Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 10.07.1996, Az.: 20 U 68/95
Schmerzensgeld wegen eines Sturzes von einem Pferd; Ausschluss der Tierhalterhaftung bei einem Arbeitsunfall; Annahme einer Tätigkeit im unversicherten, "eigenwirtschaftlichen" Bereich; Begriff der Aufsichtsführung; Schmerzensgeld aufgrund des Verlustes des Riechvermögens mit Beeinträchtigung des Geschmacksinns, Kopfschmerzen, Hörminderung und Schwindelgefühl
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 10.07.1996
- Aktenzeichen
- 20 U 68/95
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1996, 24657
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:1996:0710.20U68.95.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Verden - 11.07.1995 - AZ: 7 O 394/94
Rechtsgrundlagen
- § 833 BGB
- § 834 BGB
- § 847 BGB
- § 539 Abs. 2 RVO
- § 636 RVO
Fundstelle
- zfs 1997, 15 (Kurzinformation)
Der 20. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle hat
auf die mündliche Verhandlung vom 3. Juli 1996
durch
die Präsidentin des Oberlandesgerichts Oltrogge,
den Richter am Oberlandesgericht Dr. Heile und
die Richterin am Oberlandesgericht Ambrosius
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil der 7. Zivilkammer des Landgerichts Verden vom 11. Juli 1995 wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beschwer des Beklagten beträgt 32.000 DM.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Beklagten dagegen, daß das Landgericht ihn verurteilt hat, an die durch einen Sturz von seinem Pferd verletzte Klägerin ein Schmerzensgeld von 32.000 DM zu zahlen, war zurückzuweisen, weil das Landgericht alle entscheidungserheblichen Fragen - ob die Tierhalterhaftung ausgeschlossen ist, weil es sich um einen Arbeitsunfall handelte, ob der Unfall auf die Verwirklichung der typischen Tiergefahr zurückzuführen ist, ob dem Beklagten der Entlastungsbeweis offensteht, weil es sich um ein Nutztier handelte, ob die Klägerin ein Mitverschulden trifft und welcher Schmerzensgeldbetrag angemessen ist - richtig entschieden hat.
1.
Die Tierhalterhaftung des Beklagten mitsamt seiner Verpflichtung zur Zahlung eines Schmerzensgeldes ist nicht gemäß § 636 RVO ausgeschlossen, wonach ein Unternehmer den in seinem Unternehmen tätigen Versicherten zum Ersatz des durch einen Arbeitsunfall verursachten Personenschadens nur dann verpflichtet ist, wenn er diesen Unfall vorsätzlich herbeigeführt hat oder wenn der Unfall bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr eingetreten ist. Diese Vorschrift gilt nicht nur für im Rahmen eines echten Arbeitsverhältnisses sozialversicherte Arbeitnehmer, sondern gemäß § 539 Abs. 2 RVO auch für Personen, die wie sozialversicherte Arbeitnehmer tätig werden, wobei dies auch bei nur vorübergehender Tätigkeit der Fall sein kann. Hier hat aber keine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit der Klägerin im Sinne des § 539 Abs. 2 RVO vorgelegen. Dies ist zwar nicht, wie das Landgericht gemeint hat, schon deshalb zu verneinen, weil die Klägerin die Stute zum einen nur kurzfristig und zum anderen unentgeltlich geritten hat. Denn selbst kurzfristige, nur aus Gefälligkeit übernommene und daher unentgeltlich erbrachte Hilfeleistungen können eine arbeitnehmerähnliche Eingliederung des Helfers in den Unfallbetrieb begründen (OLG Hamm VersR 1994, 691 [OLG Hamm 08.12.1992 - 9 U 29/92]; OLG Köln VersR 1994, 693 [OLG Hamm 08.07.1993 - 27 U 41/93]; Lauterbach, Unfallversicherung, § 539 Anm. 101 b, 102; Wussow/Schloen, Unfallhaftpflichtrecht, 14. Aufl., Rn. 2602). Es fehlt jedoch an der für eine arbeitnehmerähnliche Tätigkeit erforderlichen Voraussetzung, daß für den Helfer das fremdwirtschaftliche Interesse des Unfallbetriebs im Vordergrund steht; eine sogenannte eigenwirtschaftliche Tätigkeit löst den Versicherungsschutz des § 539 Abs. 2 RVO nicht aus (BGH VersR 1985, 1082, 1083). Im unversicherten "eigenwirtschaftlichen" Bereich bewegt sich auch der Helfer, der in erster Linie Reitsport betreiben will (Lauterbach a.a.O.). Dies war bei der Klägerin der Fall. Der Beklagte stellt es zwar anders dar, indem er auch im Berufungsverfahren noch seine erstinstanzliche Behauptung aufrechterhält, die Beklagte habe bemerkt, daß er Pferde halte, und sich daraufhin angeboten, bei deren Bewegung behilflich zu sein, was er dankend angenommen habe. Diese Darstellung des Beklagten ist aber durch die glaubhafte Aussage des Zeugen ... widerlegt. Der Zeuge hat bekundet, bevor sie den Urlaub auf dem Hof des Beklagten gebucht hätten, hätten sie sich telefonisch erkundigt und erfahren, daß Reitmöglichkeiten für erfahrene Reiterinnen bestünden; deshalb hätten sie sich entschlossen, ihren Urlaub beim Beklagten zu verbringen. Aus dieser Aussage ist klar geworden, daß bei der Klägerin das Eigeninteresse an sportlicher Betätigung jedenfalls deutlich im Vordergrund stand, als sie die Stute ritt. Es ist rechtlich bedeutungslos, ob sie damit gleichzeitig den Beklagten entlastete, weil dieser, wie er behauptet, das Tier sonst selber hätte bewegen müssen; auf die Richtigkeit dieser Behauptung, welche die Klägerin mit dem Argument bestreitet, daß der Beklagte seine Pferde zur damaligen Jahreszeit schon auf der Weide gehalten habe, kommt es daher nicht an.
Die Klägerin genießt somit keinen Versicherungsschutz durch die gesetzliche Unfallversicherung. Die Tierhalterhaftung des Beklagten ist daher nicht ausgeschlossen.
2.
Den Beklagten trifft die Tierhalterhaftung, weil der Unfall der Klägerin durch seine Stute verursacht worden ist (§ 833 Satz 1 BGB). Der Sturz der Klägerin ist nicht auf einen normalen, vom Reiter eingeleiteten und beherrschten Galopp des Pferdes zurückzuführen, bei dem sich ggf. nicht, wie es für die Tierhalterhaftung erforderlich ist, die typische Tiergefahr, sondern lediglich das im Ungeschick des Reiters liegende Risiko verwirklicht hätte, sondern auf die Unberechenbarkeit tierischen Verhaltens. Denn die Stute ist durchgegangen. Der diesbezüglichen Beweiswürdigung des Landgerichts, die auf der Aussage des Zeugen ... beruht, ist nichts hinzuzufügen.
3.
Der Entlastungsbeweis nach § 833 Abs. 2 BGB, wonach die Ersatzpflicht nicht eintritt, wenn der Schaden durch ein Tier verursacht wird, das dem Berufe, der Erwerbstätigkeit oder dem Unterhalt des Tierhalters zu dienen bestimmt ist, und der Tierhalter bei der Beaufsichtigung des Tieres die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beobachtet hat oder der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt entstanden sein würde, steht dem Beklagten nicht offen. Zu Recht hat das Landgericht ausgeführt, der Beklagte habe nicht hinreichend substantiiert dargelegt, daß seine beiden Stuten, mit denen er angeblich eine rentable Pferdezucht betreibt, seinem Beruf, seiner Erwerbstätigkeit oder seinem Unterhalt zu dienen bestimmt seien, da er trotz entsprechender gerichtlicher Hinweise seine Einnahmen aus der Pferdezucht nicht beziffert habe. Diesen ihm obliegenden Vortrag hat der Beklagte auch im Berufungsverfahren nicht nachgeholt, sondern erneut lediglich in unsubstantiierter, nicht nachprüfbarer Weise behauptet, seine Pferdezucht sei "rentabel"; sie "rechne sich" durch den Verkauf von Fohlen. Die Pferdezucht des Beklagten muß daher als bloßes Hobby angesehen werden. Möglicherweise wäre die Stute gleichwohl ein Nutztier, das dem Erwerb des Beklagten zu dienen bestimmt ist, wenn er sie seinen Ferienwohnungsgästen regelmäßig als Reittier zur Verfügung stellen oder auch nur mit dem Vorhandensein der Pferde für die Vermietung seiner Ferienwohnungen werben würde, wenn die Pferde also als Bestandteil seines Wohnungsvermietungsunternehmens angesehen werden müßten. Insoweit muß sich der Beklagte jedoch an seiner Darstellung festhalten lassen, daß er die Pferde seinen Feriengästen grundsätzlich nicht zum Reiten zur Verfügung stellt und er mit ihnen auch nicht wirbt, sondern daß der Zweck ihrer Haltung die Pferdezucht ist.
Da der Beklagte infolgedessen auch dann, wenn er die nötige Sorgfalt beobachtet hätte, als er der Klägerin die Stute zur - Verfügung stellte, von seiner Tierhalterhaftung nicht befreit wäre, kommt es auf die Frage nicht an, ob ihm kein sogenanntes Ausfallverschulden vorgeworfen werden kann, weil das Pferd keine gefährlichen Eigenschaften hatte, insbesondere nicht zum Durchgehen neigte. Nur am Rande sei erwähnt, daß in Anbetracht des Umstandes, daß die Stute am Tage zuvor vor einem Lastkraftwagen gescheut hatte, in dieser Hinsicht an den Beklagten nicht unerhebliche Beweisanforderungen hätten gestellt werden müssen.
Den Beklagten trifft somit die Tierhalterhaftung.
4.
Ein Mitverschulden an dem Unfall kann der Klägerin nicht angelastet werden.
Es spricht keine Vermutung für ein Verschulden der Klägerin. § 834 BGB, wonach derjenige, welcher für den Tierhalter die Führung der Aufsicht über das Tier durch Vertragübernimmt - der sogenannte Tierhüter -, aufgrund vermuteten Verschuldens für die Tiergefahr haftet, ist hier nicht anwendbar. Zwar hat der BGH die Beweislastregel des § 834 BGB auch dann für anwendbar erklärt, wenn der Tierhüter die Aufsicht nicht durch Vertrag, sondern im Rahmen eines Gefälligkeitverhältnissesübernommen hat (BGH NJW 1992, 2474, 2476 [BGH 09.06.1992 - VI ZR 49/91]). Die Klägerin war jedoch nicht Tierhüterin. Aufsichtsführung bedeutet Übertragung derselbständigen allgemeinen Gewalt und Aufsicht über das Tier (Staudinger/Schäfer, BGB, 12. Aufl., § 834 Rn. 8). Dementsprechend hat der BGH den Reiter eines fremden Pferdes nur in einem Fall als Tierhüter angesehen, wo der Reiter "selbständig, also ohne Begleitperson aus dem Stall" ausgeritten war (BGH NJW 1987, 949, 950 [BGH 30.09.1986 - VI ZR 161/85]). Hier war es aber unstreitig so, daß die Klägerin nicht nur in Begleitung des Beklagten ausgeritten war, sondern daß dieser auch die Führung ausübte, indem er vorneweg ritt und Richtung und Gangart bestimmte.
Deshalb hätte der Beklagte ein konkretes reiterliches Verschulden der Klägerin darlegen und beweisen müssen. Er hat aber irgendeinen konkreten Fehler der Klägerin nicht einmal behauptet und kann dies offensichtlich auch nicht tun, eben weil er vor der Klägerin herritt und somit nicht beobachten konnte, wie es zum Durchgehen der Stute kam, sondern erst aufmerksam wurde, als das Pferd mit der Klägerin seitlich an ihm vorbeigaloppierte.
Als Ansatzpunkt für ein mögliches Mitverschulden der Klägerin bleibt deshalb nur der Umstand übrig, daß sie sich mit einem fremden Pferd, welches am Vortage bei einem Ausritt vor einem Lastkraftwagen gescheut hatte, ins Gelände wagte. Abgesehen davon, daß Bedenken bestehen, wegen dieses Vorfalls das erneute Ausreiten, das unstreitig nach Ankündigung des Beklagten nun nicht wieder über eine Autostraße führen sollte, als Unvorsichtigkeit zu werten, kann der Beklagte daraus auch deshalb kein Mitverschulden der Klägerin herleiten, weil er die Stute als ruhig und zuverlässig darstellt und behauptet, sie sei noch nie durchgegangen. Es wäre ein widersprüchliches Verhalten, wollte er der Klägerin daraus einen Vorwurf machen, daß sie mit diesem Tier einen Ausritt wagte.
Nach alledem schuldet der Beklagte der Klägerin Schmerzensgeld (§§ 833 S. 1, 847 BGB).
5.
Auch hinsichtlich der Höhe des Schmerzensgeldes folgt der Senat dem Landgericht. Die von der Klägerin erlittenen Dauerschäden, die laut Bescheid des Versorgungsamtes II ... vom 21.06.1994 im Verlust des Riechvermögens mit Beeinträchtigung des Geschmacksinns, Kopfschmerzen, einer Hörminderung rechts und Schwindelgefühl bestehen und zu einem Behinderungsgrad von 30 % geführt haben, sind schwerwiegend und geeignet, die Lebensfreude der Klägerin, deren Beeinträchtigung das Schmerzensgeld ausgleichen soll, erheblich zu mindern. Es ist auch zu berücksichtigen, wie das Landgericht zutreffend hervorgehoben hat, daß die Klägerin im Zeitpunkt des Unfalls erst 25 Jahre alt war und somit den größten Teil ihres Lebens mit den Behinderungen wird leben müssen. Der vom Landgericht zuerkannte Betrag von 32.000 DM liegt auch im Bereich vergleichbarer anderer Fälle, in denen die Gerichte dem Verletzten jeweils ein Schmerzensgeld von 30.000 DM zugesprochen haben. Es sei insbesondere auf folgende in der Schmerzensgeldtabelle von Hacks/Ring/Böhm, 17. Aufl., aufgeführten Fälle hingewiesen: Nr. 1269 (Verlust des Geruchsvermögens, teilweise Einbuße des Geschmacksempfindens; Urteil des LG Düsseldorf vom 02.04.1992) und Nr. 1325 (Hör- und Geschmacksstörung, offensichtlich kein Geruchsverlust, dafür aber Gesichtsnervlähmung und psychopathologische Verlangsamung und Einschränkung der Konzentrations- und Merkfähigkeit; 1/3 Mithaftung; Urteil des BGH vom 11.07.1989). Auch der Senat selber hat in einem vergleichbaren Fall (Urteil vom 21.02.1996 - 20 U 60/94 -), in dem die durch einen Sturz vom Pferd am Kopf verletzte Klägerin als Dauerschaden eine Überfunktion der Schilddrüse, eine Wirbelsäulenschädigung, eine Hirnleistungsschwäche mit erheblichen Konzentrationsstörungen und eine Störung des vegetativen Nervensystems, zurückbehalten hatte, ein volles Schmerzensgeld von 30.000 DM zugrunde gelegt. Für die Klägerin erscheint ein Schmerzensgeld von 32.000 DM, wenn es auch an der oberen Grenze des angemessenen Betrages liegen mag, jedenfalls gut vertretbar und damit angemessen, so daß der Senat keinen Grund gesehen hat, die vom Landgericht zuerkannte Summe zu ändern.
6.
Da der Beklagte somit mit seiner Berufung unterlegen ist, hat er die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen (§ 97 Abs. 1 ZPO).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
Richter am Oberlandesgericht Dr. Heile ist durch Urlaub an der Unterschrift gehindert Oltrogge
Ambrosius