Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 11.04.2024, Az.: 3 ORs 10/24

Umfang der Gebotenheit der Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen zur Beurteilung der Schuldfähigkeit des an einer paranoiden Schizophrenie leidenden Angeklagten; Medikamentös eingestellter Angeklagter zur Tatzeit; Aufklärungspflicht

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
11.04.2024
Aktenzeichen
3 ORs 10/24
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 15050
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2024:0411.3ORS10.24.00

Verfahrensgang

vorgehend
AG Gifhorn - 19.09.2023
LG Hildesheim - 20.12.2023

Fundstellen

  • StRR 2024, 3
  • VRR 2024, 4

Amtlicher Leitsatz

Die Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen zur Beurteilung der Schuldfähigkeit ist auch dann geboten, wenn der an einer paranoiden Schizophrenie leidende Angeklagte angibt, zur Tatzeit medikamentös eingestellt gewesen zu sein und keine Wahnvorstellungen gehabt zu haben.

In der Strafsache
gegen M. B.,
geboren am ...,
wohnhaft ...,
- Verteidiger: Rechtsanwalt M., Hannover,
Rechtsanwalt D., Hannover -
wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis u.a.
hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht XXX und die Richter am Oberlandesgericht XXX und XXX am 11. April 2024 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der 7. kleinen Strafkammer des Landgerichts Hildesheim vom 20. Dezember 2023 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Hildesheim zurückverwiesen.

Gründe

Mit dem angefochtenen Urteil hat das Landgericht die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Gifhorn vom 19. September 2023, durch das der Angeklagte wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt worden war, als unbegründet verworfen. Die dagegen gerichtete Revision des Angeklagten hat mit der zulässig erhobenen Aufklärungsrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

Das Landgericht hat davon abgesehen, zur Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten einen psychiatrischen Sachverständigen zu hören. Das hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

Nachdem das Landgericht festgestellt hat, dass der Angeklagte seit 2013 - und damit auch zum Tatzeitpunkt - an einer paranoiden Schizophrenie leidet, derentwegen er seitdem fortlaufend in ärztlicher Behandlung ist und Neuroleptika als Depotmedikation erhält, gebot die Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) die Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen. Dies galt hier umso mehr, als der Angeklagte nach dem weiteren Ergebnis der Beweisaufnahme zum Tatzeitpunkt unter der Einwirkung von Amphetamin und des Neuroleptikums Paliperidon stand, zwischen denen nach dem eingeholten gerichtsmedizinischen Gutachten Wechselwirkungen wahrscheinlich waren.

Zwar gibt es - abgesehen von § 246a StPO - keine allgemeinen Vorgaben, wann das Tatgericht bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit einen Sachverständigen hinzuziehen muss oder aufgrund eigener Sachkunde entscheiden kann (vgl. BGH StV 2008, 618). Liegen indes Anhaltspunkte vor, die geeignet sind, Zweifel an der vollen Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Tatausführung zu wecken, so ist die Anhörung eines Sachverständigen in aller Regel geboten; denn derartige Zweifel rufen im Allgemeinen Beweisfragen hervor, zu deren zuverlässiger Beantwortung oft nicht einmal eine allgemeine ärztliche Ausbildung, sondern nur die intensive Arbeit innerhalb eines besonderen Fachgebiets befähigt (vgl. BGH NStZ-RR 2003, 19; 2007, 83; Becker in: Löwe/Rosenberg, StPO 27. Aufl., § 244 Rn 78 mwN). Solche Anhaltspunkte liegen etwa vor, wenn der Angeklagte in nervenärztlicher Behandlung stand oder steht oder wenn er erklärt hat, dass er an Schizophrenie leide und Medikamente benötige (BGH StV 1982, 54; 2011, 647; Becker aaO mwN). Die Beurteilung endogener Psychosen, zu denen auch die paranoide Schizophrenie gehört, sowie mehrerer belastender Faktoren im Zusammenwirken - wie etwa Drogenkonsum und psychopathische Persönlichkeit - bedarf stets sachverständiger Beratung (vgl. Verrel/Linke/Koranyi in: Leipziger Kommentar, StGB 13. Aufl., § 20 Rn. 236 mwN).

Die Urteilsgründe belegen auch nicht, dass hier trotz des Zusammentreffens mehrerer der vorstehend aufgezeigten Faktoren ein Ausnahmefall vorlag, in dem das Tatgericht über eine besondere Sachkunde verfügte oder aufgrund sonstiger Umstände Auswirkungen der psychischen Störung auf die Tatbegehung von vornherein auszuschließen waren. Solche ergeben sich insbesondere nicht daraus, dass der Angeklagte angegeben hat, am Tattag "weder Stimmen gehört noch unter Verfolgungswahn gelitten zu haben" (S. 17 UA) und dass der Angeklagte "damals wegen seiner paranoiden Schizophrenie bereits medikamentös behandelt" wurde und dies "nach den Angaben des Angeklagten zu einer Stabilisierung seines psychischen Zustands geführt habe" (S. 17 UA). Denn die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Sachverständigen ist unabhängig von der Selbsteinschätzung des Angeklagten zu beurteilen (vgl. BGHR StGB § 21 Sachverständiger 8). Sie ist bei Vorliegen von Anzeichen, die auch nur eine gewisse Möglichkeit dafür geben, dass der Angeklagte in geistiger Hinsicht von der Norm abweichen könnte, selbst dann geboten, wenn der Angeklagte sich in der Hauptverhandlung nicht auf einen solchen Zustand beruft (BGH NStZ-RR 2006, 140).

Ungeachtet dessen hat sich der Angeklagte hier ausweislich der Urteilgründe dahin eingelassen, dass er "am Tattag psychotisch und aufgrund einer Phobie nicht in der Lage gewesen sei, mit dem Bus (...) zu fahren" (S. 17 UA). Der Umstand, dass er seinem Vater gegenüber zuvor erklärte, er werde mit dem Bus fahren, steht dem nicht entgegen. Abgesehen davon, dass bereits die zeitliche Nähe zwischen diesem Gespräch und der Fahrt nicht genau festgestellt ist ("unmittelbar vor dem 18.01.2023 bzw. am 18.01.2023", S. 18 UA), existiert kein allgemeiner Erfahrungssatz, dass bei Vorliegen einer Phobie auch deren Erwähnung in diesem Zusammenhang zwingend zu erwarten gewesen wäre. Erst recht ist aber nicht ohne besondere Sachkunde zu beurteilen, wie sich dies bei Personen mit einer paranoiden Schizophrenie im Zusammenwirken mit Amphetaminintoxikation darstellt. Die Möglichkeit des späteren Auftretens der Symptome oder einer krankheitsbedingten Einengung der kognitiven Fähigkeiten in Bezug auf Handlungsalternativen und Problemlösung begründete die Notwendigkeit sachverständiger Beratung.

Hinzu kommt, dass der Angeklagte sich nach den Feststellungen zu den Vorstrafen auch schon gegenüber dem Amtsgericht Magdeburg auf eine vergleichbare Phobie berufen hat (S. 7 UA). Gerade mit Blick auf die wiederholte Behauptung einer Phobie war die Hinzuziehung eines Sachverständigen geboten. Denn endogene Psychosen wie die paranoide Schizophrenie sind differentialdiagnostisch von Persönlichkeitsstörungen abzugrenzen, die eine ähnliche Symptomatik aufweisen, insbesondere dem Borderline-Syndrom, welches mit - vorübergehenden oder dauerhaften - Symptomen wie Phobien, Zwangshandlungen oder Wahn einhergehen kann (Verrel/Linke/Koranyi aaO Rn. 85 mwN).

Auch zielstrebiges und folgerichtiges Verhalten steht der Annahme einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit nicht unbedingt entgegen (vgl. BGH NStZ-RR 2007, 83; 2009, 115 [BGH 10.12.2008 - 5 StR 542/08]). Abgesehen davon hat das Landgericht in seine Würdigung des Verhaltens des Angeklagten als "durchweg sachgerecht und unauffällig" (S. 18 UA) sowie "völlig situationsgerecht" (S. 19 UA) nicht einbezogen, dass der Angeklagte sich im Zustand einer Amphetaminintoxikation, die "erhebliche Auffälligkeiten" (S. 15 UA) verursachte, sowie unter Mitführen einer Umhängetasche, die u.a. zwei Klemmleistenbeutel mit Marihuana, zwei Klemmleistenbeutel mit Amphetaminanhaftungen und drei Klemmleistenbeutel mit Ecstasy-Tabletten enthielt, auf den Weg zu einem Termin mit seiner Bewährungshelferin machte.

Vor diesem Hintergrund und angesichts der Feststellung, dass "der Angeklagte psychisch instabil ist und trotz der Einnahme der ihm ärztlicherseits verordneten Medikamente dazu neigt, kriminelle Handlungen zu begehen" (S. 23 UA), durfte von der Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen nicht abgesehen werden.

Auf diesem Rechtsfehler beruht das Urteil.