Sozialgericht Braunschweig
Urt. v. 20.12.2022, Az.: S 14 U 154/19

Antrag auf Anerkennung eines Verkehrsunfalls als Wegeunfall

Bibliographie

Gericht
SG Braunschweig
Datum
20.12.2022
Aktenzeichen
S 14 U 154/19
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 70156
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGBRAUN:2022:1220.S14U154.19.00

In dem Rechtsstreit
B.
- Kläger -
Prozessbevollmächtigte:
C.
gegen
Berufsgenossenschaft D.
- Beklagte -
hat die 14. Kammer des Sozialgerichts Braunschweig auf die mündliche Verhandlung vom 20. Dezember 2022 durch die Richterin am Sozialgericht E. sowie die ehrenamtliche Richterin F. und den ehrenamtlichen Richter G. für Recht erkannt:

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten werden nicht erstattet.

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Anerkennung seines Verkehrsunfalls als Wegeunfall.

Der 45jährige Kläger war seit dem 1. Januar 2009 als Prüfer bei der H. im Werk I. beschäftigt. Am 27. August 2018 erlitt der Kläger auf der Strecke zwischen seinem Wohnort (J.) und dem Arbeitsort (I.) einen Verkehrsunfall, auf der K. zwischen den Orten L. und M.. Der Kläger fuhr alleine in seinem Pkw in Richtung M. /J. und kam bei einem Überholvorgang von der Fahrbahn ab. Der Wagen überschlug sich mehrmals, der Kläger schleuderte dabei heraus und erlitt dadurch erhebliche Verletzungen. Der Unfall ereignete sich gegen 19:30. Auf Nachfrage der Polizei einen Tag nach dem Unfall gab die Mutter des Klägers spontan an, der Kläger sei vermutlich umgekehrt, um sein Handy zu holen, das er zuhause vergessen hatte.

Die Staatsanwaltschaft Hildesheim leitete ein Ermittlungsverfahren gegen den Kläger ein. Die Beklagte gewährte zunächst Leistungen der Heilbehandlung, nahm dann aber Ermittlungen bezüglich des Unfallhergangs auf. Eine Befragung von Mitarbeitern des Arbeitgebers ergab, dass der Kläger an dem Unfalltag zur Nachtschicht eingeteilt war, die um 20.00 begann. Der Kläger ist dort jedoch nicht erschienen. Warum sich der Kläger auf dem Weg nach Hause befunden hätte, wusste niemand. Einen dienstlichen Grund für die Heimfahrt habe es nicht gegeben. Vielleicht habe er seinen Dienstausweis vergessen gehabt. Dies sei aber nur eine Vermutung. Der Kläger kann sich an den Unfall nicht erinnern. Aus seiner Sicht sei er auf dem Weg zur Arbeit gewesen.

Mit Bescheid vom 25. Juni 2019 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Unfalls als Arbeitsunfall ab. Der Kläger habe sich zum Unfallzeitpunkt nicht auf einem versicherten Weg befunden. Entsprechend der polizeilichen Ermittlungen sei der Kläger vom Arbeitsort in Richtung Wohnort gefahren. Gründe dafür, dass diese Fahrt als versichert anzuerkennen sei, seien nicht ersichtlich. Den dagegen erhobenen Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28. November 2019 als unbegründet zurück.

Dagegen hat der Kläger am 27. Dezember 2019 Klage beim Sozialgericht Braunschweig erhoben.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 25. Juni 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. November 2019 aufzuheben und festzustellen, dass der Unfall vom 27. August 2018 ein Arbeitsunfall ist.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält an ihrer Ansicht fest und verweist auf ihre Ausführungen in den streitgegenständlichen Bescheiden.

Das Gericht hat die Bußgeldakte des Landkreises Gifhorn beigezogen. Auf Anfrage der Beklagten hat das Gericht die Bußgeldakte am 2. Dezember 2022 mit der Bitte um Rücksendung bis spätestens zum 12. Dezember 2022 übersandt. Nachdem die Beklagte zunächst vorgetragen hatte, die Akte sei bei ihr nicht angekommen, ist sie schließlich aufgefunden und verspätet zurückgesandt worden. Der Kammer hat die Bußgeldakte zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht vorgelegen, Die Bußgeldakte ist jedoch in weiten Teilen als Kopie in den Verwaltungsakten der Beklagten enthalten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes sowie des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der den Kläger betreffenden Verwaltungsakten der Beklagten und der Gerichtsakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (§§ 54 Abs. 1 Satz 1, Var. 1, § 55 Abs. 1 Nr. 1, § 56 SGG) statthafte Klage ist auch im Übrigen zulässig. Sie ist aber unbegründet. Der angegriffene Bescheid der Beklagten vom 25. Juni 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. November 2019 erweist sich als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Die Beklagte hat die Anerkennung des Unfalls vom 27. August 2018 als Arbeitsunfall zu Recht abgelehnt.

Der Kläger hat am 27. August 2018 keinen Arbeitsunfall in Form eines Wegeunfalls erlitten, als er mit seinem PKW auf der Bundesstraße K. verunfallte.

Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Versicherte Tätigkeit ist auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Ein Arbeitsunfall setzt mithin voraus, dass die Verrichtung zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer oder sachlicher Zusammenhang), sie zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis geführt (Unfallkausalität) und dadurch einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht hat (BSG, Urteil vom 28. Juni 2022, B 2 U 16/20 R).

Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Die Kammer ist auf der Grundlage des Gesamtergebnisses des Verfahrens (§ 128 Abs. 1 SGG) nicht zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger im Unfallzeitpunkt einen Weg zum Ort seiner Tätigkeit zurücklegte oder einen Heimweg vom Ort seiner Tätigkeit nach Hause. Der Nachweis, dass seine Handlungstendenz subjektiv darauf gerichtet war, zur Arbeit zu fahren (a) oder von der Arbeit zurück nach Hause zu fahren (b) konnte nicht erbracht werden. Den Nachteil aus der tatsächlichen Unaufklärbarkeit anspruchsbegründender Tatsachen hat nach den Regeln der objektiven Beweislast der Kläger zu tragen (BSG, Urteil vom 17. Dezember 2015, B 2 U 8/14 R, Rn. 25).

a) Entsprechend der Ergebnisse der polizeilichen Ermittlungen fuhr der Kläger am 27. August 2018 auf der Bundesstraße zum Unfallzeitpunkt gegen 19:30 nicht in Richtung seiner Arbeitsstätte (I.), sondern in die entgegengesetzte Richtung. Daher war der Kläger nicht auf dem unmittelbaren Weg nach dem Ort der Tätigkeit, § 8 Abs. 2 Nr. 1, 1. Alt. SGB VII.

b) Der Unfall ereignete sich auch nicht beim Zurücklegen des unmittelbaren Weges von dem Ort der Tätigkeit zurück nach Hause (§ 8 Abs. 2 Nr. 1, 2. Alt. SGB VII). Entsprechend der Ermittlungen der Beklagten ist der Kläger am Unfalltag nicht bei der Arbeitsstätte (dem Ort der Tätigkeit) erschienen. Die von der Beklagten hierzu befragten Mitarbeiter der H. gaben an, dass der Kläger an dem Tag nicht im System erfasst wurde. Die befragten Mitarbeiter hatten keine Erklärung dafür, warum der Kläger den Weg zur Arbeit abgebrochen und umgekehrt sein könnte. Dienstliche Gründe dafür gab es nicht.

Der Kläger kann sich aufgrund der Schwere des Unfalls nicht mehr an das Unfallgeschehen erinnern. Seinem Eindruck nach habe er sich auf dem Weg zur Arbeit befunden. Die Kammer hat keinen Zweifel daran, dass der Kläger am 27. August 2018 zunächst zur Arbeitsstätte fuhr. Dies ergibt sich bereits aus seiner dienstlichen Verpflichtung (Schichtbeginn 20:00 Uhr) und wird auch von der Mutter so bestätigt. Der Unfall ereignete sich jedoch, wie oben dargelegt, nicht während dieser - versicherten - Fahrt in Richtung Arbeitsstätte. Der Kläger muss entsprechend des ermittelten Sachverhalts den versicherten Weg zur Arbeit unterwegs abgebrochen und gewendet haben. Damit einhergegangen sein muss ein Wechsel der inneren Handlungstendenz des Klägers. Ab dem Moment des Fahrtrichtungswechsels war die innere Handlungstendenz des Klägers nicht mehr darauf gerichtet, zur Arbeit zu fahren.

Voraussetzung für die Anerkennung des Unfalls als Wegeunfall ist, dass das objektiv beobachtbare Handeln auch subjektiv auf die Erfüllung des Tatbestandes der versicherten Tätigkeit (im Sinne des § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII) gerichtet sein muss. Daher ist festzustellen, welches individuelle Ziel der Versicherte ansteuerte, als er verunglückte (BSG, Urteil vom 28. Juni 2022, B 2 U 16/20 R, Rn. 12 f.). Das Gericht darf dabei das Vorliegen der subjektiven Handlungstendenz nicht unterstellen. Es hat vielmehr nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden, von welchem Sachverhalt es bei der rechtlichen Beurteilung ausgeht, § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG.

Der Kläger kann keine Aussage dazu machen, warum er den Fahrtrichtungswechsel eingeleitet hat. Erörtert wurden im Verfahren mehrere in Betracht kommende Motive. Die Mutter des Kläger hatte spontan gegenüber der Polizei ausgesagt, der Kläger habe sein handy zuhause vergessen und habe dieses vermutlich holen wollen. Der Kläger ist dem im Verlauf des Verfahrens entgegengetreten und hat als Beleg eine Bestätigung der Notaufnahme der MHH vorgelegt, wonach der Kläger bei der Aufnahme im Krankenhaus ein handy bei sich hatte. Die Kammer geht daher nicht davon aus, dass der Kläger aus diesem (eigennützigen) Grund umgekehrt ist. Entsprechend der Auflistung hatte der Kläger auch seinen N. -Werksausweis dabei, sodass er auch nicht deswegen umgekehrt sein kann, um diesen zu holen.

Der Kläger verweist sodann darauf, dass er krankheitsbedingt umgekehrt sei. Als objektive Stütze dafür zieht er einen Behandlungsbericht des BG Klinikums Hamburg vom 17. September 2018 heran. Darin heißt es: "Von Beginn des ersten Behandlungstages litt Herr O. unter hohem Fieber bis 40°, ohne dass hierfür ein klarer Fokus gefunden werden konnte. Am 3. Behandlungstag zeichnete sich dann eine radiologisch wie auch bronchoskopisch gesicherte Pneumonie ab." In der Zusammenfassung wird angemerkt: "Es zeigte sich bei Herrn O. ein komplikationsträchtiger stationärer Verlauf auf dem Boden einer mutmaßlich schon vor der stationären Aufnahme bestehenden Pneumonie mit Keimnachweis von Staphylococcus aureus, mit hämolysierenden Streptokokken der Gruppe G, Klebsiella oxytoca, Enterobactar cloacae und Candida albicans im Bronchialsekret respektive der bronchoalveolären Lavage." Der Kläger wurde zweimal reanimationspflichtig. Die Lebensgefährtin des Klägers habe berichtet, der Kläger habe bis zum Tage des Unfalls verschiedene Muskelaufbausubstanzen verwendet.

Der Kläger hat weiter ausgeführt, dass die Erkrankung auch sein ansonsten nicht nachvollziehbares Fahrverhalten (nämlich das missglückte Überholmanöver) erklären könne. Er sei Testfahrer und verhalte sich im Straßenverkehr vorsichtig.

Auch auf der Grundlage dieser Angaben konnte die Kammer nicht die volle Überzeugung gewinnen, dass der Weg des Klägers nach dem Wechsel der Fahrtrichtung wesentlich von dem Vorhaben geprägt war, von der Arbeitsstätte wegen der Erkrankung zurück nach Hause fahren zu wollen. Zwar bedarf es für diese Überzeugungsbildung nicht einer absoluten Gewissheit, aber doch immerhin eines der Gewissheit nahekommenden Grades der Wahrscheinlichkeit. Der behauptete Umstand muss in so hohem Maße wahrscheinlich sein, dass bei lebenspraktischer Betrachtung Zweifel zurücktreten, ohne dass diese allerdings völlig ausgeschlossen sein müssen. Bei der Kammer sind erhebliche Zweifel verblieben.

Bereits im Behandlungsbericht wird ausgeführt, dass die Pneumonie "mutmaßlich" schon vor der stationären Aufnahme bestand. Zudem ließ sich für die Kammer auf dieser Grundlage kein in sich schlüssiger Geschehensablauf insbesondere des Fahrverhaltes des Klägers rekonstruieren. Der Kläger fühlte sich offenbar zunächst gesundheitlich in der Lage, die Spätschicht (20:00 bis 6:00) anzutreten und trat den Weg zur Arbeitsstätte an. Sofern er dann während der Fahrt von einer plötzlich ausgebrochenen Lungenentzündung überrascht worden sein sollte und deswegen mitten auf der Strecke umgekehrt sein sollte, ist das dokumentierte Fahrverhalten nicht erklärbar. Die Zeugin P. hat bei ihrer Vernehmung ausgesagt, dass "dieser Audi" (der Kläger) sehr schnell und rasant fuhr. Er sei auf ihr Fahrzeug sehr dicht aufgefahren, offenbar über einen längeren Streckenabschnitt. Die Schlange hinter dem Trecker habe sich "nach und nach" aufgelöst, der Audi war immer noch hinter der Zeugin. "Der Fahrer", so die Zeugin, "fuhr aber immer mit seinem Fahrzeug zur Mittellinie, um zu sehen, ob Gegenverkehr kam." Dann sei der Kläger "auf einmal" an ihrem Fahrzeug vorbeigeschossen. Nachfolgend kam es dann zum Unfall. Dieser Geschehensablauf lässt nicht erkennen, dass der Kläger krankheitsbedingt benommen gewesen ist oder infolge plötzlich auftretendem Fiebers geschwächt. Zu erwarten wäre dann nach allgemeiner Lebenserfahrung ein verlangsamtes, möglicherweise ziellos schlingerndes Fahrverhalten. Hier leitete der Kläger aber zielgerichtet und über einen längeren Zeitraum ein riskantes Überholmanöver ein. Das spricht gerade nicht für eine krankheitsbedingt unkonzentrierte Fahrweise.

Nach Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten lässt sich die auf die Zurücklegung eines versicherten Weges gerichtete subjektive Handlungstendenz nicht im Vollbeweis feststellen ("non liquet"). Dies geht nach den allgemeinen Grundsätzen der materiellen Beweislast zu Lasten des Beteiligten, der hieraus ein Recht oder einen rechtlichen Vorteil herleitet (vgl. BSG Urteil vom 6. Oktober 2020, B 2 U 9/19 R). Für die den Versicherungsschutz gemäß des § 8 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 SGB VII begründenden Umstände und damit auch für den sachlichen Zusammenhang des zurückgelegten Weges mit der versicherten Tätigkeit trifft den Kläger somit die Beweis- bzw. Feststellungslast.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.