Sozialgericht Braunschweig
Urt. v. 16.02.2022, Az.: S 54 KR 103/21
Bibliographie
- Gericht
- SG Braunschweig
- Datum
- 16.02.2022
- Aktenzeichen
- S 54 KR 103/21
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2022, 59265
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Tenor:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 353,58 € nebst Zinsen in Höhe von 2 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 10. Dezember 2020 zu zahlen.
Die Widerklage wird abgewiesen.
Der Streitwert wird auf 707,16 € festgesetzt.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Vergütung einer Krankenhausbehandlung.
Die bei der beklagten Krankenkasse versicherte G. (im Weiteren auch: Versicherter) wurde in der Zeit vom 30. März 2016 bis 5. April 2016 im Krankenhaus der Klägerin stationär behandelt.
Die Klägerin liquidierte am 11. Mai 2016 gegenüber der Beklagten die Fallpauschale DRG B48Z in Höhe von insgesamt 6518,32 €. Die Rechnung weist u. a. die Kodierung von OPS 8-559.41 aus. Die Beklagte glich den Rechnungsbetrag ohne Überprüfung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) nur in Höhe von 6164,74 € aus. Die Abrechnung des OPS 8-559.- (Fachübergreifende und andere Frührehabilitation) könne nicht erfolgen, da es sich gemäß den DTA-Daten um eine neurologische Patientin handele.
Die Klägerin hat am 30. Januar 2018 Klage vor dem Sozialgericht Braunschweig unter dem Aktenzeichen S 40 KR 82/18 (jetzt S 40 KR 458/20 WA) erhoben. Die Beklagte sei verpflichtet, auch den Restbetrag von 353,74 € nebst Zinsen zu zahlen. Die Beklagte trägt vor, die Klägerin habe keinen Versorgungsauftrag für die Erbringung neurologischer Leistungen.
Ende November 2020 hat die Beklagte die dortige Hauptforderung nebst Zinsen bezahlt. Das Klageverfahren ist immer noch anhängig. Es konnte mangels Einverständnis der Beteiligten weder durch angenommenes Anerkenntnis noch durch beiderseitige Erledigungserklärung beendet werden.
Am 4. Dezember 2020 behielt die Beklagte den Betrag von 353,58 € von einer unstreitigen Forderung der Klägerin aus einem aktuellen Behandlungsfall ein. Es sei eine Aufrechnung mit dem öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch wegen ungerechtfertigter Bereicherung nach § 812 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) aus der Zahlung des Behandlungsfalls G.. Der MDK ist nicht eingeschaltet worden, weil mangels Versorgungsvertrag für die Erbringung neurologischer Leistungen das Krankenhaus der Klägerin bereits aus rein rechtlichen Gründen nicht hätte abrechnen dürfen. Aus dem übermittelten Datensatz sei zu erkennen, dass es sich nicht um einen Notfall gehandelt habe.
Die Klägerin hat dagegen am 9. Februar 2021 zum hiesigen Aktenzeichen Klage erhoben. Die Beklagte sei nicht zur Aufrechnung berechtigt gewesen. Der Behandlungsfall der Versicherten sei ordnungsgemäß abgerechnet worden. Außerdem seien die Formalien des Niedersächsischen Sicherstellungsvertrags und der Prüfverfahrensvereinbarung nicht eingehalten, weil keine MDK-Prüfung stattgefunden habe. Aus dem Datensatz nach § 301 SGB V könne man nicht erkennen, ob es sich um einen neurologischen Notfall gehandelt habe. Das hätte medizinisch vom MDK anhand der Patientenakte geprüft werden müssen. Der von der Beklagten gerügte OPS 8-559.41 sei außerdem gar kein neurologischer OPS. Warum die Beklagte bei ihrer Argumentation überhaupt etwas auf die Rechnung gezahlt habe erschließe sich nicht. Zudem sei die angebliche Aufrechnungsforderung bereits verjährt. Der Anspruch sei aber jedenfalls erloschen, denn eine gerichtliche Geltendmachung hätte vor dem 9. November 2018 erfolgen müssen.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 353,58 € nebst Zinsen in Höhe von 2 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 10. Dezember 2020 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen,
hilfsweise, die Klägerin und Widerbeklagte zu verurteilen, an die Beklagte und
Widerbeklagte den Betrag von 353,58 € nebst 2 Prozentpunkten Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen
und weiter hilfsweise, die Berufung zuzulassen.
Sie ist der Auffassung, die Klage sei bereits unzulässig wegen doppelter Rechtshängigkeit. Auch fehle der Klägerin das Rechtsschutzbedürfnis, da sie ja das Klageverfahren S 40 KR 458/20 WA weiter betreiben könne. Zudem sei die Rechnungskürzung zu Recht erfolgt, da die Voraussetzungen für die Abrechnung des Kodes OPS 8-559.- nicht gegeben seien. Die Widerklage sei zulässig und begründet. Der Beklagten stehe ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch zu, da die Behandlung nicht vollständig vom Versorgungsauftrag der Klägerin gedeckt sei und die Abrechnungsvoraussetzungen nach dem Wortlaut des hier strittigen OPS nicht im vollen Umfang von der Klägerin erfüllt werden können.
Wegen der näheren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten nebst Beiakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist als echte Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig.
Bei einer auf Zahlung von Behandlungskosten von Versicherten gerichteten Klage des Krankenhausträgers gegen eine Krankenkasse geht es um einen Parteienstreit im Gleichordnungsverhältnis, in dem eine Regelung durch Verwaltungsakt nicht in Betracht kommt (BSG, SozR 4-2500 § 39 Nr. 1 Rdnr. 6 m.w.N.). Ein Vorverfahren ist nicht durchzuführen, eine Klagefrist nicht einzuhalten.
Die Klage ist nicht wegen doppelter Rechtshängigkeit unzulässig. Klagegegenstand ist hier die Zahlung der Rechnung für den unstreitigen Behandlungsfall, mit dem der streitige Rückzahlungsanspruch wegen ungerechtfertigter Bereicherung aus dem Behandlungsfall G. aufgerechnet wurde. Das ergibt sich unzweifelhaft aus dem Klageschriftsatz, mit dem die Rechtswidrigkeit der Aufrechnung und damit die Nichtzahlung der unstreitigen Rechnung(en) gerügt wurde. Klagegegenstand im Verfahren S 40 KR 458/20 WA ist der unmittelbare Anspruch der Klägerin auf Zahlung der Rechnung für den Behandlungsfall G.. Zwar muss im Rahmen der Prüfung der Aufrechnungslage vorliegend inzident festgestellt werden, ob es eine Rückzahlungsverpflichtung der Klägerin für die von der Beklagten im November 2020 geleistete Zahlung gibt. Das ändert aber nichts daran, dass es um die Zahlung einer anderen Rechnung als der für den Behandlungsfall G. geht. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Streitgegenstände. So ganz unmissverständlich BSG, Urteil vom 10.11.2021 –B 1 KR 9/21 R-, Rdnr.9.
Das Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin entfällt nicht dadurch, dass der Rechtsstreit S 40 KR 458/20 WA noch anhängig ist. Der Ausgang beider Rechtsstreite ist von unterschiedlichen Faktoren abhängig. So ist z. B. die Prüfung der Aufrechnungslage nur im hiesigen Klageverfahren relevant. Der Klägerin bleibt es frei, unterschiedliche Streitgegenstände mit unterschiedlichen Klagen einzuklagen. Möglicherweise hätte sie mit Zustimmung der Beklagten in S 40 KR 458/20 WA nach § 99 SGG eine Klageänderung erwirken können. Das hat sie aber nicht gemacht und es gibt dafür auch keine Verpflichtung. Eine Klageänderung auf Verlangen der Beklagten kennt das SGG nicht. Auch keine aufgedrängte Klageänderung von Amts wegen. Die Erklärung der Klägerin, keine Klageänderung zu wollen, muss genauso respektiert werden wie die Erklärung der Beklagten, trotz vollständiger Zahlung kein Anerkenntnis abgeben zu wollen (siehe zum Anerkenntnis BSG, Urteil vom 17.09.2020 –B 4 AS 13/20 R-, Rdnr.23 und 24). Im Verfahren S 40 KR 458/20 WA ist nur noch die Frage strittig, ob sich das Klageverfahren durch die Zahlung der Beklagten erledigt hat. Eine Rückabwicklung kann die Beklagte nicht erreichen und die Klägerin hat kein Interesse daran, dort klären zu lassen, ob die Zahlung zu Recht erfolgt ist.
Der Einwand der Beklagten, die Zahlung sei nur unter Vorbehalt erfolgt, verfängt nicht.
Die Beklagte kann nicht in einem laufenden Klageverfahren den auf Zahlung gerichteten Klageanspruch ausgleichen und behaupten, es handele sich nur um eine Zahlung unter Vorbehalt mit der Folge, dass der Rechtsstreit fortgeführt werden müsse und zugleich behaupten, aus der Zahlung resultiere ein Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung aus dem ein Recht zur Aufrechnung mit einem anderen Behandlungsfall resultiere.
Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin hat gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Zahlung von 353,58 € für die bei anderen Versicherten erbrachte Krankenhausbehandlung.
Zwischen den Beteiligten ist nicht streitig, dass der Klägerin aufgrund der Behandlung anderer Versicherter zunächst ein Anspruch auf die dort abgerechnete Vergütung zustand. Eine nähere Prüfung erübrigt sich insoweit (vgl. zur Zulässigkeit dieses Vorgehens BSG, Urteil vom 01. Juli 2014 – B 1 KR 24/13 R –, SozR 4-2500 § 301 Nr 2, Rdnr. 8, m.w.N.).
Der unstreitige Anspruch der Klägerin auf Vergütung für die Krankenhausbehandlung dieser anderen Versicherten erlosch nicht dadurch, dass die Beklagte mit dem hier strittigen Erstattungsanspruch wegen Überzahlung der Vergütung für die Krankenhausbehandlung der Versicherten aufrechnete.
Die Beklagte hätte den strittigen Aufrechnungsanspruch nicht vor dem 9. November 2018 gerichtlich geltend machen müssen. Die Geltendmachung von Ansprüchen der Krankenkassen auf Rückzahlung von geleisteten Vergütungen, die erst nach dem 9. November 2018 gerichtlich geltend gemacht wurden ist gemäß § 325 SGB V nur ausgeschlossen, soweit diese Ansprüche vor dem 1. Januar 2017 entstanden sind. Zwar handelt es sich im Ausgangsstreit um einen Behandlungsfall aus 2016. Logischerweise kann der Ausschluss aber nicht Ansprüche betreffen, die erst nach dem 9. November 2018 entstanden sind. Der von der Beklagten behauptete Anspruch, mit dem sie aufgerechnet hat, ist erst mit der Zahlung im November 2020 entstanden.
Die von der Beklagten erklärte Aufrechnung ist aber unwirksam. Die Voraussetzungen des § 387 BGB liegen nicht vor. Der Vergütungsanspruch der Klägerin und der von der Beklagten aufgerechnete öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch sind zwar dem Grunde nach gegenseitig und gleichartig, der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch war aber gar nicht entstanden und deshalb auch nicht fällig.
Der Beklagten steht der behauptete öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch wegen ungerechtfertigter Bereicherung nach § 812 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) nicht zu.
Wer durch die Leistung eines anderen auf dessen Kosten etwas ohne rechtlichen Grund erlangt, ist ihm gemäß § 812 Satz 1 BGB zur Herausgabe verpflichtet. Diese Verpflichtung besteht gemäß § 812 Satz 2 BGB auch dann, wenn der rechtliche Grund später wegfällt.
Die Beklage hat an die Klägerin im November 2020 als Restzahlung auf die Rechnung der Klägerin vom 11. Mai 2016 (Behandlungsfall G.) einen Betrag von 353,58 € gezahlt.
Dazu war sie nach § 13 Absatz 6 Satz 1 des Niedersächsischen Krankenhaussicherstellungsvertrags von 1992 verpflichtet. Das ist ständige Rspr. der erkennenden Kammer.
§ 13 Abs. 6 Nds.SV regelt in Satz 1 eindeutig, dass die Krankenkasse die Rechnung unverzüglich nach Rechnungsdatum zu bezahlen hat. Dieser vertraglichen Verpflichtung ist die Beklagte zunächst nicht (vollständig) nachgekommen. Auf die Frage der rechnerischen oder sachlichen Richtigkeit der Rechnung kommt es deshalb hier nicht an.
Der Nds.SV ist auch für die Beteiligten unmittelbar gültig. Dort heißt es in der Einleitung: „Die niedersächsische Krankenhausgesellschaft und……, der AOK-Landesverband Niedersachsen ,….. schließen folgenden Vertrag…“. Die Klägerin ist Mitglied der niedersächsischen Krankenhausgesellschaft und die Beklagte ist gleichzeitig ihr Landesverband.
Bereits mit Urteil vom 23.07.2002 (B 3 KR 64/01 R) hat das BSG zu einer dem § 13 Abs. 6 Nds. SV inhaltsgleichen Regelung des Rheinland-Pfälzischen KBV von 1991 entschieden, Zweifel an der Krankenhausrechnung würden der Krankenkasse kein Recht geben, die Zahlung (des Differenzbetrags) zu verweigern, bis diese Zweifel ausgeräumt sind. Der Behandlungspflicht des § 109 Abs. 4 Satz 2 SGB V steht der Vergütungsanspruch gegenüber.
Auch Scholz in jurisPK-SGB V (Schlegel, Engelmann, Voelzke) fasst in der Kommentierung zu § 275c SGB V unter Rdnr. 8 zusammen: „…ist es einer Krankenkasse nicht gestattet, bei beanstandeten Rechnungen lediglich den unbestrittenen Teil der Forderung gleichsam als Vorschusszahlung unter Zurückbehaltung des bestrittenen Anteils bis zur abschließenden Klärung zu leisten“.
Auch der Bundesgesetzgeber hat mittlerweile dem Grundsatz der Krankenhausliquiditätsgewährleistung zweifach Rechnung getragen.
Erstens wurde die unbedingte Zahlungsverpflichtung gesetzlich geregelt. In dem vom 27. März 2020 bis 19. Oktober 2020 geltenden § 330 SGB V und im ab 20. Oktober 2020 geltenden § 417 SGB V (ab 9. Juni 2021 § 415 SGB V) heißt es jeweils in den Sätzen 1, dass die von den Krankenhäusern erbrachten und in Rechnung gestellten Leistungen von den Krankenkassen innerhalb von fünf Tagen nach Rechnungseingang zu bezahlen sind.
Zweitens wurde die Möglichkeit der Aufrechnung bis auf wenige Ausnahmen gestrichen (§ 109 Absatz 6 SGB V). Das hätte nicht geregelt werden müssen, wenn es keine unbedingte Zahlungspflicht nach Rechnungserteilung gäbe.
Die Beklagte konnte und kann sich nicht darauf berufen, sie müsse nicht zahlen, wenn die Rechnung fehlerhaft ist. Für solche Fälle steht ihr gemäß § 13 Abs. 6 Satz 5 Nds.SV die Möglichkeit der Verrechnung (korrekt: Aufrechnung) zur Verfügung. Auch der darauf folgende Einwand, nach jahrtausendealten Rechtsgrundsätzen müsse nichts gezahlt werden, was unmittelbar danach wieder zurückgezahlt werden müsse, verfängt nicht. Dieses Verbot der unzulässigen bzw. arglistigen Rechtsausübung (dolo agit…) ist hier nicht einschlägig. Die Regelung in § 13 Abs. 6 Satz 5 Nds.SV wäre sonst überflüssig. Insofern unterscheidet sich das System der Krankenhausabrechnung erheblich vom Zivilrecht zwischen Privatparteien. Die vertraglichen Abweichungen vom Recht des BGB sind unzweifelhaft zulässig. Im Übrigen ist schon fraglich, ob der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung erhoben werden könnte. Zur Rückzahlung wäre die Klägerin nämlich nicht unmittelbar verpflichtet, sondern erst nach Feststellung der Fehlerhaftigkeit der Rechnung. Das ist regelmäßig ein Zeitpunkt nach Prüfung durch den MDK.
Das Argument der Beklagten, die Fehlerhaftigkeit einer Rechnung führe per se dazu, dass sie nicht fällig sei, führt zu keinem anderen Ergebnis. § 13 Abs. 6 Satz 1 Nds.SV definiert die Fälligkeit nur nach dem Datum. Auch aus §§ 330, 417, 415 SGB V ergibt sich nichts Anderes. Dafür, dass Fälligkeit der Rechnung nicht eingetreten ist, weil der Datensatz nach § 301 SGB V nicht vollständig gewesen war, gibt es keine Anhaltspunkte.
Möglicherweise könnten die Einwände verfangen, wenn die Fehlerhaftigkeit der Rechnung auf der Hand liegen würde, also offenkundig ist. Ein Beispiel dafür wäre die Abrechnung der Fallpauschale O60A bei einem Mann. Solche offenkundigen Fehler dürften aber extrem selten sein und müssen wohl kaum vor Gericht streitig ausgefochten werden. Hier ist das jedenfalls nicht der Fall, denn im (materiell-rechtlichen) Streit ist die Frage, ob die Voraussetzungen für die Abrechnung von neurologischen Komplexleistungen vorliegen. Das Ergebnis dieses Streits ist in Anbetracht der Komplexität keinesfalls offenkundig. Zahlreiche Rechtsstreite sind vor dem Sozialgericht Braunschweig dazu anhängig.
Die Zahlungsanspruchsgrundlage des § 13 Abs. 6 Satz 1 Nds.SV würde völlig leerlaufen, wenn der Einwand der fehlerhaften Rechnung den Zahlungsanspruch ausschließen würde. Der zwischen den Krankenkassen und den Krankenhäusern geschlossene „Vertrag zu den Bereichen des § 112 Abs. 2 Ziffer 1,2,4 und 5 SGB V“ wird nicht umsonst von allen Beteiligten „Sicherstellungsvertrag“ genannt. Seine Regelungen sollen nämlich die Krankenhäuser vor Liquiditätsengpässen schützen und damit die Krankenhausversorgung der Versicherten sicherstellen. Diesem Schutzgedanken widerspricht es, den Krankenkassen die Deutungshoheit über die Richtigkeit einer Krankenhausrechnung und damit die Berechtigung zur Zahlungsverweigerung von Anfang an zuzuschreiben. Die Zahlungsregelung ist auch Ausgleich für die unbedingte Verpflichtung der Krankenhäuser zur medizinischen Versorgung der Versicherten. Die Krankenhäuser gehen als Leistungserbringer in Vorleistung und müssen dafür die Sicherheit haben, ihre Rechnungen zunächst ausgeglichen zu bekommen.
Wenn die am Krankenhaus-Vergütungssystem Beteiligten eine andere Zahlungsregelung wollten, könnten Sie dies vertraglich vereinbaren. Seit nunmehr fast 30 Jahren scheint es dafür aber keine Veranlassung gegeben zu haben. Ob eine vertragliche Regelung entgegen § 415 SGB V überhaupt möglich wäre muss hier nicht entschieden werden.
Diese sich aus alledem ergebende Zahlungsverpflichtung sieht mittlerweile wohl auch die Beklagte. Die Zahlung im Klageverfahren S 40 KR 458/20 WA erfolgte unter Hinweis auf die Rechtsprechung der erkennenden Kammer und deren Bestätigung durch die zuständigen Senate des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen.
§ 812 Satz 1 BGB ist also nicht einschlägig.
Der rechtliche Zahlungsgrund ist auch nicht später weggefallen (§ 812 Satz 2 BGB). Das könnte nur der Fall sein, wenn sich nach Einhaltung aller zwischen den Beteiligten geltenden Abrechnungsbestimmungen und Abrechnungsprüfungsformalien die Fehlerhaftigkeit der Rechnung und eine sich daraus resultierende Rückzahlungsverpflichtung ergeben würde. Das ist nicht der Fall.
Die von der Klägerin zu beanspruchende Krankenhausvergütung bemisst sich nach vertraglichen Fallpauschalen auf gesetzlicher Grundlage. Rechtsgrundlage ist (für den Behandlungsfall G.) § 109 Abs. 4 Satz 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) i.V.m. §§ 7 Abs.1, 9 Abs. 1 Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG) und § 17 b Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG), die Vereinbarung zum Fallpauschalensystem für das Jahr 2016 sowie der Niedersächsische Sicherstellungsvertrag vom 1. November 1992 (SV) in der Fassung vom Juni 1996. Im Zahlungsverkehr zwischen den Beteiligten ist der SV und die „Vereinbarung über das Nähere zum Prüfverfahren nach § 275 Absatz 1c SGB V (Prüfverfahrensvereinbarung – PrüfvV) gemäß § 17c Absatz 2 KHG“ in der vom 01.01.2015 bis 31.12.2016 gültigen Fassung zu beachten.
Danach war der stationäre Krankenhausaufenthalt der Versicherten von der Klägerin mit der Fallpauschale DRG B48Z in Höhe von insgesamt 6518,32 € abgerechnet worden. Unstreitig enthält der Datensatz nach § 301 SGB V alle erforderlichen Daten.
Wenn die Beklagte Zweifel an der Richtigkeit der von der Klägerin in das Programm zur Berechnung der Fallpauschale (Grouper) eingegebenen Daten hatte, hätte sie den Medizinischen Dienst (MDK, seit 2021 MD) einschalten müssen.
§ 275 Absatz 1 Satz 1 SGB V bestimmt in allen seit 01.01.2012 gültigen Fassungen, dass die Krankenkassen in den gesetzlich bestimmten Fällen oder wenn es nach Art, Schwere, Dauer oder Häufigkeit der Erkrankung oder nach dem Krankheitsverlauf erforderlich ist, verpflichtet ist, (Nr.1) bei Erbringung von Leistungen, insbesondere zur Prüfung von Voraussetzungen, Art und Umfang der Leistung, sowie bei Auffälligkeiten zur Prüfung der ordnungsgemäßen Abrechnung eine gutachtliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes einzuholen. Es liegt ein gesetzlich bestimmter Fall gemäß § 275 Absatz 1 Satz 1 (ganz am Anfang) SGB V vor. § 275 Absatz 1c Satz 1 SGB V (gültig bis 31.12.2019) besagt: „Bei Krankenhausbehandlung nach § 39 ist eine Prüfung nach Absatz 1 Nr. 1 zeitnah durchzuführen.“
Die Beklagte ist ihrer Verpflichtung zur Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme des Medizinischen Dienstes bis heute nicht nachgekommen. Sie ist deshalb mit allem medizinischen Vorbringen gegen die Richtigkeit der Krankenhausabrechnung präkludiert. Das ergibt sich aus der aktuellen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Wenn jegliches Vorbringen des Krankenhauses auf der Grundlage von Patientenunterlagen, die dem MDK nicht rechtzeitig auf Aufforderung vorgelegt wurden präkludiert ist muss das aus Gründen der prozessualen Waffengleichheit auch für die Krankenkassen gelten, wenn sie den MDK gar nicht erst beauftragt haben. Die Krankenkasse kann dann gegen die Richtigkeit der Krankenhausrechnung nur nichtmedizinische Gründe (z. B. Rechenfehler, offenkundige Zahlendreher, falsche Patientendaten und reine Rechtsfragen) vorbringen.
Das Argument, OPS 8-559.- (Fachübergreifende und andere Frührehabilitation) könne vom Krankenhaus der Klägerin nicht abgerechnet werden, da es sich um eine neurologische Patientin handele, ist kein rein rechtliches Argument. Ob es sich um eine neurologische Behandlung gehandelt hat oder nicht kann zwar an der Hauptdiagnose erkannt werden. Das gilt aber nur, wenn diese medizinisch anhand der Patientenakte bestätigt wird. Zwar besitzt die Klägerin keinen Versorgungsauftrag für die Erbringung von neurologischen Leistungen. Ohne medizinische Expertise nach Prüfung der Patientenakte lässt sich aber auch nicht feststellen, ob die mit OPS 8-559.- kodierte fachübergreifende und andere Frührehabilitation eine neurologische Leistung war, die dem Versorgungsvertrag unterfällt. Möglicherweise ist auch falsch kodiert worden und es hätte OPS 8-552.- (Neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation) abgerechnet werden müssen. Auch das lässt sich aber nur medizinisch überprüfen. Das Gleiche gilt für die Frage, ob es sich um eine Notfallbehandlung gehandelt hat. Die Verschlüsselung im Datensatz nach § 301 SGB V gibt dazu nur erste Hinweise. Es liegt auf der Hand, dass bei der Eingabe des Aufnahmegrundes (01 für Normalfall und 07 für Notfall) Tippfehler auftreten können.
Die beklagte Krankenkasse kann sich nicht darauf berufen, die Klägerin rechne in einer großen Vielzahl unberechtigterweise neurologische Leistungen ohne Versorgungsauftrag ab. Selbst wenn das so sein sollte entbindet es die Krankenkasse nicht von der Verpflichtung, den MDK zu beauftragen. Zwar ist die Anzahl der Prüfaufträge durch die in § 275c SGB V festgelegten Prüfquoten begrenzt. Die Vorschrift gilt aber erst seit 01.01.2020 und ist von den Beteiligten auch zu beachten, wenn sie sie für falsch halten.
Da keine MDK-Begutachtung stattgefunden hat kann sich die Beklagte nicht auf den Wegfall der Zahlungsverpflichtung berufen.
Auf den von der Klägerin vorgebrachten Einwand der Verjährung kommt es nach alledem nicht mehr an. Er wäre aber unbeachtlich gewesen, denn Verjährungsbeginn wäre das Datum der (ursprünglich streitigen) Restzahlung gewesen. Das war im November 2020. Die zweijährige Verjährung des § 109 SGB V war also bei der Aufrechnung am 4. Dezember 2020 noch lange nicht abgelaufen.
Die Verzinsung ergibt sich aus § 13 Abs. 7 Nds. SV, der Zinsbeginn aus § 417 Satz 1 SGB V in der vom 19.11.2020 bis 08.06.2021 gültigen Fassung vom 18.11.2020), wobei auf die Rechnungen abzustellen ist, mit denen die Beklagte aufgerechnet hat, denn diese sind es, die nicht vollständig beglichen wurden. Zwar ist nicht bekannt, von wann diese Rechnungen waren, sie können aber kein späteres Datum als das Aufrechnungsdatum 4. Dezember 2020 haben. Verzinsungsbeginn ist also auf jeden Fall mindestens der beantragte 10. Dezember 2020.
Ob die Widerklage zulässig ist kann dahingestellt bleiben. Sie ist jedenfalls unbegründet.
Der mit der Widerklage geltend gemacht Anspruch muss zwar im Zusammenhang mit dem Klageanspruch stehen. Er darf aber nicht deckungsgleich sein. Ob Letzteres der Fall ist lässt sich dem Vorbringen der Widerklägerin nicht eindeutig entnehmen. Die Zulässigkeit einer für den Fall der Klageabweisung erhobenen Widerklage ist umstritten.
Die Widerklage ist unbegründet, weil der von der Widerklägerin geltend gemachte öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch nicht besteht (siehe oben).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung.
Die Entscheidung über den Streitwert folgt aus § 197 a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 63 Abs. 2, § 52 Abs. 1 und 3 Gerichtskostengesetz, wobei der Streitwert von Klage und Widerklage zusammenzurechnen waren.
Die Berufung war zuzulassen, weil es sich um eine Rechtsfrage handelt, deren Ergebnis sich auf zahlreiche andere hier am Gericht anhängige Verfahren auswirkt.