Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 09.04.2024, Az.: 2 ORs 29/24

Verurteilung wegen des Gebrauchs eines unrichtigen Gesundheitszeugnisses im Falle einer ärztlich ausgestellten Impfunfähigkeitsbescheinigung

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
09.04.2024
Aktenzeichen
2 ORs 29/24
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2024, 13811
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2024:0409.2ORS29.24.00

Verfahrensgang

vorgehend
AG Stolzenau - 23.10.2023 - AZ: 4 Cs 76/23

Fundstellen

  • GesR 2024, 439-443
  • MedR 2024, 593-597

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Eine individualisierte, ärztlich ausgestellte (vorläufige) Impfunfähigkeitsbescheinigung ist ein Gesundheitszeugnis im Sinne des § 278 StGB.

  2. 2.

    Unrichtig im Sinne des § 279 StGB ist das Gesundheitszeugnis bereits dann, wenn die miterklärten Grundlagen der Beurteilung in einem wesentlichen Punkt nicht der Wahrheit entsprechen. Dies ist in der Regel dann gegeben, wenn die für die Beurteilung des Gesundheitszustands erforderliche ärztliche Untersuchung nicht durchgeführt wurde.

  3. 3.

    Für eine Strafbarkeit nach § 279 StGB ist es hingegen nicht erforderlich, dass das Gesundheitszeugnis eine unwahre Aussage über den Gesundheitszustand als solchen enthält (abweichend: BayOLG, Urteil vom 18.07.2022, Az. 2 StR 179/22).

In der Strafsache
gegen E. G.,
geboren am ...,
wohnhaft: ...,
- Verteidigerin: Rechtsanwältin Dr. M.-He., H. -
wegen Gebrauchs eines unrichtigen Gesundheitszeugnisses
hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Amtsgerichts Stolzenau - Strafrichter - vom 23.10.2023 in der Sitzung vom 09. April 2024, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht XXX
als Vorsitzende,
Richter am Oberlandesgericht XXX,
Richterin am Landgericht XXX
als beisitzende Richter,
Staatsanwalt XXX
als Beamter der Generalstaatsanwaltschaft,
Rechtsanwältin Dr. M.-H., H.,
als Verteidigerin,
Justizangestellte XXX
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:

Tenor:

Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Stolzenau zurückverwiesen.

Gründe

I.

Die Staatsanwaltschaft Verden warf der Angeklagten mit Strafbefehlsantrag vom 05.07.2023 vor, am 03.03.2023 in S. ein unrichtiges Gesundheitszeugnis im Sinne des § 279 StGB gebraucht zu haben, indem sie beim Landkreis Nienburg in dem gegen sie geführten Ordnungswidrigkeitenverfahren ein "Ärztliches Gutachten" über eine vermeintliche vorläufige Impfunfähigkeit ihrer Tochter vorgelegt habe, das - wie die Angeklagte gewusst habe - inhaltlich unrichtig sei, weil der Bescheinigung keinerlei ärztliche Untersuchung vorangegangen sei.

Das Amtsgericht Stolzenau hat den Strafbefehl unter dem 12.07.2023 zunächst antragsgemäß erlassen und gegen die Angeklagte eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 50 € verhängt. Hiergegen hat die Angeklagte unter dem 18.07.2023 form- und fristgerecht Einspruch eingelegt.

In der daraufhin anberaumten Hauptverhandlung am 23.10.2023 hat das Amtsgericht die Angeklagte mit dem angefochtenen Urteil vom Tatvorwurf des Gebrauchs eines unrichtigen Gesundheitszeugnisses aus rechtlichen Gründen freigesprochen.

Hiergegen wendet sich die Revision der Staatsanwaltschaft Verden, der die Generalstaatsanwaltschaft beigetreten ist. Die Revision erhebt die allgemeine Sachrüge und macht geltend, dass das Amtsgericht zu Unrecht davon ausgegangen sei, dass es sich bei dem von der Angeklagten beim Gesundheitsamt des Landkreises Nienburg eingereichten "Ärztlichen Gutachten" des Arztes Prof. Dr. S. nicht um ein unrichtiges Gesundheitszeugnis im Sinne des § 279 StGB handele.

Die Revision ist zulässig und hat auch in der Sache - vorläufig - Erfolg.

II.

Nach den Feststellungen des Amtsgerichts führte das Gesundheitsamt des Landkreises Nienburg Anfang des Jahres 2023 ein Ordnungswidrigkeitenverfahren wegen eines Verstoßes gegen die Masernimpfpflicht nach § 20 Abs. 8 IfSG gegen die Angeklagte, da diese sich weigerte, ihre am 23.08.2008 geborene Tochter E. G. gegen Masern impfen zu lassen. Die Angeklagte suchte daher, unter anderem im Internet, nach Möglichkeiten, der Impfpflicht zu entgehen, und stieß auf die Internetseite des in Ö. praktizierenden Arztes Prof. Dr. med. A. S. aus S. Auf dessen Internetseite konnte sich jeder gegen eine Gebühr von 20 € einen Text mit der Überschrift "Ärztliches Gutachten zur Impffähigkeit" herunterladen. In diesen Text trug die Angeklagte selbst die Daten ihrer Tochter ein und druckte diesen aus.

Dieses Formular versendete die Angeklagte anschließend mit einem Anschreiben an den Landkreis Nienburg. Dabei war der Angeklagten bewusst, dass es weder einen persönlichen noch einen telefonischen Kontakt zwischen ihr bzw. ihrer Tochter und dem Arzt und auch nie eine körperliche Untersuchung vor der Erstellung des "Gutachtens" gegeben hatte. Gleichwohl hielt die Angeklagte ihr Verhalten zumindest für nicht strafbewehrt und erhoffte sich, auf diesem Wege das Bußgeldverfahren zu einem für sie positiven Abschluss zu bringen.

Das von der Angeklagten versendete Gutachten hatte ausweislich des Urteils auszugsweise folgenden Wortlaut:

"Ärztliches Gutachten zur Impffähigkeit

mit einem monovalenten oder polyvalenten Masernvirus enthaltenden Impfstoff für nachfolgende Person:

Name, Vorname

G., E.

Anschrift Straße, HNr., PLZ, Ort

...

Datum der Bescheinigung

03.03.2023

Aufgrund meiner ärztlichen Einschätzung und Bewertung komme ich nach freiem Ermessen zu folgender gutachterlicher Einschätzung:

Bis zum Ausschluss einer möglichen, schwerwiegenden Allergie gegen einen der Inhaltsstoffe der in der EU zugelassenen monovalenten oder polyvalenten Masernvirus, Mumpsvirus, Rötelnvirus und Varizella-Virus enthaltenen Impfstoffen durch eine amtsärztlich veranlasste, allergologische Abklärung soll bei

E. G.

keine Impfung gegen das Masern-Virus erfolgen.

Bis zur o. g. Vorstellung und Abklärung durch ein allergologisches Zentrum und abschließende Feststellung einer Impfunfähigkeit durch einen Amtsarzt ist

E. G.

daher vorläufig impfunfähig.

Diese Bescheinigung gilt nur bis zu o. g. Abklärung, spätestens bis zum 03.09.2023.

Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich bei diesem Gutachten um ein schriftliches Gutachten aufgrund der vorliegenden Aktenlage ohne erneute (körperliche) Untersuchung handelt, und dass daher keine abschließende Beurteilung gegeben werden kann.

Ort, Datum

Salzburg, 03.03.2023

Name, Vorname der Ärztin/des Arztes:

S., A."

Der Landkreis Nienburg ließ das Gutachten nicht gelten und setzte das Ordnungswidrigkeitenverfahren zunächst unverändert fort.

III.

Das Amtsgericht hat die Angeklagte von dem gegen sie erhobenen Tatvorwurf aus rechtlichen Gründen freigesprochen.

Nach Auffassung des Amtsgerichts handelt es sich bei der eingereichten Bescheinigung nicht um ein unrichtiges Gesundheitszeugnis im Sinne des § 279 StGB. Zur Begründung führt das Amtsgericht hierzu aus, dass das Gutachten keine konkrete Diagnose enthalte, was für seine rechtliche Einordnung als Gesundheitszeugnis im Sinne des § 279 StGB aber erforderlich gewesen wäre. Das Gutachten sei auch nicht unrichtig, da in diesem nicht positiv behauptet werde, dass eine wie auch immer geartete ärztliche Untersuchung stattgefunden habe. Dies ergebe sich insbesondere auch nicht aus der Formulierung, dass es sich um "ein schriftliches Gutachten aufgrund der vorliegenden Aktenlage ohne erneute (körperliche) Untersuchung" handele. Das Gericht verstehe diese Formulierung dahingehend, dass es "ohne zusätzliche eigene körperliche Untersuchung" des Arztes Prof. Dr. S. erstellt worden sei, also eine etwaige durch andere Ärzte zuvor erfolgte körperliche Untersuchung von diesem nicht wiederholt oder vertieft worden sei. Die Angeklagte sei zudem unwiderlegbar davon ausgegangen, durch die Vorlage der Bescheinigung kein Unrecht zu begehen, so dass auch mangels Vorsatz eine Strafbarkeit der Angeklagten zu verneinen wäre.

IV.

Die zulässige Revision der Staatsanwaltschaft führt - vorläufig - zum Erfolg.

Der Freispruch kann keinen Bestand haben, so dass das angefochtene Urteil mit den Feststellungen aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Stolzenau zurückzuverweisen war.

1.

Das Urteil unterliegt bereits der Aufhebung, weil die Sachverhaltsschilderung unter einem durchgreifenden Darlegungsmangel leidet. Die Sachverhaltsschilderung ist bezüglich der getroffenen Feststellungen zu dem "Ärztlichen Gutachten" lückenhaft, weil sich aus ihnen nicht ergibt, ob das Gutachten (vor-)unterzeichnet worden ist. Ein Gesundheitszeugnis im Sinne von §§ 279, 278 StGB muss von einem Arzt oder einer anderen approbierten Medizinalperson ausgestellt worden sein (vgl. Senatsbeschluss vom 27.06.2022, Az. 2 Ss 58/22; MüKo-StGB/Erb, 4. Aufl., 2022, § 278 Rn. 2). Hierzu hat das Landgericht jedoch keine ausreichenden Feststellungen getroffen. Das Landgericht hat zwar festgestellt, dass die Angeklagte die in Rede stehende Bescheinigung auf der Grundlage eines von dem Arzt Prof. Dr. S. auf dessen Internetseite zur Verfügung gestellten Textdokumentes ausfüllte und ausdruckte. Jedoch fehlen Feststellungen dazu, ob das Formular von dem Arzt Dr. S. bereits vorunterzeichnet worden war. Das Urteil führt in diesem Zusammenhang lediglich aus, dass die Bescheinigung im unteren Bereich die Formulierung "Name, Vorname der Ärztin/des Arztes" "S., A." enthielt. Ob das bereitgestellte Formular von dem Arzt Prof. Dr. S. aber auch bereits vorunterzeichnet war, hat das Amtsgericht - wie bereits erörtert - nicht festgestellt und dies ergibt sich auch nicht sonst aus dem in den Urteilsgründen - ausdrücklich nur auszugsweise - wiedergegebenen Inhalt der Bescheinigung. Sollte in dem Formular eine Unterschrift fehlen, wäre offensichtlich kein Gesundheitszeugnis gegeben.

2.

Der aufgezeigte Rechtsfehler nötigt zur Aufhebung des Urteils und zur Rückverweisung der Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Stolzenau allerdings nur dann, wenn - bei Vorunterzeichnung - ein unrichtiges Gesundheitszeugnis im Sinne der §§ 278, 279 StGB vorliegen sollte. Dies ist bei dem tatgegenständlichen von der Angeklagten verwendeten "Ärztlichen Gutachten" unter Zugrundelegung der Urteilsfeststellungen der Fall:

a)

Voraussetzung für die Einordnung als Gesundheitszeugnis im Sinne von §§ 279, 278 StGB ist, dass in der betreffenden gesundheitlichen Bescheinigung der Gesundheitszustand eines Menschen beschrieben wird (vgl. MüKo-StGB/Erb, 4. Aufl., 2022, § 277 Rd. 2). Gegenstand eines Gesundheitszeugnisses können im Sinne der genannten Beschreibung des Gesundheitszustands eines Menschen eine frühere Erkrankung oder Verletzung sowie deren mögliche Folgewirkungen ebenso wie ein gegenwärtiger Befund oder eine Prognose seiner künftigen gesundheitlichen Entwicklung sein. Hierunter fallen sowohl die Darstellung relevanter Tatsachen und Symptome als auch deren sachverständige Bewertung (vgl. Erb, a.a.O., m. w. N.; Fischer, StGB, 71. Auflage, 2024, § 277, Rn. 2). Es ist - anders als vom Amtsgericht angenommen - jedoch nicht erforderlich, dass die Bescheinigung eine Diagnose enthält (vgl. Senatsbeschluss, a.a.O.; OLG Stuttgart, NJW 2014, 482 [OLG Stuttgart 25.09.2013 - 2 Ss 519/13] m. w. N.).

Hiernach ist die vorliegende ärztlich ausgestellte vorläufige Impfunfähigkeitsbescheinigung - im Falle ihrer Vorunterzeichnung - ein Gesundheitszeugnis im Sinne der §§ 279, 278 StGB, weil sie als Urkunde die medizinische Beurteilung eines Untersuchungsbefundes enthält und den gegenwärtigen Gesundheitszustand des Patienten auch in Form einer sachverständigen Prognose hinsichtlich möglicher künftiger Auswirkungen einer Impfung bei ihm bewertet (vgl. dazu auch Ruppert, medstra 2022, 153 (154); Hoffmann, öAT 2022, 51 (54); LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 28.07.2022, Az. 12 Qs 34/22; a. A.: LG Oldenburg, Beschluss vom 05.12.2023, Az. 4 Qs 400/23). Denn die Bescheinigung stellt ausdrücklich eine "vorläufige Impfunfähigkeit" fest und knüpft diese medizinische Einschätzung spezifisch an die konkrete Person der Tochter der Angeklagten. Unter Berücksichtigung des Schutzzweckes der Norm - nämlich dem Schutz der inhaltlichen Richtigkeit der von approbierten Medizinpersonen ausgestellten Gesundheitszeugnisse zum Schutz der Sicherheit und Zuverlässigkeit des Rechtsverkehrs (LK-StGB/Zieschang, 13. Auflage, 2023, § 278, Rn. 1, § 279, Rn. 2) - hat sich auch die Reichweite des Schutzes daran zu orientieren, welchen Eindruck die konkrete Bescheinigung im konkreten Fall objektiv hervorruft. Bezieht sich ein Gutachten zur Bescheinigung einer Impfunfähigkeit auf eine konkrete Person, ist darin nach objektiven Maßstäben eine Befundung ebendieser Person zu erblicken und handelt es sich um ein Gesundheitszeugnis (vgl. auch Ruppert, a. a. O.). Auch weckte das vorliegende "Ärztliche Gutachten" nach seiner vom Amtsgericht festgestellten Gestaltung - sollte es vorunterzeichnet gewesen sein - bei einem außenstehenden Dritten bei oberflächlicher Betrachtung oder bei Betrachtung ohne ausreichenden Bildungs- und Informationshintergrund (vgl. hierzu auch Senatsbeschluss vom 27.06.2022, Az. 2 Ss58/22; OLG Celle, NStZ-RR 2008, 76) nicht den Eindruck, es handele sich nur um ein Fantasiestück, sei "inhaltsleer" oder völlig losgelöst vom Einzelfall. Ausweislich der Urteilsfeststellungen ließ sich dem "Ärztlichen Gutachten" insbesondere nicht entnehmen, dass es sich lediglich um eine allgemeine Empfehlung des Ausstellers Prof. Dr. S. - unabhängig von dem konkreten Zustand der Tochter der Angeklagten - handelte, derartige Impfungen bei jeder Person stets nur nach vorherigem fachärztlichen Ausschluss einer Allergie vorzunehmen. Vielmehr ging von ihm nach dem zitierten Maßstab und bei Vorunterzeichnung der Anschein einer gültigen ärztlichen Bescheinigung darüber aus, dass speziell bei der Tochter der Angeklagten aufgrund des Risikos einer schwerwiegenden Allergie keine Masernimpfung erfolgen solle und diese deswegen "vorläufig impfunfähig" sei. Zu diesem Ergebnis gelangte der Prof. Dr. S. ausweislich des "Ärztlichen Gutachtens" aufgrund der "vorliegenden Aktenlage ohne erneute (körperliche) Untersuchung", was ebenfalls impliziert, dass er zu diesem konkreten ärztlichen Befund aufgrund der ärztlichen Untersuchung der konkret in dem Gutachten benannten Person gekommen ist und sich das Zeugnis mithin auf deren konkreten Gesundheitszustand bezieht. Ebendiesen Eindruck sollte das "Ärztliche Gutachten" des Prof. Dr. S. auch erwecken und gerade zu diesem Zweck lud die Angeklagte das Formular aus dem Internet herunter, versah es mit den Personalien ihrer Tochter und reichte es anlässlich der verfahrensgegenständlichen Tat beim Landkreis Nienburg ein.

b)

Das vorliegende Gesundheitszeugnis in Form der vorläufigen Impfunfähigkeitsbescheinigung ist auch unrichtig.

aa)

Unrichtig im Sinne von § 278 StGB ist ein Gesundheitszeugnis unter anderem dann, wenn die miterklärten Grundlagen der Beurteilung in einem wesentlichen Punkt nicht der Wahrheit entsprechen. Dies ist in der Regel dann gegeben, wenn die für die Beurteilung des Gesundheitszustands erforderliche einschlägige Untersuchung nicht durchgeführt wurde. Das gilt auch dann, wenn eine Untersuchung, wäre sie vorgenommen worden, den attestierten Befund bestätigt hätte, dieser also zufällig richtig ist. Denn ein Zeugnis, das ein Arzt ohne Untersuchung ausgestellt hat, ist ebenso wertlos wie ein Zeugnis, das nach der Untersuchung den hierbei feststellten Gesundheitszustand unrichtig darstellt. Das Vertrauen in das ärztliche Zeugnis beruht darauf, dass eine ordnungsgemäße Informationsgewinnung stattgefunden hat. (vgl. BGH NStZ-RR, 2007, 343; BGHSt 6, 90; Senatsbeschluss vom 27.06.2022, Az. 2 Ss 58/22; Senatsbeschluss vom 16.11.2022, Az. 137/22 mit Ausführungen zu historischen Herleitung und Entwicklung der Rechtsprechung; OLG Frankfurt, StV 2006, 471; BayObLG, Beschluss vom 05.06.2023, Az. 206 StRR 76/22; Ruppert, a. a. O.; LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 28.07.2022, Az. 12 Qs 34/22; OLG Oldenburg, Beschluss vom 18.01.2024, Az. 1 Ss 269/23; OLG Naumburg, Beschluss vom 28.08.2023, Az. 1 ORs 113/23). Bei der Befreiung von der nach § 20 Abs. 8 IfSG angeordneten Masernimpflicht soll das ärztliche Attest die erhöhte Gewähr dafür bieten, dass gegen die Vornahme der Impfung tatsächlich gesundheitliche bzw. medizinische Gründe der Person sprechen und solche nicht nur aufgrund einer individuellen ablehnenden Haltung der Impfung gegenüber vorgegeben werden. Dies setzt grundsätzlich voraus, dass eine ärztliche Untersuchung tatsächlich stattgefunden hat (vgl. auch OLG Oldenburg, Beschluss vom 18.01.2024, Az. 1 Ss 269/23; OLG Naumburg, Beschluss vom 28.08.2023, Az. 1 ORs 113/23). Ist eine körperliche Untersuchung im Einzelfall unterblieben, soll das Attest aber gleichwohl "richtig" sein, muss sich das Unterbleiben der Vornahme einer körperlichen Untersuchung aus dem Attest selbst ergeben (vgl. Senatsbeschlüsse vom 27.06.2022, Az. 2 Ss 58/22; vom 16.11.2022, Az. 2 Ss 137/22; Erb, aaO, § 278, Rn. 4 m. w. N.). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt nunmehr lediglich für Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen; die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit kann auf Grundlage eines Beschlusses des Gemeinsamen Bundesausschusses der Ärzte, Krankenkassen und Kliniken zur Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie bei Erkrankungen, die keine schwere Symptomatik aufweisen, und bei einem dem Arzt bekannten Patienten nunmehr auch nach telefonischer Anamnese erfolgen. Ein solcher Fall liegt hier ersichtlich nicht vor.

Vorliegend folgt entgegen der Auffassung des Amtsgerichts vielmehr bereits aus dem Wortlaut des "Ärztlichen Gutachtens", dass eine vermeintliche ärztliche Untersuchung vor der Erstellung des Gutachtens erfolgt ist (anders der Sachverhalt jeweils in: OLG Oldenburg, Beschluss vom 18.01.2024, Az. 1 Ss 269/23; OLG Naumburg, Beschluss vom 28.08.2023, Az. 1 ORs 113/23). Insoweit wird in dem Gutachten Folgendes ausgeführt: "Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich bei diesem Gutachten um ein schriftliches Gutachten aufgrund der vorliegenden Aktenlage ohne erneute (körperliche) Untersuchung handelt, (...)". Der Hinweis auf die vermeintlich "vorliegende Aktenlage" lässt bei objektiver Betrachtung nur den Schluss zu, dass diejenige Person, die das Gutachten betrifft, sich in Behandlung des ausstellenden Arztes befand und das Gutachten aufgrund der sich hieraus ergebenden Erkenntnisse "ohne erneute (körperliche) Untersuchung", sondern aufgrund der "vorliegenden Aktenlage" und mindestens einer zuvor erfolgten Untersuchung erstellt wurde. Die Deutung, dass mit der "vorliegenden Aktenlage" nur die allgemeine Datenlage - etwa des Herstellers der Impfstoffe - gemeint sein könnte, liegt angesichts des dargelegten Gesamtzusammenhanges der Formulierung fern. Auch dafür, dass - wie das Amtsgericht ausführt - das Gutachten an dieser Stelle auf vorangegangene Untersuchungen durch andere Ärzte abstellt, ergeben sich aus dem Wortlaut auch angesichts des Umstandes, dass Prof. Dr. S. in Ö. praktiziert, keine Hinweise. Hiergegen spricht überdies die eingangs des Gutachtens gewählte Formulierung "Aufgrund meiner ärztlichen Einschätzung und Bewertung komme ich nach freiem Ermessen zu folgender gutachterlicher Einschätzung: (...) ". Auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu mehrdeutigen Äußerungen im Rahmen der Ehrverletzungsdelikte führt hier zu keiner anderen Beurteilung. Zwar geht das Bundesverfassungsgericht insoweit bei der Überprüfung strafrechtlicher Sanktionen davon aus, dass die Meinungsfreiheit verletzt ist, wenn ein Gericht bei mehrdeutigen Äußerungen die zur Verurteilung führende Bedeutung zugrunde legt, ohne vorher andere mögliche Deutungen, die nicht völlig fernliegen, mit schlüssigen Gründen ausgeschlossen zu haben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25.03.2008, Az. 1 BvR 1753/03; Beschluss vom 12.11.2002, Az. 1 BvR 232/97). Eine solche Grundrechtsrelevanz ist hier auf Seiten der Angeklagten in Bezug auf das Gesundheitszeugnis aber zum einen nicht gegeben. Zum anderen waren andere mögliche, nicht völlig fernliegende Deutungen aus den oben dargelegten Erwägungen auszuschließen. Da gemäß den Feststellungen des angefochtenen Urteils die Tochter der Angeklagten - entgegen dem Wortlaut des "Ärztlichen Gutachtens" - tatsächlich weder von dem Arzt Prof. Dr. S. körperlich untersucht worden war noch es einen persönlichen Kontakt zwischen beiden gegeben hatte, ist das "Ärztliche Gutachten" unrichtig im Sinne des § 278 StGB.

bb)

Nach Auffassung des Senates gelten die obigen Ausführungen zur Unrichtigkeit des Gesundheitszeugnisses sowohl in Bezug auf den § 278 StGB als auch im Rahmen des § 279 StGB. Soweit teilweise vertreten wird, dass eine Strafbarkeit nach § 279 StGB wegen der überschießenden Innentendenz des Tatbestandes voraussetzt, dass das Gesundheitszeugnis eine unwahre Aussage über den Gesundheitszustand als solchen enthält und es - anders als bei §§ 277, 278 StGB - nicht darauf ankommt, ob vor der Ausstellung des Attestes eine körperliche Untersuchung stattgefunden hat (so BayObLG, Beschluss vom 18.07.2022, Az. 203 StR 179/22; MüKo-StGB/Erb, 4. Auflage, 2022, § 279 Rn. 2; Rau in medstra 2023, 230-232), vermag der Senat dem nicht zu folgen (vgl. auch LK-StGB/Zieschang, 13. Auflage, 2023, § 279, Rn. 10; Parigger/Helm/Stevens-Bartol/Rotenhan, Arbeits- und Sozialstrafrecht, 1. Auflage, 2021, § 279 StGB, Rn. 5; NK-MedizinStR/Lichtenthäler, 1. Auflage, 2023, § 279 StGB, Rn. 1; OLG Stuttgart, Urteil vom 25.09.2013, Az. 2 Ss 519/13; LG Freiburg, Beschluss vom 05.08.2021, Az. 2 Qs 36/21). Hierzu ist zunächst festzustellen, dass durch das "Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze anlässlich der Aufhebung der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite" vom 22.11.2021 der vormalige Passus des § 279 aF StGB, wonach von dem ärztlichen Zeugnis Gebrauch gemacht werden musste, "um eine Behörde oder eine Versicherungsgesellschaft über seinen oder eines anderen Gesundheitszustand zu täuschen", gestrichen wurde und die Norm ihrem Wortlaut nach ("Wer zur Täuschung von einem Gesundheitszeugnis der in den §§ 277 und 278 bezeichneten Art Gebrauch macht (...)") dem des § 278 StGB ("Wer zur Täuschung im Rechtsverkehr (...) ein unrichtiges Zeugnis über den Gesundheitszustand eines Menschen ausstellt, (...)") angeglichen wurde (vgl. Zieschang, a. a. O., § 279, Vorbemerkung). Dafür, dass der Gesetzgeber hier von einem anderen Begriffsverständnis ausging, finden sich in der Gesetzesbegründung keine Hinweise (vgl. BT-Drs. 20/15). Vielmehr spricht schon der Wortlaut des § 279 StGB, wonach es sich bei dem Tatobjekt um ein "Gesundheitszeugnis der in (...) 278 bezeichneten Art" handelt, dafür, dass an das Zeugnis und dessen Unrichtigkeit dieselben rechtlichen Anforderungen zu stellen sind, wie im Rahmen des § 278 StGB, zumal es sich letztlich bei § 279 StGB um eine Ergänzungsnorm zu § 279 StGB handelt (vgl. Zieschang, a. a. O., § 279, Rn. 4). Auch der identische Schutzzweck der §§ 278, 279 StGB - der Schutz der inhaltlichen Richtigkeit von Gesundheitszeugnissen zum Schutz der Sicherheit und Zuverlässigkeit des Rechtsverkehrs mit Gesundheitszeugnissen im Sinne des Beweisverkehrs (vgl. Zieschang, a. a. O., § 279, Rn. 2) - spricht hierfür. Denn insoweit gilt auch im Rahmen des § 279 StGB, dass ein Zeugnis, das ein Arzt ohne Untersuchung ausgestellt hat, ebenso wertlos ist wie ein Zeugnis, das nach der Untersuchung den hierbei feststellten Gesundheitszustand unrichtig darstellt.

c)

Die Angeklagte hat von diesem Gesundheitszeugnis auch Gebrauch gemacht, indem sie es beim Gesundheitsamt des Landkreises Nienburg in dem gegen sie gerichteten Ordnungswidrigkeitenverfahren einreichte, um über das Vorliegen eines Befreiungstatbestandes von der Maserimpfpflicht zu täuschen.

3.

Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Die zugehörigen Feststellungen sind schon deswegen aufzuheben, weil sie die Angeklagte potentiell belasten und für sie mangels Beschwer nicht mit einem Rechtsmittel angreifbar waren (vgl. BGH, Urteile vom 21.04.2022; Az. 3 StR 360/21, NJW 2022, 2349 [BGH 21.04.2022 - 3 StR 360/21]; vom 08.11.2023, Az. 5 StR 259/23; vom 03.01.2024, Az. 5 StR 406/23).

4.

Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf folgendes hin:

Sofern die Beweisaufnahme ergeben sollte, dass das tatgegenständliche "Ärztliche Gutachten" von dem Arzt Prof. Dr. S. vorunterzeichnet gewesen sein sollte, käme unter Zugrundelegung der in dem angefochtenen Urteil mitgeteilten weiteren Tatumstände eine Verurteilung der Angeklagten wegen Gebrauchs eines unrichtigen Gesundheitszeugnisses nach §§ 279, 278 StGB aus den dargelegten Gründen in Betracht.

Ein vorsätzliches Handeln der Angeklagten liegt nahe. Nach den Urteilsfeststellungen zielte die Verwendung des in Rede stehenden "Ärztlichen Gutachtens" darauf ab, es beim Landkreis Nienburg zur Vortäuschung einer bestehenden medizinischen Kontraindikation für die Masernimpfung der Tochter vorzulegen und somit die Pflicht einer solchen Masernimpfung umgehen zu können sowie die Verhängung eines Bußgeldes abzuwenden. Auch zumindest bedingter Vorsatz hinsichtlich des Vorliegens eines Gesundheitszeugnisses und dessen Unrichtigkeit liegen angesichts des Zustandekommen des Attestes und dessen Wortlaut nahe.

Soweit sich aus der Formulierung des Amtsgerichts, die Angeklagte habe "ihr Verhalten aufgrund einer Parallelbewertung in der Laiensphäre für nicht strafbewährt" gehalten, Anhaltspunkte für auf das Vorliegen eines Verbotsirrtums im Sinne des § 17 StGB ergeben könnten, ist dessen Vorliegen weder hinreichend festgestellt noch beweiswürdigend belegt. Insbesondere das Vorliegen eines zur Straflosigkeit führenden unvermeidbaren Verbortsirrtums, an dessen Vorliegen hohe Anforderungen zu stellen sind (vgl. statt vieler BGHSt 4, 1ff.; BGHSt 4, 237ff.), ergibt sich aus den bisherigen Feststellungen nicht und erscheint auch nicht naheliegend.