az.: L 15 AS 259/23

Vollstreckung erbrachter Leistungen nach dem SGB II; Zurückverweisung an das Sozialgericht nach § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
27.02.2024
Aktenzeichen
L 15 AS 259/23
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2024, 21096
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG Bremen - 20.11.2023 - AZ: S 45 AS 636/22

In dem Rechtsstreit
A.
- Klägerin und Berufungsklägerin -
Prozessbevollmächtigter:
B.
gegen
C.
- Beklagter und Berufungsbeklagter -
hat der 15. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen auf die mündliche Verhandlung vom 27. Februar 2024 in Bremen durch den Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht D., die Richterin am Landessozialgericht E. und den Richter am Landessozialgericht F. sowie die ehrenamtliche Richterin G. und den ehrenamtlichen Richter H. für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bremen vom 20. November 2023 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass dem Beklagten aus dem Erstattungsbescheid vom 16. Oktober 2018 keine Forderung gegen sie zusteht.

Die I. geborene Klägerin ist J. Staatsangehörige und seit November 2011 durchgehend als in K. wohnhaft gemeldet. Zur Zeit lebt sie mit dem Ehemann L. und einem Kind in K.. Zumindest in der Vergangenheit stand die Klägerin im Bezug von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Mit Vollstreckungsankündigung vom 16. April 2022 teilte das Hauptzollamt M. der Klägerin mit, dass die Vollstreckung in Geldforderungen in Höhe von 2.386,47 € durchgeführt werde. Die Forderung setzt sich danach zusammen aus erbrachten Leistungen nach dem SGB II im Zeitraum 1. Februar bis 30. November 2015 und beruht auf einem Bescheid vom 16. Oktober 2018.

Rechtsanwalt N. hat am 7. Juni 2022 im Namen der Klägerin Klage bei dem Sozialgericht (SG) Bremen erhoben und die Feststellung begehrt, dass dem Beklagten gegen die Klägerin aus dem Erstattungsbescheid vom 16. Oktober 2018 keine Forderung zustehe. Nachdem der Beklagte Zweifel an der Bevollmächtigung des Rechtsanwalts mitgeteilt hatte, hat das SG die Klägerin aufgefordert eine aktuelle Vollmacht vorzulegen. Rechtsanwalt N. hat daraufhin eine am 4. Oktober 2022 ausdrücklich für das laufende Verfahren ausgestellte Vollmachtsurkunde übersandt. Der Beklagte hat daraufhin Unterschriftsproben der Klägerin und ihres Ehemannes aus der Verwaltungsakte übersandt und Zweifel an der Urheberschaft der neuen Vollmacht geäußert; vielmehr scheine es sich bei der Unterschrift auf der aktuellen Vollmacht um die des Ehemannes zu handeln. Das SG hat daraufhin Rechtsanwalt N. aufgefordert, zur Klärung des Sachverhalts eine Kopie eines Identitätsnachweises einzureichen. Zugleich hat das SG darauf hingewiesen, dass eine ordnungsgemäße Bevollmächtigung bisher nicht nachgewiesen sei und die Klage derzeit unzulässig sein dürfte. Mit Gerichtsbescheid vom 20. November 2023 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die Klage sei schon unzulässig, da von einer ordnungsgemäßen Bevollmächtigung nicht ausgegangen werden könne. Die auf der eingereichten Vollmacht vorhandene Unterschrift weise Diskrepanzen auf zu früheren Unterschriften, eine Kopie des Identitätsnachweises habe die Klägerin trotz Aufforderung nicht eingereicht.

Gegen den am 22. November 2023 zugestellten Gerichtsbescheid hat Rechtsanwalt N. im Namen der Klägerin am 19. Dezember 2023 Berufung eingelegt und darauf hingewiesen, dass eine Vollmacht vorliege.

Die Klägerin hat keinen Antrag gestellt.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten, die Gegenstand der Verhandlung und Entscheidungsfindung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Gerichtsbescheides und der Zurückverweisung der Sache an das SG begründet. Nach § 159 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das SG zurückverweisen, wenn dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden. Die Vorschrift greift, wenn das SG zu Unrecht in der Sache selbst nicht entschieden hat (vgl. Bundesozialgericht [BSG], Beschluss vom 17. Februar 2022 - B 11 AL 19/21 BH - juris Rn. 5). Dies ist der Fall, wenn das SG rechtsfehlerhaft durch Prozessurteil entschieden oder aus anderen Gründen keine Sachentscheidung über den Streitgegenstand getroffen hat; gleiches gilt, wenn das SG verpflichtet gewesen wäre, das Sachentscheidungshindernis zu beseitigen und erst dann in der Sache zu entscheiden (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 159 Rn. 2a).

Die Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Das SG hat die Klage - auch wenn dies aus dem Tenor nicht unmittelbar, aber zumindest aus den Gründen deutlich wird - durch Prozessurteil als unzulässig abgewiesen, ohne dass die Voraussetzungen hierfür vorgelegen hätten. Das Ergehen eines Prozessurteils anstatt des gebotenen Sachurteils stellt grundsätzlich einen Verfahrensmangel dar (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, 14. Aufl. 2023, § 144 Rn. 32). Die Unzulässigkeit der Klage hat das SG ausschließlich damit begründet, dass eine Bevollmächtigung des Rechtsanwalts nicht nachgewiesen sei. Diese Feststellung konnte das SG jedoch nach Aktenlage nicht treffen. Die Klägerin hat durch Rechtsanwalt N. eine auf ihren Namen lautende aktuelle Prozessvollmacht, die ausdrücklich für das vorliegende Verfahren ausgestellt ist, versehen mit einer nicht lesbaren Unterschrift eingereicht. Eine nicht lesbare Unterschrift auf der Vollmachtsurkunde ist in der Regel ebenso wenig geeignet, die Feststellung zu begründen, dass es an einer nachgewiesenen Bevollmächtigung fehlt, wie die Tatsache, dass eine oder mehrere mehr oder weniger abweichende Unterschriften derselben Person aktenkundig sind. Etwas Abweichendes kann in der Regel nur dann gelten, wenn völlig offensichtlich ist, dass es sich um die Unterschrift einer anderen Person bzw. um ein manipuliertes Dokument handelt. Unerheblich ist insoweit, ob nur das Gericht oder - wie hier - auch der Beklagte Zweifel an der Urheberschaft der Unterschrift auf der eingereichten Vollmachtsurkunde hegen. Regelmäßig verfügen weder Gerichte noch Behördenvertreter über die notwenige Fachkompetenz, um anhand eines Unterschriftenvergleichs die Urheberschaft einer Unterschrift durch eine bestimmte Person abschließend festzustellen oder auszuschließen. Dies gilt erst recht, wenn es sich bei der betreffenden Person, die die Unterschrift geleistet haben soll, um eine Person handelt aus einer Personengruppe, in der erfahrungsgemäß überproportional viele Personen einen niedrigen Schulbildungsgrad besitzen bzw. kaum oder gar nicht des Lesens und Schreibens mächtig sind. Gerade dies kann nach den Erfahrungen des Senats in zahlreichen Verfahren O. Staatsbürger, die in den letzten zehn Jahren nach K. gekommen sind und danach zumindest zeitweise im Leistungsbezug standen, keineswegs ausgeschlossen werden. Dem Gericht ist es daher in einer derartigen Konstellation regelmäßig verwehrt, ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung bzw. eines Erörterungstermins durch Gerichtsbescheid und damit ohne Anhörung der Kläger, die in diesem Rahmen die Urheberschaft der Unterschrift bestätigen oder verneinen könnten, über eine Klage durch Prozessurteil zu entscheiden und die Klage aufgrund einer fehlenden Prozessvollmacht als unzulässig abzuweisen. Denn eine Prozessvollmacht liegt unter den genannten Umständen zunächst einmal vor, so dass die Voraussetzungen für ein Prozessurteil aufgrund fehlender Vollmacht durch Gerichtsbescheid nicht erfüllt sind. Vorliegend kommt hinzu, dass - zumindest vom Beklagten - Anhaltspunkte dafür erkannt worden sind, dass die Unterschrift vom Ehemann der Klägerin stammen könnte. Diese Vermutung steht einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid ohne Anhörung der Klägerin auch eher entgegen, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Ehemann als Vertreter der Klägerin gehandelt hat. Allein die Aufforderung des SG, einen Identitätsnachweis zur Überprüfung der Unterschrift vorzulegen, ändert an diesem Ergebnis nichts. Abgesehen davon dürfte auch der Vergleich mit einer weiteren Unterschrift der betreffenden Person - z.B. im Pass - nicht ohne weiteres zur sicheren Erkenntnis führen, dass die Unterschrift auf der vorgelegten Vollmacht nicht von dieser Person stammt. Letztlich wird das Gericht in derartigen Fällen zumeist gehalten sein, einen Termin unter Anwesenheit des Klägers bzw. der Klägerin durchzuführen. Im Einzelfall kann das Verhalten der Kläger und des Rechtsanwalts allerdings - insbesondere dann, wenn nach der in einem Termin erforderlich gewordenen Klärung der Bevollmächtigung bzw. Urheberschaft der Vollmacht durch das Verschulden der Klägerseite eine Vertagung der Sache notwendig wird - die Auferlegung von Verschuldenskosten nach § 192 SGG rechtfertigen. Der Senat hat sein Ermessen vorliegend dahingehend ausgeübt, dass die Aufhebung des Gerichtsbescheids und Zurückverweisung der Sache an das SG i. S. v. § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG als sachgerecht anzusehen ist. In Anbetracht der erst sehr kurzen Verfahrensdauer insbesondere im Berufungsverfahren fällt die zu treffende Abwägung zwischen den Interessen der Beteiligten an einer möglichst schnellen Sachentscheidung einerseits und dem Verlust einer Instanz andererseits im Sinne einer Zurückverweisung aus.

Das SG wird auch über die Kosten des Berufungsverfahrens zu entscheiden haben (Keller a. a. O., § 159 Rn. 5f.).

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).