Sozialgericht Braunschweig
Urt. v. 15.06.2022, Az.: S 28 AS 447/21

Anspruchsgeltendmachung im Überprüfungsverfahren auf Gewährung höherer Leistungen nach dem SGB II

Bibliographie

Gericht
SG Braunschweig
Datum
15.06.2022
Aktenzeichen
S 28 AS 447/21
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 70154
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGBRAUN:2022:0615.S28AS447.21.00

In dem Rechtsstreit
A.
- Kläger -
Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt B.
gegen
Jobcenter C.
- Beklagter -
hat die 28. Kammer des Sozialgerichts Braunschweig ohne mündliche Verhandlung am 15. Juni 2022 durch den D. sowie den ehrenamtlichen Richter E. und die ehrenamtliche Richterin F. für Recht erkannt:

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Der Kläger begehrt im Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X die Gewährung höherer Leistungen nach dem SGB II ab dem 1. Januar 2019 sowie die Aufhebung der Bescheide vom 26. April 2016, 1. Juni 2017, 16. Mai 2018 und 28. November 2019 über die Geltendmachung von Ersatzansprüchen nach § 34 SGB II.

Der am G. 1991 geborene Kläger war von September 2009 bis März 2012 (genau 16. März 2012), bei der Firma H. als Elektroniker für Automatisierungstechnik tätig gewesen. Diese Ausbildung wurde abgebrochen aufgrund der Kündigung seitens des Arbeitgebers; Hintergrund waren vorgeworfene unentschuldigte Fehlzeiten.

Dem Kläger wurden vom Beklagten Leistungen nach dem SGB II ab dem 1. März 2013 gewährt.

Nach durchgeführter Anhörung zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen nach § 34 SGB II (vgl. Anhörungsschreiben vom 18. April 2013) traf der Beklagte durch den Bescheid vom 27. Mai 2013 die Grundentscheidung zur Geltendmachung der Ersatzpflicht nach § 34 SGB II mit Verweis auf durch weitere Bescheide mitzuteilender Höhe der jeweiligen Ersatzforderung. Im hiergegen eingelegten Widerspruch vom 5. Juni 2013 verwies der Kläger auf Folgendes hin: "Für die Kündigung meiner Ausbildung lagen wichtige Gründe vor, die mich dazu bewegt haben. Leider habe ich die Anhörungsfrist versäumt, was ich jetzt nachholen möchte." Nach dem Erläuterungsschreiben vom 17. Juni 2013 berief sich der Kläger insoweit auf gesundheitliche Gründe und Mobbing, was vom Arbeitgeber nicht anerkannt worden sei. Diesen Widerspruch wies der Beklagte durch seinen Widerspruchsbescheid vom 10. Oktober 2013 zurück. Hiergegen wurde keine Klage eingereicht, sodass der Bescheid vom 27. Mai 2013 bestandskräftig wurde.

In der Folgezeit wurden immer unter Bezugnahme auf den Grundbescheid vom 27. Mai 2013 konkrete Ersatzforderungen geltend gemacht und zwar durch folgende bestandskräftige Bescheide:

- Durch den Bescheid vom 21. Oktober 2013: Geltendmachung von 2.753,58 € für die Zeit vom 1. März 2013 bis 31. August 2013,

- durch den Bescheid vom 2. September 2014 Geltendmachung vom 4.282,34 € für die Zeit vom 1. März 2014 bis 31. August 2014,

- durch den Bescheid vom 5. Mai 2015 Geltendmachung von 4.822,40 € für 1. September 2014 bis 28. Februar 2015,

- durch den Bescheid vom 4. Dezember 2015 Geltendmachung von 4.801,62 € für 1. Juni 2015 bis 30. November 2015,

- durch den Bescheid vom 26. April 2016 Geltendmachung von 4.386,10 € für 1. Dezember 2015 bis 31. Mai 2016

- durch den Bescheid vom 1. Juni 2017 Geltendmachung von 8.752,00 € für 1. Juni 2016 bis 31. Mai 2017,

- durch den Bescheid vom 16. Mai 2018 Geltendmachung von 561,21 € für Juni 2017,

- durch den Bescheid vom 20. August 2018: Geltendmachung von 2.147,71 € für Juni 2018 und Juli 2018,

- durch den Bescheid vom 18. Dezember 2018 Geltendmachung von 3.328,40 € für September 2018 bis Dezember 2018 und

- durch den Bescheid vom 28. November 2019 Geltendmachung von 7.250,02 € (für Januar 2019 bis September 2019).

Die Leistungsgewährung nach dem SGB II wurde durch den Bescheid vom 1. Oktober 2019: Aufhebung der Leistungsgewährung ab dem 1. November 2019 aufgehoben, weil der Kläger eine Erwerbstätigkeit aufgenommen hatte.

Am 6. Oktober 2020 reichte der Kläger den hier streitigen Überprüfungsantrag ein, der alle bestandskräftigen Bescheide seit dem 1. Januar 2019 betreffen soll und außerdem die Bescheide über die Feststellung und Geltendmachung eines Ersatzanspruches vom "01.06.2017, 16.05.2018, 26.04.2016 und 28.11.2019". Eine inhaltliche Begründung wurde nicht gegeben.

Diesen Überprüfungsantrag lehnte der Beklagte durch den Bescheid vom 25. Februar 2021 ab, weil die Sachprüfung: ergeben habe, "dass weder von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen noch das Recht falsch angewandt wurde". Den hiergegen ohne Begründung eingereichten Widerspruch vom 25. März 2021 wies der Beklagte durch den Widerspruchsbescheid vom 16. April 2021 zurück. Zur Begründung wies er darauf hin, dass ein Antrag auf "Überprüfung sämtlicher bestandskräftiger Bescheide auf ihre Rechtmäßigkeit" nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BSG kein hinreichend konkretisierter Antrag im Sinne des § 44 SGB X sei. Der Überprüfungsantrag sei zu Recht als unbegründet abgelehnt werden. Der Umfang der Sachprüfung könne auch durch die hier fehlende Begründung des Klägers bestimmt sein.

Hiergegen hat der Kläger am 11. Mai 2021 beim Sozialgericht Braunschweig Klage eingereicht. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, dass die geltend gemachte Ersatzpflicht einen kausalspezifischen Zusammenhang erfordere, der hier nicht bestehe. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass er noch in der Ausbildung gewesen sei und höchstens 700 -€ verdient habe.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Beklagten zu verpflichten, unter Änderung des Ablehnungsbescheides vom 25. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. April 2021 für den Leistungszeitraum vom 1. November 2019 bis zum Eingang des Überprüfungsantrages am 6. Oktober 2020 in Abänderung der erlassenen Leistungsbescheide höhere Leistungen nach dem SGB II zu gewähren und die Ersatzbescheide vom "01.06.2017, 16.05.2018, 26.04.2016 und 28.11.2019" aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte ist der Auffassung, dass der Überprüfungsantrag nicht erfolgreich sein könne, soweit der Kläger nur allgemein "alle bestandskräftigen Bescheide seit dem 01.01.2019" anspreche. Im Übrigen seien die hier ergangenen Bescheide über die Geltendmachung eines Ersatzanspruches rechtmäßig gewesen. Der Kläger habe sich vor seinem Erstantrag vom 8. März 2013 in einem Ausbildungsverhältnis befunden, dass nach den eigenen Angaben des Klägers wegen unentschuldigten Fehlens beendet worden sei. § 34 SGB II erfasse auch Fälle, in denen vorsätzlich oder grob fahrlässig ein Arbeitsverhältnis ohne wichtigen Grund gekündigt wurde, z.B. in denen eine verhaltensbedingte Kündigung provoziert wurde. Der Kläger habe durch seine unentschuldigten Fehlzeiten die Beendigung seines Ausbildungsverhältnisses selbst herbeigeführt. Mit diesem unentschuldigten Fehlen habe er die verkehrserforderliche Sorgfaltspflicht in besonders schwerem Maße verletzt. Es hätte ihm bewusst sein müssen, dass dieses zur Beendigung seines Ausbildungsverhältnisses führen kann.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen. Diese Unterlagen sind ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der Beratung gewesen.

Entscheidungsgründe

Über die Klage kann gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden werden, weil sich die Beteiligten mit dieser Form der Entscheidung einverstanden erklärt haben.

Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Der den Überprüfungsantrag ablehnende Bescheid des Beklagten vom 25. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. April 2021 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger kann aufgrund des vorliegend maßgebenden Überprüfungsantrages am 6. Oktober 2020 für den Leistungszeitraum vom 1. November 2019 bis zum Eingang dieses Antrages keine höheren Leistungen nach dem SGB II verlangen. Außerdem hat er in diesem zu beurteilenden Überprüfungsverfahren keinen Anspruch auf Aufhebung der konkret benannten Ersatzbescheide vom "01.06.2017, 16.05.2018, 26.04.2016 und 28.11.2019".

Nach § 44 Abs. 1 SGB X ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Nach § 44 Abs. 2 SGB X ist im Übrigen ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Nach § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X werden, wenn ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden ist, Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht.

Diese Rücknahmefristen werden für das Leistungsrecht nach dem SGB II durch § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II wie folgt verändert: Abweichend von Satz 1 gilt § 44 des Zehnten Buches mit der Maßgabe, dass 1. rechtswidrige nicht begünstigende Verwaltungsakte nach den Absätzen 1 und 2 nicht später als vier Jahre nach Ablauf des Jahres, in dem der Verwaltungsakt bekanntgegeben wurde, zurückzunehmen sind; ausreichend ist, wenn die Rücknahme innerhalb dieses Zeitraums beantragt wird, und 2. anstelle des Zeitraums von vier Jahren nach Absatz 4 Satz 1 ein Zeitraum von einem Jahr tritt.

In Anwendung dieser Vorschriften ist der Überprüfungsantrag vom 6. Oktober 2020 zu Recht abgelehnt worden.

Soweit durch diesen Überprüfungsantrag pauschal ohne nähere Begründung "alle bestandskräftigen Bescheide seit dem 01.01.2019" zur Überprüfung gestellt werden, hatte der Beklagte zwar nach den Ausführungen im ablehnenden Bescheid vom 25. Februar 2021 eine Sachprüfung vorgenommen, diese war jedoch entbehrlich, weil nach der inzwischen ständigen Rechtsprechung des BSG, die im Widerspruchbescheid vom 16. April 2021 auch zutreffend wiedergegeben wird, ein derart pauschaler Überprüfungsantrag nicht eine inhaltliche Prüfungspflicht bewirkt, sodass der der Überprüfungsantrag bezogen auf dieses Begehren schon aus diesem Grunde zu Recht abgelehnt wurde.

Soweit es die Bescheide über die Geltendmachung von Ersatzansprüchen vom "01.06.2017, 16.05.2018, 26.04.2016 und 28.11.2019" betrifft, können aufgrund der Regelung des § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II zwar alle soeben aufgeführten Bescheide zur Überprüfung gestellt werden, weil bei Anwendung dieser Vorschrift auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe dieser Bescheide abgestellt wird, jedoch sind diese Bescheide rechtmäßig, sodass der Überprüfungsantrag auch insoweit abzulehnen war.

Durch die Bescheide über die Geltendmachung von Ersatzansprüchen vom 26. April 2016 (für Dezember 2015 bis Mai 2016), vom 1. Juni 2017 (für Juni 2016 bis Mai 2017), vom 16. Mai 2018 (für Juni 2017) und vom 28. November 2019 (für Januar 2019 bis September 2019) ist nämlich nicht mehr eine Grundentscheidung über die Geltendmachung von Ersatzansprüchen nach § 34 SGB II erfolgt, denn diese Grundentscheidung ist bereits durch den bestandskräftigen Bescheid vom 27. Mai 2013 getroffen worden und diese Entscheidung kann wegen Zeitablaufes im Überprüfungsverfahren nicht mehr zur Überprüfung gestellt werden. Deshalb kommt eine rechtliche Überprüfung der bezogen auf den Kläger getroffenen Grundentscheidung nach § 34 SGB II nicht mehr in Betracht.

Somit ist im Rahmen der Bescheide über die Geltendmachung von konkreten Ersatzansprüchen vom 26. April 2016 (für Dezember 2015 bis Mai 2016, vom 1. Juni 2017 (für Juni 2016 bis Mai 2017), vom 16. Mai 2018 (für Juni 2017) und vom 28. November 2019 (für Januar 2019 bis September 2019) nur zu prüfen, ob der Beklagte bei der Höhe des jeweils geforderten Ersatzanspruches jeweils die tatsächlich gewährten Leistungen nach dem SGB II richtig ermittelt hatte, was der Fall ist. Außerdem ist zu berücksichtigen, ob bezogen auf den nach dem Gesetzeswortlaut des § 34 SGB II ohne zeitliche Begrenzung bestehenden Ersatzanspruch inzwischen eine die maßgebende Kausalität zwischen dem Fehlverhalten und der Notwendigkeit der Gewährung von Leistungen nach dem SGB II unterbrechende Zäsur eingetreten ist. Dieses ist jedoch erst mit der Aufnahme einer erneuten Erwerbstätigkeit ab dem 1. November 2019 der Fall gewesen (vgl. Aufhebungsbescheid vom 1. Oktober 2019) und alle durch die o.a. Bescheide erfassten Zeiträumen liegen vor diesem Zeitpunkt.

Deshalb kann der vorliegende zu beurteilende Überprüfungsantrag vom 6. Oktober 2020 und damit auch die vorliegende Klage keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.