Sozialgericht Braunschweig
Urt. v. 06.09.2022, Az.: S 28 AS 1717/19

Bibliographie

Gericht
SG Braunschweig
Datum
06.09.2022
Aktenzeichen
S 28 AS 1717/19
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 70798
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGBRAUN:2022:0906.S28AS1717.19.00

In dem Rechtsstreit
A.
- Kläger -
Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt B.
gegen
Landkreis C.
- Beklagter -
hat die 28. Kammer des Sozialgerichts Braunschweig auf die mündliche Verhandlung vom 6. September 2022 durch den Vizepräsidenten des Sozialgerichts D. sowie die ehrenamtlichen Richter E. und F. für Recht erkannt:

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Berufung wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger wendet sich im Rahmen des Leistungsrechts nach dem SGB II gegen eine Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung für den Leistungsmonat Juli 2019 im Umfang von 373,98 € wegen einer stationären Unterbringung im Rahmen eines gerichtlich verfügten Jugendarrestes.

Der am 5. Februar 1998 geborene Kläger bezog Leistungen nach dem SGB II unter Berücksichtigung der Kosten für Unterkunft und Heizung von zusammen 420,00 € im Monat und der Regelsatzleistung ohne Anrechnung von Einkommen. Durch den Bewilligungsbescheid vom 15. März 2019 wurden u.a. für den Leistungsmonat Juli 2019 Leistungen in Höhe von 863,00 € bewilligt.

Am 17. Juli 2019 teilte der Betreuer des Klägers dem Beklagten mit, dass sich der Kläger seit dem 17. Juli 2019 bis voraussichtlich 31. Juli 2019 in der Jugendarrestanstalt G. befinden werde. Zu diesem Zeitpunkt waren die Leistungen für Juli 2019 bereits ausgezahlt. Am 5. September 2019 reichte der Betreuer die Haftbescheinigung für diesen Zeitraum nach.

Nach vorheriger Anhörung hob der Beklagte durch den hier streitigen Bescheid vom 16. September 2019 die Bewilligung für den Leistungsmonat Juli 2019 teilweise im Umfang von insgesamt 402,74 € gestützt auf § 48 SGB X auf und begehrte eine entsprechende Erstattung. Diese Aufhebung erfolgte wegen der Verbüßung von Jugendarrest in der Zeit vom 1. Juli 2019 bis 31. Juli 2019 in der Jugendarrestanstalt G..

Auf den hiergegen eingelegten Widerspruch vom 1. Oktober half der Beklagte durch den Widerspruchsbescheid vom 19. November 2019 teilweise ab, weil der Entlassungstag am 31. Juli 2019 herausgerechnet wurde. Dadurch reduzierte sich der Aufhebungs- und Erstattungsbetrag für Juli 2019 auf 373,98 €. Ergänzend betonte der Beklagte, dass die teilweise Aufhebung für die Zeit der Haft gerechtfertigt sei und sich der Kläger nicht auf Vertrauensschutz berufen könne.

Hiergegen hat der Kläger am 9. Dezember 2019 beim Sozialgericht Braunschweig Klage eingereicht. Zur Begründung verweist er im Wesentlichen darauf, dass es sich beim Jugendarrest nach § 13 JGG nicht um eine Haftstrafe handele und deshalb die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 4 SGB II nicht greife. Hierzu beruft er sich auf Entscheidungen des Sozialgerichts Gießen vom 1. März 2010 - S 29 AS 1053/09 -, des Sozialgerichts Dresden vom 27. Januar 2014 - S 7 AS 1567/13 - und des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 24. September 2014 - L 4 AS 318/13 -. In der mündlichen Verhandlung führt er ergänzend aus, dass das vom erkennenden Gericht eingeführte Urteil des Bundessozialgerichts vom 5. August 2021 - B 4 AS 58/20 R - zur Zurückstellung einer Strafvollstreckung zugunsten einer stationären Entwöhnungsbehandlung nicht auf den hier zu beurteilenden Fall eines Jugendarrestes übertragbar sei.

Der Kläger beantragt,

den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 16. September 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. November 2019 aufzuheben

und für den Fall der Klagabweisung die Berufung zuzulassen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte ist weiterhin der Auffassung, dass auch im Falles einer richterlich angeordneten Freiheitsentziehung in Form eines Jugendarrestes die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 4 SGB II greife.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen. Diese Unterlagen sind ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid des Beklagten vom 16. September 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. November 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Aufhebung dieser Entscheidung.

Nach § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II in Verbindung mit § 330 Abs. 3 Satz 1 und 4 SGB II in Verbindung mit § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X ist ein begünstigender Verwaltungsakt auch mit Wirkung für die Vergangenheit bzw. mit Wirkung ab dem Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben. Diese Voraussetzungen sind erfüllt.

Hinsichtlich der ursprünglichen Regelung für den Leistungsmonat Juli 2019 durch den Bescheid vom 15. März 2019 war durch die Inhaftierung zum Vollzug eines Jugendarrestes nachträglich eine relevante wesentliche Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X eingetreten, weil zur Überzeugung des erkennenden Gerichts auch beim Vollzug eines Jugendarrestes die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II greift. Darüber hinaus sind auch zumindest die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB X erfüllt, weil der Kläger einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse (vgl. hier § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB I) zumindest rechtzeitig vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist. Bei rechtzeitiger Mitteilung des gerichtlich angeordneten Antritts des Jugendarrestes ab dem 17. Juli 2019 hätte nämlich noch die Auszahlung der Leistung für den Leistungsmonat Juli 2019 gestoppt werden können.

Auch für den hier zu beurteilenden Jugendarrest greift die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 4 SGB II. Nach § 7 Abs. 4 SGB II erhält Leistungen nach diesem Buch nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher Art bezieht. Dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung ist der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt (die Sätze 3 und 4 sind hier nicht einschlägig).

Der Jugendarrest ist ein Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung. Schon vom Wortlaut her ist der Wortlaut des § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II insoweit eindeutig. Das Bundessozialgericht (BSG) betont insoweit in seinem Urteil vom 5. August 2021 - B 4 AS 58/20 R - Rn. 23, einsehbar in juris, dass der Ausschluss nach § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II allein davon abhängt, ob sich der Betroffene in einer Einrichtung und (weiterhin) "im Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung" befindet. Bezüglich des Einrichtungsbegriff ist auf den sozialhilferechtlichen Einrichtungsbegriff des § 13 SGB XII zurückzugreifen (vgl. Rn. 25). Die Einrichtung im Sinne von § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II muss nicht zwingend eine JVA oder eine solche Einrichtung sein, in der ausschließlich richterlich angeordnete Freiheitsentziehungen stattfinden. Deshalb spricht gegen einen "Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung" nicht, dass der Gesetzgeber z.B. Fallgestaltungen des § 35 BtMG nicht ausdrücklich aufgenommen hat (vgl. Rn. 27). Im dort entschiedenen Fall befand sich der Kläger auch weiterhin im "Vollzug" einer richterlich angeordneten Freiheitsentziehung im Sinne des § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II, obgleich die Strafvollstreckung zwecks Durchführung einer Therapie zurückgestellt worden war (vgl. Rn. 28). In diesem Sinne hatte auch bereits im vorangegangenen Berufungsverfahren das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen im Urteil vom 25. Juni 2020 - L 19 AS 1426/19 -, einsehbar in juris, entschieden. Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat in diesem Urteil vom 25. Juni 2020 - L 19 AS 1426/19 - Rn. 53 auch ausdrücklich entschieden, dass Einrichtungen zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehungen u.a. Justizvollzugsanstalten, Untersuchungsgefängnisse, Jugendarrestanstalten, psychiatrische Krankenhäuser und Entziehungsanstalten sind.

Der Kläger war in einer Justizvollzugsanstalt bzw. einer Jugendarrestanstalt untergebraucht, sodass an der Erfüllung der Merkmale des Einrichtungsbegriffs keine Bedenken bestehen. Dieser Aufenthalt ist auch als "Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung" anzusehen. Auch aus dem Wesen des Jugendarrestes, hier teilweise auch als Beugearrest wegen versäumter gemeinnütziger Arbeit, ergibt sich keine andere Einschätzung. Es bleibt bei einer Freiheitsentziehung, die noch nicht einmal so stark gelockert ist wie bei einer vorübergehenden Strafaussetzung zur Durchführung einer Entziehungstherapie in einer Einrichtung. Dem Charakter als Freiheitsentziehung steht auch nicht entgegen, dass nach § 13 JGG ein Jugendarrest als Zuchtmittel und nicht als Strafvollzug anzusehen ist. Denn für Sinn und Zweck der Ausschlussregelung des § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II ist dieser Unterschied nicht entscheidend. Maßgebend für diese Ausschussregelung ist, dass der Betroffene für Maßnahmen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt (vgl. z.B. § 1, § 2 und §§ 14 ff. SGB II) während seines Aufenthaltes in dieser Einrichtung nicht zur Verfügung steht. Deshalb vermag das erkennende der Rechtsprechung in den von der Klägerseite eingeführten Entscheidungen nicht zu folgen. Entscheidend ist allein mit der o.a. Rechtsprechung des BSG, dass der Aufenthalt in der Einrichtung "zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung" erfolgte. Dem Hintergrund für diese Freiheitsentziehung kommt dabei keine entscheidende Bedeutung zu.

Deshalb ist die Aufhebungsregelung bezogen auf den Leistungsmonat Juli 2019 rechtmäßig und nicht aufzuheben.

Der Höhe nach ist der Aufrechnungsbetrag im Rahmen der Entscheidung über den Widerspruch zutreffend berechnet worden.

Die Erstattungsregelungen beruhen auf § 50 SGB X:

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Berufung ist nicht statthaft, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes 750,00 € nicht übersteigt und der Rechtsstreit auch nicht laufende oder wiederkehrende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft (vgl. zum Maßstab § 144 Abs. 1 SGG); bei dieser zeitlichen Dauer werden Bezugszeiträume verschiedener prozessualer Ansprüche nicht zusammengerechnet, sondern sind getrennt zu betrachten (vgl. BSG, Urteil vom 30. Juni 2021 - B 4 AS 70/20 R - Rn. 26, juris). Außerdem liegen Zulassungsgründe nach § 144 Abs. 2 SGG nicht vor. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BSG im Urteil vom 5. August 2021 - B 4 AS 58/20 R - ist zur Überzeugung des erkennenden Gerichts auch die hier relevante Einordnung einer Unterbringung in einer stationären Einrichtung des Jugendarrestes geklärt.